Glück ist immer ein Kontrasterlebnis. Nach diesem wunderbaren Weihnachtsfest verbrachten wir ein paar beschauliche Weihnachtsfeiertage als junge Klein-Familie. Maxim und Nadeschda fuhren ihren Traktor und Dreirad viel Spazieren, wir packten nach und nach noch ein paar Geschenke aus, die aber nicht nötig gewesen wären, wir sahen alte Freunde wieder, wie jedes Jahr zu Weihnachten, aßen viel und gut und verbrachten einfach drei Tage ohne Uhr im Hinterkopf. Das war sehr erholsam und hatte zum ersten Mal seit langem etwas von ungeplanter und unstrukturierter Zeit in unserem Familienalltag. Es machte für mich die Bedeutung von „zwischen den Jahren“ neu erfahrbar.
Gestern zeigte sich die Kehrseite der Medaille. Denn Besuche meiner biologische Herkunftsfamilie haben wenig mit unserer idyllischen Weihnachtsharmonie gemein. Fast ein halbes Jahr nach der Ankunft unserer Kinder, hatte sich mein Vater nun aufgemacht, uns zu besuchen und seine Enkel kennenzulernen. So hatte ich geglaubt. Doch er hatte einen ganz anderen „Auftrag“.
Nachdem wir meinen Vater am frühen Nachmittag vom Flughafen abgeholt hatten, verliefen die folgenden Stunden genauso, wie man es erwartet, wenn jemand kommt, der im Grunde eine ganz andere Agenda im Kopf hat. Beide Kinder beobachteten ihren Großvater zunächst neugierig. Nach einer Weile Zuhause versuchte Maxim sogar, mit ihm nonverbal zu kommunizieren und mit ihm zu spielen. Doch mein Vater ließ sich darauf gar nicht ein. Steif saß er auf seinem Stuhl und blieb der unbeteiligte Beobachter. Nadeschda unternahm erst gar keinen Versuch, mit meinem Vater in Kontakt zu treten und beschäftigte sich lieber mit sich selbst. Schlaues Mädchen! Vielleicht spürte sie schon, dass er kein Interesse an ihr hatte. Als Daniel und Richard abends zum Essen dazukamen, war der Opa gänzlich abgemeldet. Dennoch schienen beide Kinder irritiert zu sein. Mit ihren sensiblen Antennen schienen Maxim und Nadeschda zu merken, dass irgendetwas in der Luft lag. Wahrscheinlich spürten sie, dass die Stimmung bei ihrer Mutter, ihrem Onkel und auch ihrem Vater angespannt und geladen war. Die Anwesenheit vom fremden Opa, der nicht so wirklich etwas mit ihnen anfangen konnte und wollte, gefiel Maxim und Nadeschda nicht. Vielleicht fühlten sie auch seine unterschwellige Ablehnung und waren beunruhigt, was als nächstes passierte. Für sie war er ein Eindringling, der hier nicht her gehörte. Doch sie waren zu nett, es meinen Vater spüren zu lassen. Und er zu sehr in seiner Welt verhaftet, um überhaupt zu spüren, dass er meinen Kindern nicht geheuer war. Geladen mit dieser inneren Unruhe war es für Richard schwer, beide Kinder zum Schlafen zu bringen. Maxim gab erst um zehn Uhr Ruhe und liess sich vom Schlaf übermannen.
Kaum, dass Richard mit Maxim und Nadeschda oben war, atmetet mein Vater sichtlich auf. Nun konnten wir ja zu seinem Teil der Agenda übergeben. Er wollte sein Erbe regeln. Alle anderen Themen, die seit Monaten im Raum standen, fanden auf seiner Tagesordnung keinen Platz. In professioneller Verhandlungsführung zeigte er meinem Bruder und mir eine Vermögensaufstellung, die er dann gleich wieder einsteckte, und einen Vorschlag für einen Pflichtteilsverzichtvertrag. Natürlich kam er damit schnell durch, denn letztendlich war es ja seine Sache, wie mein Vater sein Erbe verteilte. Zwar überrascht aber auch erleichtert, dass die Diskussion um sein Erbe schnell beendet war, kam mein Vater zu seinem zweiten Punkt auf seiner Tagesordnung, dem Auftrag seiner Frau, meiner Stiefmutter: „Sieh zu, dass wir zur Taufe eingeladen werden.“ Mit der gesamten Familie. Was für eine Farce! Ich war verwirrt. Es gab noch nicht einmal ein konkretes Datum für die Taufe. Und warum war es so wichtig, zu einer Taufe eingeladen zu werden, deren Täuflinge nicht dem Enkelbild entsprachen, was in meiner Herkunftsfamilie vorherrschte? Warum diesen ganzen Aufwand betreiben für zwei Kinder, die sie ohnehin nicht interessierten? Ich bin froh, dass ich in diesem Moment klar genug war, diesen Auftrag als Steilvorlage zu nehmen, unsere unterschwelligen Konflikte auf den Tisch zu legen. Mein Vater hätte sie natürlich nicht von sich aus thematisiert. Mit Blick auf seine Vorurteile gegenüber seinen Enkeln blieb er zwar in seinen Antworten nebulös. „Ich habe es in zwanzig Jahren Ehe bei Deiner Mutter nicht geschafft, gegen den Einfluss ihrer Familie anzukämpfen und das auszugleichen. Insofern weiß ich nicht, wie stark die genetische Vorbelastung bei Deinen Kinder ist.“ Aha, eine soziale Prägung findet sich also in der genetischen Disposition. Interessant. In meinem Hinterkopf hörte ich die quäkende Stimme meiner Stiefmutter: „ Und dann auch noch aus Russland! Das sind doch alles Kinder von Alkohol- und Drogenabhängigen Kleinkriminellen. Und das liegt doch in den Genen, das kriegt man aus solchen Kindern nicht mehr raus.“ Nun war ich gewiss, genauso waren die Diskussionen im Hause meines Vaters abgelaufen. Ich nahm in dem Gespräch inzwischen richtig Fahrt auf und legte die Bedingungen zu einer Einladung zur Taufe von Maxim und Nadeschda gleich nach: Ehrliches Interesse an den Kindern und damit ein Kennenlernen der Kinder vor der Taufe von allen Familienmitgliedern. Denn zur Taufe würden wir nur Familienangehörige und Freunde einladen, die die Kinder bis dahin kennengelernt hätten. Auch wenn mein Vater diesen Wünschen zunächst zustimmte, wusste ich, dass er sich nicht daran halten würde.
Während ich dies schreibe, macht sich in mir eine merkwürdige Gefühlsmischung breit. Ich bin ein wenig stolz, dass ich mich für meine Kinder stark gemacht und zum ersten Mal in meinem Leben gegenüber meinem Vater Bedingungen gestellt und Spielregeln formuliert habe. „Wenn Du teilhaben willst an meiner Familie, dann zu meinen Konditionen.“ Fast scheint es, als hätte ich mich mit meinem Mutterwerden ein großes Stück von meiner eigenen Herkunftsfamilie losgelöst. Allein der Weg, den Richard und ich gegangenen waren, um Eltern werden zu dürfen, hatte ein anderes Bewusstsein für unsere Rolle als Vater und Mutter und ein anderes Empfinden für unsere Kinder geschaffen. In tiefer Dankbarkeit nahmen wir Maxims und Nadeschdas Präsenz in unserem Leben als ein großes Geschenk an. Sie waren in unser Leben gekommen, weil Richard und ich eine Aufgabe erfüllen wollten. Wir wollten nicht bloß eine formale Familie auf dem Papier sein, die sich über lachende Familienfotos und rauschende Familienfeiern auf der einen Seite und lästige Familienpflichten und Kriegen hinter verschlossenen Türen auf der anderen Seite definierte. Wir hatten uns für Maxim und Nadeschda entschieden, weil wir ihnen gute Eltern sein und ein sicheres Zuhause geben wollten, nicht um eine gesellschaftliche Konvention zu erfüllen. Vielleicht haderte ich auch deshalb so mit meinem Verständnis von Familie, da ich dem negativen Beispiel meiner Herkunftsfamilie nicht folgen wollte und mir stattdessen immer mehr bewusst wurde, dass ich in Ermangelung eines positiven Vorbildes mein eigenes Familienbild erschaffen musste. Ein Stück weit fühlte ich mich befreit.