Fühlt sich so Glück an? Ich kann nicht schlafen. Es ist drei Uhr nachts, draußen sind es immer noch 35 Grad, die Luft steht in der Stadt, die Klimaanlage in unserem Hotelzimmer funktioniert nicht. Ich bin erschlagen von der langen Reise hierher, und kann dennoch nicht schlafen. Unter den kritischen Blicken des Nachtwache schiebenden Zimmermädchens bin ich in das Treppenhaus des Hotels geflüchtet, wo man rauchen darf und nehme einen Zug an meiner Zigarette. Durchatmen. Im Hotelzimmer ringt Richard mit Maxim um ein wenig Schlaf. Weinen, Toben, sich Rumwälzen, in den Arm genommen werden wollen und Richard wieder wegstoßen wechseln sich mit einander ab. Nadeschda schläft, dies aber unruhig. Jetzt sind wir eine Familie. Glauben kann ich das immer noch nicht. Ich habe immer noch Angst, dass irgendetwas passiert, plötzlich irgendjemand vor der Türe steht und uns die Kinder wieder wegnimmt. Vielleicht werde ich ruhiger, wenn wir morgen in der Lufthansa-Maschine nach Deutschland sitzen. Morgen früh wird Richard auf die Deutsche Botschaft gehen, um das Einreisevisum für Nadeschda und Maxim zu besorgen. Am Nachmittag fliegen wir endlich nach Hause. In die Angst mischt sich das Gefühl von Unwirklichkeit. So groß die Sorge ist, dass jetzt doch auf den letzten Metern noch etwas schief läuft, so wenig kann ich begreifen, dass Maxim und Nadeschda nun unsere Kinder sind. Ich habe noch nicht realisiert, dass sie wirklich mit uns nach Deutschland kommen und für immer bei uns bleiben werden. Wie wird sich nun unser Leben als Familie, mein Leben als Mutter entwickeln? Keine Ahnung! Da hilft auch nicht die beste Vorbereitung. Alles, was ich mir vorher in der Theorie in meinem Kopf ausgemalt habe, ist ausradiert. Ein weißes Blatt liegt vor mir, dass neu beschrieben werden will. Doch im Moment überwiegt die Leere. Oder ist es auch ein Stück weit Ernüchterung? Spüre ich jetzt zum ersten Mal bewusst die Folgen unseres akribischen Handelns der letzten Monate? Wir haben jetzt zwei Kinder! Mit ihnen sind wir auf Gedeih und Verderb verbunden, ihr Leid wird unseres sein und genauso ihre Freuden. Das Leben, das wir bis zum gestrigen Tag gelebt haben, ist für immer beendet. Was haben wir uns und vor allem auch Maxim und Nadeschda damit angetan?
Abholen im Kinderheim
Ich lasse den Tag vor meinem inneren Auge Revue passieren. Am späten Vormittag kamen wir im Kinderheim an. Schon da brannte die Sonne unermüdlich und es war klar, dass es ein unerträglich heißer Tag werden würde. Auch bei dieser letzten Fahrt in das Kinderheim blieben uns Formalitäten nicht erspart. Ein letztes Gespräch mit der Heimleiterin, die sich über unsere Geschenke freute und für uns noch auf einem Foto posierte. Ein letztes Treffen mit der Sozialarbeiterin, die sich nur ungern fotografieren ließ, aber auf die Unterzeichnung der letzten Dokumente bestand. Die anschließende „Übergabe“ unserer Kinder verlief professionell und ruhig, als fände so etwas täglich statt. In einem Besuchsraum warteten wir auf unsere Kinder. Zuerst tauchte Maxim auf. Frisch gebadet wurde er von einer seiner Erzieherinnen gebracht. Er war nur mit einer Unterhose und Socken bekleidet. Mehr durfte er nicht mitnehmen. Das war alles, was ihm von seinem Aufenthalt im Heim blieb, in dem er bis zu diesem Tag zehn Monate, also fast ein ganzes Jahr und damit ein Drittel seines bisherigen kleinen Lebens verbracht hatte. Zusammen mit Richard zog ich ihm sein T-Shirt und eine kurze Hose an, die wir für ihn mitgebracht hatten. Maxim ertrug dies alles stumm und ohne eine emotionale Regung. Doch aus seinen Augen sprach deutlich die Unsicherheit, was nun mit ihm passieren würde. Wenige Augenblicke später brachte man uns Nadeschda. Nackt, nur mit einer Windel bekleidet. Bereitwillig ließ sie sich von mir anziehen. Auch sie schien verwirrt zu sein, begriff nicht, wie ihr geschah. Aus ihrem Gesicht sprach aber weniger Angst als Neugier. Nachdem sie mich kritisch beäugt hatte, kam sie bereitwillig in meine Arme und lehnte sich schutzsuchend an mich. Schnell machte unsere Übersetzerin noch ein Abschiedsfoto mit den Erziehrinnen, dann verließen wir das Kinderheim in Richtung Flughafen.
Ankunft in Moskau
Die folgenden Stunden waren so voll von neuen Eindrücken, dass Maxim und Nadeschda keine Gelegenheit blieb, inne zu halten und Gefühle wie Angst oder Abschiedstrauer zuzulassen. Der Flughafen mit seinen Flugzeugen und der anschließende Flug waren für Maxim so aufregend und spannend, dass ihm diese Eindrücke über die Angst vor dem Ungewissen hinweghalfen. Nadeschda war im Flugzeug von all den äußeren Reizeinflüssen – und den subtropischen Temperaturen – so erschlagen, dass sie bald in Richards Schoß einschlief. Hatte ich mich auf schreiende und tobende Kinder vorbereitet, wurde ich mit dem Gegenteil belohnt. Erst im Hotel in Moskau brachen Müdigkeit, Erschöpfung und Trauer über die Kinder hinein. Zunächst schienen beide Kinder übermannt von Müdigkeit schnell einzuschlafen. Doch die Ruhe täuschte. Denn nach einer Stunde wachte zunächst Nadeschda immer wieder auf und jammerte leise. Neben der unerträglichen Hitze im Zimmer, die sie wohlmöglich nicht schlafen ließ, schienen auch unruhige Träume sie zu quälen. Nach einer Weile übermannten sie wieder Müdigkeit und Erschöpfung. Genauso begann Maxim nach einer Weile, im Schlaf zu weinen und zu jammern. Er wälzte sich unruhig im Bett herum, fand keine richtige Stellung, in der er wieder tief einschlafen konnte. Irgendwann gaben wir Eltern auf und entschieden, dass es das Beste sei, wenn wir uns zu den Kindern legten. Denn letztendlich waren wir genauso erschlagen von den Ereignissen des Tages. Und am kommenden Morgen würde uns ein weiterer anstrengender und langer Tag erwarten. Doch an Schlaf war nicht zu denken. Denn zwischen uns lag Maxim, der sich immer wieder herumwälzte, jammerte, weinte, sich wehrte, in den Arm genommen zu werden, noch mehr weinte und nicht zur Ruhe kam. Bis zum jetzigen Moment, wo ich diese Zeilen in diesem stickigen kahlen Treppenhaus schreibe. Wird das nun jede Nacht so ablaufen? Wie wird der morgige Tag werden? Was haben wir diesen beiden Kindern nur angetan? Wir haben ihnen ihre Wurzeln genommen, sie aus ihrer vertrauten Umgebung gerissen, sie in dieses Hotel in Moskau gebracht, um morgen mit uns nach Hause zu fliegen. Es ist zwar unser Zuhause aber – noch – nicht ihres. Was muten wir den beiden nur alles zu? Eine neue Sprache, eine neue Kultur, unzählige fremde neue Eindrücke, eine andere neue unbekannte Umgebung, in der sie nichts mehr an ihr vorheriges Leben erinnert; und vor allem: Fremde Bezugspersonen. Selbst Maxim und Nadeschda kennen sich nicht mehr, denn sie hatten zu lange getrennt von einander im Heim gelebt. Zum wiederholten Male müssen sie nun in ihrem kurzen Leben noch einmal mit allem ganz von vorne beginnen.
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