7. Oktober – Maxim „rebelliert“

Mit der wachsenden Besorgnis um Nadeschdas Gesundheitszustand nehmen auch Maxims Tobsuchtsanfälle zu. Er will nicht aufs Klo gehen, alleine schon einmal gar nicht und auch in Begleitung nur unter Zwang. Was natürlich nicht funktioniert, denn wie soll er seine Blase entleeren, wenn er sich bocksteif macht und damit schon wieder halb von der Toilette fällt? Dafür geht inzwischen regelmässig das Pipi in die Hose und auch das große Geschäft landet meist mittags oder dann über Nacht in der Windel. Das führt immer wieder zu großen Sauereien, die mich an den Rand meiner Nerven bringen und unserer Waschmaschine den endgültigen Exodus bescheren. Nach zehn Wochen mit täglich mindestens zwei Wäschen hat sie zu Beginn der Woche kapituliert. Zum Glück können wir kurzfristig auf Omas Waschmaschine nebenan ausweichen und die neue Maschine wird morgen geliefert.

Neben dem Toilettenthema lässt Maxim sich nicht die Zähne putzen, er lässt sich nicht waschen und nicht anziehen. Jegliche Routine oder Disziplin münden in einen Tobsuchtsanfall mit häufig lang anhaltenden Weinanfällen. In den Arm lässt er sich nicht nehmen, dann schlägt er auf mich ein und schreit. Den Raum zu verlassen hilft auch nicht mehr, dann schreit er nur noch lauter. Manchmal dauert es bis zu einer Stunde, bis er sich wieder beruhigt. Zum ersten Mal empfinde ich das tägliche Zusammensein mit den Kindern als richtig anstrengend. Und ehrlich gesagt fühle ich mich oft überfordert. Immer mehr habe ich das Gefühl, dass ich vor allem auf Maxims Tobsuchtsanfälle nicht richtig reagiere. Viel zu oft steige ich selbst voll auf sein Drama mit ein. Seitdem ich in meiner ersten Verzweiflung „Survival Tipps für Adoptiveltern“ gelesen habe, weiß ich zumindest, dass ich seinen Tanz nicht mittanzen sollte. Was auch immer sein „Tanz“ in diesem Moment ist? Das kann ich immer noch nicht erkennen. Aber ich sehe seine Einladung deutlich vor mir. Auch wenn ich mich innerlich dagegen auflehne, so steige ich doch immer wieder auf Maxims Aufforderung zum Tanz mit ein. Dann tanzen wir minutenlang, bis ich abrupt abbremse, aussteige und ihn in seiner Wut, in seinem Zorn und in seiner Verzweiflung alleine zurücklassen muss. Auch wenn er dann noch lauter und hilfloser weint, ist das der einzige Weg, diesen Tanz zu beenden. Und mich vor mir selbst und meinem eigenen Kontrollverlust zu schützen.

Irgendwann beruhigt sich Maxim, doch mir geht es meist danach schlecht, schlechter als es mir ohnehin schon ging. Ich habe das Gefühl, den Bedürfnissen meiner beiden Kinder nicht gewachsen zu sein. Ich habe ständig Angst, etwas falsch zu machen. Ich glaube, ich bin eine schlechte Mutter. Ich fühle mich alleine und hilflos.

Etwas Ruhe, eine kleine Auszeit wäre jetzt hilfreich. Doch die bisher heiligen Mittagspausen mit einen friedlichen Mittagsschlaf beider Kinder werden weniger. Mit Absetzen des Epilepsie Medikaments scheint Maxim deutlich weniger Schlaf zu brauchen. Somit wird der mittägliche Gang ins Bett wieder zu einer Herausforderung. Auch heute ist wieder einmal nicht an eine ruhige Mittagspause zu denken. Nadeschda schläft. Aber Maxim beschäftigt sich mit irgendetwas im Kinderzimmer. Zum Glück nicht mehr so laut, aber auch nicht zu leise, dass man den Unsinn wahrlich flüstern hören kann, wie noch vor einer halben Stunde. Aber mal sehen, welche Überraschung er nachher für mich bereithält. Denn vorhin wurde es nach viel Rumoren plötzlich ganz still im Kinderzimmer. Misstrauisch habe ich dann doch einmal geschaut. Von angemalten Lampen und Wänden bis hin zu Windeln, die in ihre einzelnen Bestandteile zerlegt worden waren, denkt Maxim sich in den letzten Tagen immer wieder neuen Unsinn aus, mit dem er seine Mittagspause verbringen kann. Alles ist möglich, außer natürlich zu schlafen. Dummerweise findet er heute das Reisewaschzeug der Kinder im Kleiderschrank und holt es sich auch mit Hilfe eines Stuhls. Dies packt er aus, probiert die Zahnpasta, und schamponiert dann sich – und Teile des Kinderzimmers – von Kopf bis Fuß ein. Er hält gerade die Körperlotion in der Hand, als ich die Zimmertüre öffne. Grinsend schaut er hoch und zeigt mir sein Werk. Ohne ein Wort zu sagen, nehme ich ihn einfach und stelle ihn so wie er ist unter die Dusche. Er ist so überrascht, dass er keinen Widerstand leistet. Nachdem ich ihn geduscht und abgetrocknet habe, lässt er sich sogar von mir ins Bett legen und beginnt, sich ein paar Bilderbücher anzusehen. Ich gehe wieder nach unten, wohlwissend, dass noch eine Menge Duschgel und Seife auf mich oben warten. Doch der Rest des Chaos beseitige ich heute nachmittag. Auch wenn Maxim nun das Kinderzimmer weiter auseinandernimmt; jetzt habe ich Pause!

3 Gedanken zu “7. Oktober – Maxim „rebelliert“

  1. Wow, das hört sich mehr als anstrengend an!!!
    Ich kann mir vorstellen, dass das vor allem für und mit einem adoptierten Kind eine sehr schwierige Zeit ist. Immerhin hattet ihr noch nicht so viel Zeit, euch kennen und vertrauen zu lernen.
    Vielleicht braucht er das auch, um zu testen. Wenn ihr trotzdem durchhalten und bei ihm bleibt weiß er, dass er euch vertrauen kann bzw. dass du stark bist und ihn trotz allem liebst. Zum Glück haben wir als Mamis ja eh keine andere Wahl, also brauch ich dir nichts über durchhalten erzählen. Aber ich wünsche dir, dass es bald besser wird!

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    • Liebe Rubbelmama,
      ja das war auch sehr anstrengend! Und ist es auch heute noch. GottseiDank sind diese Momente weniger geworden. Und danke für Deine Wünsche. Ich kann sie auch heute noch gut gebrauchen. 😉 Es ging immer sehr viel, und geht es auch heute noch um „Beziehungsanfragen“: Hält mich meine Mama und hält sie mich aus? (Ich schreibe diesen Blog ja als Tagebuch, rückblickend auf all das was damals in unserem ersten Jahr passiert ist. (siehe auch Zu meinem Blog) Inzwischen ist seitdem schon einige Zeit vergangen. Dennoch einige Themen bleiben, so wie diese von heute. Sie werden nur weniger „dramatisch“ in ihren Ausschlägen und ich habe langsam auch einen anderen Umgang damit gefunden. Insofern hat sich Dein Wunsch bewahrheitet: Ja, es ist besser geworden. Aber auch das war ein hartes Stück Arbeit.
      Liebe Grüße Charlotte

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  2. Pingback: Blogparade: 25 total gute Gründe für einen Trotzanfall | Charlotte's Adoptionsblog ©

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