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31. August – Richard bringt die Kinder ins Bett

Während ich hier schreibe und den Tag Revue passieren lasse, bringt Richard Maxim und Nadeschda ins Bett. Vor zwei Wochen wäre dies noch ein Ding der Unmöglichkeit gewesen. Maxim ließ sich nur von mir waschen, anziehen, auf die Toilette begleiten, füttern, mittags und abends ins Bett bringen. Ja, mit Papa wird gerne gespielt und Unsinn gemacht. Und nach zwei Wochen blieb Maxim auch mit Papa mal zwei Stunden alleine zuhause, während ich den Samstag vormittag nutzte, um ein paar Erledigungen zu machen. Dennoch blieb er hartnäckig dabei, jegliche intime Berührungen und Rituale ausschließlich von mir zuzulassen.  Bis heute Abend. Mutig hatte Richard heute morgen beschlossen, dass er abends probiert, Maxim und Nadeschda ins Bett zu bringen. Vielleicht haben wir beide Kinder nach dem Abendessen mit der Ankündigung, dass Papa heute beide Kinder schlafen legt, so überrascht, dass sie keinen Widerstand leisteten. Vor allem Maxim nicht. Anstandslos sind sie mit Richard nach oben gegangen. Beim Ausziehen wurde viel Unsinn gemacht, beim Waschen viel gelacht. Nun scheint es so, als kehre langsam Ruhe ein, denn ich höre nichts mehr aus dem Kinderzimmer. Nadeschda wird ihre Milch trinken und einschlafen. Richard und Maxim gucken ein paar Bilderbücher an. Ich bin gespannt, ob er sich von Richard ins Bett legen lässt. Im Moment stimmt mich die Stille zuversichtlich.

Seit drei Wochen weint Maxim nicht mehr, wenn er mittags und abends ins Bett gehen soll. Er hat irgendwann einfach aufgehört, sich in den Schlaf zu weinen. Stattdessen hält er jetzt meine Hand, lauscht der Musik aus der Spieluhr, atmet nach ein paar Minuten ganz ruhig und schläft dann friedlich ein. Welch Erleichterung! Denn bei jedem Weinen war selbst für mich der Schmerz, der damit zum Ausdruck kam, nahezu unerträglich.

Erste Bindung und Ende der „Isolation“

Eine Beziehung und enge Bindung zu unseren Kindern aufzubauen, ihnen beizubringen, dass Richard und ich nun ihre wichtigsten Bezugspersonen sind, schwingt immer in unserem Alltag als junge Familie mit. Bewusst haben wir uns dazu entschieden, dass alle intimen Rituale, die bei selbstgeborenen Kindern automatisch zunächst nur die Mutter und dann zunehmend der Vater wahrnehmen, wie Füttern, Waschen, Anziehen, auf die Toilette begleiten, Wickeln ausschließlich von Richard und mir übernommen werden. Genauso lassen wir keine Körperkontakte zu anderen Menschen außer uns beiden zu. Maxim und Nadeschda sitzen ausschließlich bei uns beiden auf dem Schoß, sie dürfen nur an unseren Händen gehen, niemand außer uns darf ihnen über den Kopf streicheln. Das ist natürlich in den ersten Wochen sehr einfach gewesen, da es ohnehin niemanden außer Richard und mir  – und der Oma – gab, der in engen Kontakt mit den Kindern trat. Auch diese Isolation haben wir uns bewusst „verordnet“. Nach fünf Wochen haben wir nun das Gefühl, dass Maxim und Nadeschda ein erstes Stück hier bei uns angekommen sind. Sie haben sich ihr neues Zuhause erobert, sie finden sich in ihrer nahe Umgebung gut zurecht. Langsam scheinen sie zu merken, dass wir als ihre Eltern für sie immer da sind. So haben wir nun begonnen, behutsam erste Besuche von Freunden und Familie zuzulassen. Hier bei uns zuhause in einer vertrauten Umgebung und zeitlich begrenzt auf zwei Stunden.

Schön und wirklich wahr: Richard steht mit dem Babyphone triumphierend vor mir. Maxim und Nadeschda schlafen friedlich. Es hat geklappt: Maxim hat sich von Richard ohne Protest ins Bett legen lassen und ist nach dem Gute-Nacht-Lied ruhig eingeschlafen. Ein nächster Schritt ist geschafft! Maxim hat Richard wieder ein Stück näher an sich herangelassen. Und mir damit für die Zukunft ein paar Minuten abends für mich allein geschenkt.

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20. August – Erster Kinderarztbesuch

Gestern waren wir mit Maxim und Nadeschda zum ersten Mal beim Kinderarzt. Maxim und Nadeschda sollten nach unserer Ankunft noch einmal richtig untersucht werden. Die Krankenkasse hatte zudem für jedes Kind ein Gutachten gefordert, um es in die entsprechenden Tarifgruppe einzuordnen. Und letztendlich machten Nadeschdas Ess-Schwierigkeiten einen Arztbesuch nun doch dringlich.

Nadeschdas Bauchschmerzen

Denn nach wie vor isst sie zu wenig und hat oft Bauchkrämpfe. Häufig kann sie mittags nicht schlafen, da sie Bauchschmerzen hat. Erst wenn ich ihr lange den Bauch massiert habe, schläft sie irgendwann ermattet von Schmerzen und Müdigkeit ein. Die mangelnde Kalorienzufuhr versuchen wir mit Sahne in der Milch zu kompensieren. Doch auch das wird nicht auf Dauer gutgehen. Gottseidank nimmt sie nicht ab, aber eben auch nicht zu. Dr. Müller vermutet, dass die Schwierigkeiten mit dem Essen auf die Umstellung auf feste Nahrung zurückzuführen sind, und sie über ihre Nahrungsverweigerung auch die grundsätzliche Veränderung ihres neuen Lebens in Deutschland kompensiert. Zum Selbstschutz isst sie nur das, was sie kennt und aufgrund der Heimerfahrung nicht verabscheut. Wir sollen uns in Geduld üben und ihre Gewichtsentwicklung weiter beobachten. Zudem hat ihre rechte Hüfte eine leichte Fehlstellung, wie Dr. Müller im Ultraschall feststellt. Wir wissen nicht, ob diese Fehlstellung schon von Geburt an vorhanden war, oder ob sie erst durch die Gehhilfe im Kinderheim entstanden ist. Physiotherapie soll Nadeschda helfen, ihre motorische Entwicklungsverzögerung aufzuholen und die Hüftfehlstellung zu korrigieren.

Maxims Diagnosen

Hingegen bei Maxims Risiko auf Epilepsie rät Dr. Müller dringend, das Medikament, das Maxim seit seinem Aufenthalt im Kinderheim bekommt, abzusetzen und zwar so schnell wie möglich. Er empfiehlt uns, das Medikament binnen zwei Wochen auszuschleichen und dann nach vier Wochen ein Kontroll-EEG machen zu lassen. Maxim hält er für völlig altersgerecht entwickelt, bezeichnet ihn als ein motorisch aufgewecktes Kind. Seine Wutanfälle oder Erregungszustände, die in Atemaussetzern und Ohnmacht in Russland endeten, diagnostiziert Dr. Müller als Affektkrämpfe, die durchaus normal bei zwei bis dreijährigen Kindern sind und in Deutschland nicht therapiert werden, sondern sich auswachsen. Für den Notfall verschreibt er uns ein krampflösendes Medikament, das wir Maxim geben sollen, wenn er doch noch einmal bei einem Tobsuchtsanfall krampft und ohnmächtig werden sollte.  Trotz allem: Ich bin erleichtert nach dem Besuch bei Dr. Müller. Immerhin: Maxim und Nadeschda sind weitestgehend gesund. Die Entwicklungsdefizite bei Nadeschda sind handhabbar und heilbar. Maxim bringt großes Potenzial mit und ist deutlich besser entwickelt, als die russischen Ärzte ihn eingeschätzt hatten. Das ist ein großes Geschenk und erfüllt mich mit unendlicher Dankbarkeit.

Allerdings hat Dr. Müller mich mit seinem Rat, mich in Geduld zu üben, an meinem wunden Punkt erwischt hat. Es fällt schwer, Nadeschda zu sehen, wie sie nicht isst und auch kein Gewicht zulegt, obwohl sie das dringend sollte. Es schmerzt mich, wenn sie sich vor Bauchschmerzen windet und mich hilfesuchend anschaut, ich ihr aber nicht helfen kann. Nach wie vor macht es mir Angst, dass wir in den kommenden Wochen verstärkt mit dem Risiko leben müssen, ob sich einer von Maxims zahlreichen Tobsuchtsanfällen doch zu einem Krampf oder Ohnmacht steigert. Es wird meine Lektion für die nächste Zeit sein, mich in Gelassenheit und Besonnenheit zu üben. Darauf zu vertrauen, dass Maxim und Nadeschda aus sich selbst heraus ihre gesunde Entwicklung gehen werden. Fest an unsere Kinder zu glauben, dass sie es schaffen, ihren Weg zu ihrer Genesung zu gehen.

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11. August – Sorgen um Maxim

Neben seinen Wutanfällen zeigen sich bei Maxim zunehmend Seiten in seinem Verhalten, die Richard und mir erste Sorgen bereiten. Bis zum heutigen Tag hat er mit uns kein einziges Wort gesprochen. Er zeigt emotionale Regungen, wie Weinen und Lachen. Aber er spricht nicht. Darauf waren wir vorbereitet. Denn häufig verstummen Adoptivkinder aus dem Ausland in ihrer neuen Umgebung erst einmal, bis sie für sich die neue Sprache verinnerlicht haben. Das kann sich über Monate hinziehen. Dennoch waren wir davon ausgegangen, dass er zumindest auf Russisch mit uns spricht, da ich ihm in Russland die wichtigsten Dinge auf russisch gesagt hatte. Er weiß also, dass ich ihn mit seinen wichtigsten kindlichen Anliegen verstehen kann. Trotzdem hat er sich dazu entschieden, zu schweigen.

Abends vor dem Schlafengehen weint sich Maxim weiter in den Schlaf. Mir zerreißt es innerlich immer wieder das Herz, wenn er sich von mir wegdreht und weinend auf den Schlaf wartet. Es ist jedes Mal der Augenblick, in dem ich an den Moment denken muss, als wir Maxim mit seiner Gruppe aus dem Kinderheim beim Spaziergang sahen und er im Grunde so zufrieden und glücklich wirkte. Jetzt haben wir ihn aus seiner vertrauten Umgebung gerissen und zwingen ihm ein neues Leben auf. Ich wäre wahrscheinlich an seiner Stelle ebenso traurig und wütend. Als seine Mutter wünschte ich, ihm etwas von dieser Trauer und dem Schmerz nehmen zu  können.

Zudem zeigt Maxim eine subtile Ablehnung gegenüber Richard. Natürlich spielt er mit Richard; und es ist großartig und sehr lustig, mit dem Papa Quatsch zu machen, ja sogar zu toben. Doch nur wenn ich in der Nähe bin. Verlasse ich den Raum oder wechsele ich das Stockwerk, unterbricht Maxim sofort jede Aktivität, auch wenn sie noch so spannend ist, und folgt mir. Er weicht den ganzen Tag nicht von meiner Seite. Waschen, auf die Toilette gehen, Füttern, all das lässt er nur von mir zu. Es ist unmöglich für Richard, ihm zu nahe zu kommen, ihn zu waschen, anzuziehen, mit ihm aufs Klo zugehen, geschweige denn ihn ins Bett zu bringen. Gestern hatten wir versucht,  einmal beim Zubettbringen zu tauschen. Ich sollte Nadeschda ins Bett bringen und Richard Maxim. Doch schon vor dem Ausziehen machte Maxim ein solches Theater und schrie sich erneut so in Rage, dass wir den Plan schnell aufgaben. Es ist noch zu früh, ihm einen Stress aufzubürden, den er nicht ertragen muss. Wir müssen uns in Geduld üben und Maxim kommen lassen. Irgendwann wird er merken, dass auch Richard für ihn eine verlässliche Bezugsperson sein kann und wird auf ihn zugehen.

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03. August – Die Faszination des Alltäglichen

Unser neuer Alltag, der von unseren beiden Kindern dominiert wird, überwältigt mich so sehr – Entschleunigung hin oder her -, dass ich unser Glück noch gar nicht fassen und begreifen kann. Es erscheint mir so unwirklich, dass nun unser Leben als Familie begonnen hat. Wenn Nadeschda morgens in meinem Arm liegt und ihre Milch trinkt, überkommt mich manchmal dieses Gefühl: „Ja, es ist wirklich wahr. Unsere Kinder werden nun bei uns bleiben, und niemand kann sie uns jemals wieder nehmen.“ Meistens fühlt es aber wie ein Traum an, aus dem wir irgendwann wieder aufwachen müssen. Dann wiederum gibt es Momente, in denen sich ein Gefühl breitmacht, als wäre es immer schon so gewesen, als wären Maxim und Nadeschda immer schon bei uns gewesen. Und nur das Adoptionsabenteuer in Russland war ein Traum, aus dem wir jetzt aufgewacht sind. Wie lange diese Gefühle wohl anhalten werden? Wann werden wir zum ersten Mal spüren, dass wir angekommen sind? Wann werden unsere Kinder angekommen sein?

Von Waschmaschinen und Lichtschaltern

Auch nach einer Woche ist für Maxim und Nadeschda alles neu und unglaublich spannend. Selbst die kleinsten Dinge des Alltags, die für Richard und mich so selbstverständlich sind. Wäschewaschen ist eine Sensation für die Kinder. Maxim und Nadeschda sitzen minutenlang vor der laufenden Waschmaschine und beobachten die sich drehende Wäsche. Wenn neues Wasser in die Waschtrommel fließt, entlockt es Nadeschda wahre Begeisterungsausrufe. Maxim hält immer wieder sein Ohr an den Trockner, denn er kann gar nicht glauben, dass sich darin etwas tut und die Wäsche im Anschluss trocken ist. Genauso sind Lichtschalter faszinierend. Maxim muss immer wieder das Licht an und aus machen, immer wieder und immer wieder. An, aus, an, aus, an, aus….

Lebensmittel und Spielzeug

Gestern war Richard kurz alleine Lebensmittel einkaufen, denn noch wollen wir unsere Kinder nicht der Reizüberflutung eines Supermarkts aussetzen. Allein die zwei vollen Einkaufstaschen waren nach Richards Rückkehr wahre Wundertüten. Mit angespannter Hektik packte Maxim alles aus und breitete es auf dem Fussboden aus. Jedes einzelne Teil musste angeschaut, angefasst und beschnuppert werden. Die Fülle schien ihn sichtlich zu überwältigen. Ähnlich verhält er sich bei dem Spielzeug in seinem Zimmer. Er hat schnell seinen Entdeckerdrang gefunden und untersucht jeden Morgen das Spielzeug in seinem Zimmer. Dennoch stellen wir fest, dass er oft nicht weiß, was er mit den Sachen anfangen soll und so das Interesse schnell wieder verliert. Im Grunde ist Spielzeug unwichtig. Heute kamen die Kindersitze, die wir noch in Russland im Hotel bestellt hatten. Das größte für Maxim und Nadeschda war der riesige Pappkarton, in dem Richard sie dann durch die Wohnung zog, oder worin sie sich versteckten. Richtig aufgekratzt waren sie danach und strahlten über beide Ohren.

Spaziergänge am Nachmittag

Auf der anderen Seite ist es faszinierend zu beobachten, wie sich Maxim langsam seine neue Heimat erschließt. Wir machen jeden Nachmittag den gleichen Spaziergang: 500 Meter die Straße runter bis zum Feld, am Feld entlang an den Pferden und Kühen vorbei bis zu den Hühnerställen und wieder zurück. In den ersten Tagen ist Maxim stur auf dem Weg geblieben, ganz nah am Kinderwagen. Am vierten Tag fing er an, bei den Tieren stehen zu bleiben und diese aus sicherer Distanz zu beobachten. Zwei weitere Tage später löste er seine Hand vom Kinderwagen und ging rechts und links des Weges ins Gras, um auch die Pflanzen am Wegesrand zu untersuchen. Heute ist er zum ersten Mal mit dem Dreirad vorneweg gefahren, erst nach 50 Metern blieb er stehen und wartete auf uns.