Trotz Nadeschdas Erkrankung oder vielleicht auch gerade deswegen haben wir an Maxims Kindergarteneintritt Anfang November festgehalten. Ich bin davon überzeugt, dass Maxim sich im Kindergarten wohlfühlen wird. Er wird dort von fachkundigem Personal betreut und gefördert. Sie können all das mit ihm unternehmen, zu dem mir entweder die Zeit, die Geduld oder schlicht weg auch die Möglichkeiten fehlen. Er ist mit anderen Kindern zusammen und nichts fördert die Entwicklung eines Kindes mehr als das Spielen mit gleichaltrigen. Das kann ein Erwachsener einem Kind gar nicht bieten. Vielleicht gibt ihm das Spielen mit anderen Kindern auch den notwendigen Impuls endlich zu sprechen. Ich bin zuversichtlich, dass Maxim der Kindergarten gut tun wird.
Maxims Eingewöhnung im Kindergarten ist seit heute abgeschlossen. Nach vier Tagen. Am ersten Tag war ich mit ihm zusammen eine Stunde in seiner Gruppe. Nadeschda war bei der Oma. Nachdem sie anfänglich weinte, sich aber im Anblick von Fleischwurst und Leberkäse schnell beruhigte, freute sie sich am dritten Tag bereits auf die Oma und winkte uns fröhlich vom Fenster aus. Im Kindergarten wusste Maxim zuerst nicht so recht, was er machen sollte. Verloren stand er im Raum und schmiegte sich an mein Bein. Zum Glück nahm eine seiner Erzieherinnen ihn gleich bei der Hand und begann mit ihm die Vorbereitungen für seine Geburtstagsfeier. Damit er sich gleich willkommen fühlte, hatten Maxims Erzieherinnen und ich uns darauf verständigt, dass wir trotz erstem Tag und Eingewöhnung, gleich seinen Geburtstag feiern. Ein paar von den Vorschulkindern hatten schon eine Geburtstagskrone für ihn gebastelt, die sie ihm nun aufsetzten. Die Tische wurden gedeckt, Kerzen aufgestellt und der Kuchen, den wir mitgebracht hatten, angeschnitten. Maxim half bei allem mit, guckte mich zuweilen etwas unglaubwürdig an, als wolle er sagen: „Machen die das hier alles für mich?“ und fasste sich immer wieder an seine Krone, als wolle er prüfen, ob sie noch richtig saß. Als alle Kinder dann an der langen Geburtstagstafel saßen, sangen sie ihm ein Willkommens- und ein Geburtstagslied. Unsicher saß Maxim auf seinem Stuhl und beobachtete konzentriert, aber still. Beim Essen machte er brav alles mit, stand sogar selbst irgendwann auf, um sich noch ein Stück Kuchen zu holen. Die Lieder und Fingerspiele im Morgenkreis beobachtete er staunend mit offenem Mund. Mit einer seiner Erzieherinnen ging er sogar bereitwillig aufs Klo und Händewaschen. In dem Moment war ich unglaublich stolz auf meinen Sohn, wie souverän er mit dieser ganzen Szenerie umging. Als hätte er schon drei Geburtstage im Kindergarten gefeiert. Doch sah ich auch, dass er wieder in seinem Überlebensmodus war: Verhalten abgucken, alles nach- und mitmachen, bloß nicht auffallen. Und das obwohl er im Mittelpunkt des Geschehens stand.
Nach einer guten Stunde gingen wir wieder nach Hause. Nadeschda freute sich, uns zu sehen, auch wenn ihr die Zeit alleine bei und mit der Oma sichtlich Spaß gemacht hatte. Wir verbrachten ein friedliches Mittagessen und beide Kinder fielen fasst dankbar in einen ruhigen Mittagsschlaf. Ich freute mich und war gleichzeitig ein wenig misstrauisch. Ich hätte eher ein Umkippen von Maxims Stimmung erwartet, nachdem er sich im Kindergarten so zusammenreißen musste. Aber weit gefehlt. Im Gegenteil: Nach dem Mittagsschlaf wachte Maxim auf und umarmte mich als erstes. Das hatte er vorher noch nie gemacht.
So setzt sich das in den folgenden Tagen fort. Wir stehen früh auf, ziehen uns an, frühstücken, Nadeschda geht zur Oma, und Maxim und ich marschieren in den Kindergarten. Mit jedem Tag bleiben wir eine Stunde länger dort. Maxim freut sich jeden Morgen auf den Kindergarten. Am dritten Tag malt und bastelt er zu Beginn. Eines der größeren Mädchen zeigt ihm später Puzzle und anderes Spielzeug. Das Puzzle interessiert Maxim und so fangen die beiden an zu puzzeln. In diesem Moment soll ich zum ersten Mal den Raum verlassen. Ich verabschiede mich von Maxim, der erst etwas ungläubig guckt, mir dann aber einen Abschiedskuss gibt und weiter puzzelt. Während der folgenden zwei Stunden sitze ich im Betreuerraum und lese. Ich werde nicht gerufen. Maxim spielt derweil und tobt mit zwei anderen Jungen in der Turnhalle. Auch frühstückt er Milch und Käsebrot, was er Zuhause nie essen würde. Als ich wiederkomme, umarmt mich Maxim. Wieder eine emotionale Geste, die ich von ihm nicht kenne. Danach verlassen wir wieder den Kindergarten. Maxim folgt mir bereitwillig. Auf dem Heimweg ist er plötzlich sehr anhänglich. Ich muss ihn tragen.
Am vierten Tag mag Maxim erst nicht so recht in den Kindergarten gehen. Nachdem wir Nadeschda wieder bei der Oma abgegeben haben, geht er dann aber doch freudig mit. Maxim malt, bastelt, spielt mit den anderen Kindern. Nachdem ich morgens noch eine halbe Stunde da gewesen bin, schickt man mich zum ersten Mal nach Hause. Ich soll Maxim mittags wieder abholen. Sollte vorher etwas sein, würde man mich anrufen. Fast wehmütig und mit Tränen in den Augen verlasse ich den Kindergarten. Nach etwas mehr als drei Monaten überlasse ich meinen Sohn in der Obhut von „Fremden“. Ihn loszulassen, fällt mir schwer. War das eine gute Entscheidung? Ist unsere Beziehung stabil genug, dass sie diese zeitweise Trennung gut übersteht? Wird sich Maxim abgeschoben fühlen, weil er in den Kindergarten gehen muss, während Nadeschda mit mir alleine Zuhause bleiben darf? Ich habe ein schlechtes Gewissen und meine Überzeugung von der Richtigkeit der Entscheidung schwindet. Vor allem, wenn ich mich in Maxims Lage hineinversetze. Einem dreijährigen kann ich wohl kaum den Mehrwert von pädagogischen Konzepten erklären. Doch nun können wir nicht mehr zurück. Das Abenteuer Kindergarten abzubrechen, hätte für ihn nur verheerende Folgen.