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29. Dezember – Lehrstück im Muttersein

Glück ist immer ein Kontrasterlebnis. Nach diesem wunderbaren Weihnachtsfest verbrachten wir ein paar beschauliche Weihnachtsfeiertage als junge Klein-Familie. Maxim und Nadeschda fuhren ihren Traktor und Dreirad viel Spazieren, wir packten nach und nach noch ein paar Geschenke aus, die aber nicht nötig gewesen wären, wir sahen alte Freunde wieder, wie jedes Jahr zu Weihnachten, aßen viel und gut und verbrachten einfach drei Tage ohne Uhr im Hinterkopf. Das war sehr erholsam und hatte zum ersten Mal seit langem etwas von ungeplanter und unstrukturierter Zeit in unserem Familienalltag. Es machte für mich die Bedeutung von „zwischen den Jahren“ neu erfahrbar.

Gestern zeigte sich die Kehrseite der Medaille. Denn Besuche meiner biologische Herkunftsfamilie haben wenig mit unserer idyllischen Weihnachtsharmonie gemein. Fast ein halbes Jahr nach der Ankunft unserer Kinder, hatte sich mein Vater nun aufgemacht, uns zu besuchen und seine Enkel kennenzulernen. So hatte ich geglaubt. Doch er hatte einen ganz anderen „Auftrag“.

Nachdem wir meinen Vater am frühen Nachmittag vom Flughafen abgeholt hatten, verliefen die folgenden Stunden genauso, wie man es erwartet, wenn jemand kommt, der im Grunde eine ganz andere Agenda im Kopf hat. Beide Kinder beobachteten ihren Großvater zunächst neugierig. Nach einer Weile Zuhause versuchte Maxim sogar, mit ihm nonverbal zu kommunizieren und mit ihm zu spielen. Doch mein Vater ließ sich darauf gar nicht ein. Steif saß er auf seinem Stuhl und blieb der unbeteiligte Beobachter. Nadeschda unternahm erst gar keinen Versuch, mit meinem Vater in Kontakt zu treten und beschäftigte sich lieber mit sich selbst. Schlaues Mädchen! Vielleicht spürte sie schon, dass er kein Interesse an ihr hatte. Als Daniel und Richard abends zum Essen dazukamen, war der Opa gänzlich abgemeldet. Dennoch schienen beide Kinder irritiert zu sein. Mit ihren sensiblen Antennen schienen Maxim und Nadeschda zu merken, dass irgendetwas in der Luft lag. Wahrscheinlich spürten sie, dass die Stimmung bei ihrer Mutter, ihrem Onkel und auch ihrem Vater angespannt und geladen war. Die Anwesenheit vom fremden Opa, der nicht so wirklich etwas mit ihnen anfangen konnte und wollte, gefiel Maxim und Nadeschda nicht. Vielleicht fühlten sie auch seine unterschwellige Ablehnung und waren beunruhigt, was als nächstes passierte. Für sie war er ein Eindringling, der hier nicht her gehörte. Doch sie waren zu nett, es meinen Vater spüren zu lassen. Und er zu sehr in seiner Welt verhaftet, um überhaupt zu spüren, dass er meinen Kindern nicht geheuer war. Geladen mit dieser inneren Unruhe war es für Richard schwer, beide Kinder zum Schlafen zu bringen. Maxim gab erst um zehn Uhr Ruhe und liess sich vom Schlaf übermannen.

Kaum, dass Richard mit Maxim und Nadeschda oben war, atmetet mein Vater sichtlich auf. Nun konnten wir ja zu seinem Teil der Agenda übergeben. Er wollte sein Erbe regeln. Alle anderen Themen, die seit Monaten im Raum standen, fanden auf seiner Tagesordnung keinen Platz. In professioneller Verhandlungsführung zeigte er meinem Bruder und mir eine Vermögensaufstellung, die er dann gleich wieder einsteckte, und einen Vorschlag für einen Pflichtteilsverzichtvertrag. Natürlich kam er damit schnell durch, denn letztendlich war es ja seine Sache, wie mein Vater sein Erbe verteilte. Zwar überrascht aber auch erleichtert, dass die Diskussion um sein Erbe schnell beendet war, kam mein Vater zu seinem zweiten Punkt auf seiner Tagesordnung, dem Auftrag seiner Frau, meiner Stiefmutter: „Sieh zu, dass wir zur Taufe eingeladen werden.“ Mit der gesamten Familie. Was für eine Farce! Ich war verwirrt. Es gab noch nicht einmal ein konkretes Datum für die Taufe. Und warum war es so wichtig, zu einer Taufe eingeladen zu werden, deren Täuflinge nicht dem Enkelbild entsprachen, was in meiner Herkunftsfamilie vorherrschte? Warum diesen ganzen Aufwand betreiben für zwei Kinder, die sie ohnehin nicht interessierten? Ich bin froh, dass ich in diesem Moment klar genug war, diesen Auftrag als Steilvorlage zu nehmen, unsere unterschwelligen Konflikte auf den Tisch zu legen. Mein Vater hätte sie natürlich nicht von sich aus thematisiert. Mit Blick auf seine Vorurteile gegenüber seinen Enkeln blieb er zwar in seinen Antworten nebulös. „Ich habe es in zwanzig Jahren Ehe bei Deiner Mutter nicht geschafft, gegen den Einfluss ihrer Familie anzukämpfen und das auszugleichen. Insofern weiß ich nicht, wie stark die genetische Vorbelastung bei Deinen Kinder ist.“ Aha, eine soziale Prägung findet sich also in der genetischen Disposition. Interessant. In meinem Hinterkopf hörte ich die quäkende Stimme meiner Stiefmutter: „ Und dann auch noch aus Russland! Das sind doch alles Kinder von Alkohol- und Drogenabhängigen Kleinkriminellen. Und das liegt doch in den Genen, das kriegt man aus solchen Kindern nicht mehr raus.“ Nun war ich gewiss, genauso waren die Diskussionen im Hause meines Vaters abgelaufen. Ich nahm in dem Gespräch inzwischen richtig Fahrt auf und legte die Bedingungen zu einer Einladung zur Taufe von Maxim und Nadeschda gleich nach: Ehrliches Interesse an den Kindern und damit ein Kennenlernen der Kinder vor der Taufe von allen Familienmitgliedern. Denn zur Taufe würden wir nur Familienangehörige und Freunde einladen, die die Kinder bis dahin kennengelernt hätten. Auch wenn mein Vater diesen Wünschen zunächst zustimmte, wusste ich, dass er sich nicht daran halten würde.

Während ich dies schreibe, macht sich in mir eine merkwürdige Gefühlsmischung breit. Ich bin ein wenig stolz, dass ich mich für meine Kinder stark gemacht und zum ersten Mal in meinem Leben gegenüber meinem Vater Bedingungen gestellt und Spielregeln formuliert habe. „Wenn Du teilhaben willst an meiner Familie, dann zu meinen Konditionen.“ Fast scheint es, als hätte ich mich mit meinem Mutterwerden ein großes Stück von meiner eigenen Herkunftsfamilie losgelöst. Allein der Weg, den Richard und ich gegangenen waren, um Eltern werden zu dürfen, hatte ein anderes Bewusstsein für unsere Rolle als Vater und Mutter und ein anderes Empfinden für unsere Kinder geschaffen. In tiefer Dankbarkeit nahmen wir Maxims und Nadeschdas Präsenz in unserem Leben als ein großes Geschenk an. Sie waren in unser Leben gekommen, weil Richard und ich eine Aufgabe erfüllen wollten. Wir wollten nicht bloß eine formale Familie auf dem Papier sein, die sich über lachende Familienfotos und rauschende Familienfeiern auf der einen Seite und lästige Familienpflichten und Kriegen hinter verschlossenen Türen auf der anderen Seite definierte. Wir hatten uns für Maxim und Nadeschda entschieden, weil wir ihnen gute Eltern sein und ein sicheres Zuhause geben wollten, nicht um eine gesellschaftliche Konvention zu erfüllen. Vielleicht haderte ich auch deshalb so mit meinem Verständnis von Familie, da ich dem negativen Beispiel meiner Herkunftsfamilie nicht folgen wollte und mir stattdessen immer mehr bewusst wurde, dass ich in Ermangelung eines positiven Vorbildes mein eigenes Familienbild erschaffen musste. Ein Stück weit fühlte ich mich befreit.

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25. Dezember – Unser 1. Heiligabend

Weihnachten ist da. Das erste Weihnachtsfest mit unseren Kindern! Der Heilige Abend mit Tannenbaum, Kerzenduft, besinnlicher Musik, der Geschichte vom Christkind, vielen Geschenken, verzauberten Kinderaugen und nicht minder aufgeregten Eltern. Schon morgens sind Maxim und Nadeschda früh wach und aufgedreht, denn natürlich merken sie, dass heute Großes passiert.

Girl and boy (3-7) standing by door watching Christmas tree, rear view

Mit freundlicher Unterstützung von Fotolia

Mich selbst erfüllt angespannte Vorfreude. Früher war der Heilige Abend der Tag, an dem ich mich mit dem Schmücken des Weihnachtsbaumes langsam auf das Weihnachtsfest einstimmte. Heute überwiegt der Wunsch und die Erwartung an mich selbst, diesem Fest einen besonderen Zauber für unsere Kinder zu verleihen. Richard macht vormittags mit beiden Kindern einen Ausflug, so dass ich im Verborgenen den Baum schmücken und die Geschenke aufbauen kann. Alles läuft wie geplant, bis die Lichterkette ihren Geist aufgibt. Leider nachdem ich sie am Baum festgemacht habe. Ich sah den Heilig Abend schon baden gehen. Maxim und Nadeschda hätte es sicherlich nichts ausgemacht, vor einem unbeleuchteten Baum zu sitzen. Mir dagegen um so mehr. Gottseidank kann Richard unterwegs tatsächlich noch eine neue Lichterkette auftreiben. Und mein emotionaler Zustand entspannt sich wieder sichtlich. Mittags sollen Maxim und Nadeschda ihren Mittagsschlaf machen. Doch daran ist nicht zu denken. Die Aufregung der Kinder nimmt sichtlich zu. Maxim schläft zwar nach etwas Zinnober um viertel nach zwei ein. Nadeschda schläft aber erst gegen halb drei, nachdem ich ihr eine zweite heiße Milch gemacht hat. Den Nachmittag versuchen Richard und ich etwas zu strecken, und Maxim und Nadeschda irgendwie zu beschäftigen. Denn das Christkind kommt ja erst mit Einbruch der Dunkelheit, und die Oma muss vorher ja auch noch hier eintreffen. Erst dann dürfen wir nachschauen, was uns das Christkind wohl beschert haben wird.

Plötzlich klingelt das Glöckchen. Der Weihnachtsbaum im Wohnzimmer ist hell erleuchtet. Die Kerzen brennen, es läuft weihnachtliche Musik. Die Terrassentür ist noch auf, doch das Christkind ist schon wieder verschwunden. Es hinterlässt viel Glitzerstaub und Sternchen, und vor allem viele Geschenke. Maxim und Nadeschda machen riesige Augen, als sie ins Wohnzimmer kommen. Tatsächlich gucken sie noch einmal eilig nach, ob sie draußen noch das Christkind entdecken. Doch zu schnell ist es aufgebrochen, um nun den anderen Kindern ihre Geschenke zu bringen. Maxim wendet sich schnell den vielen bunten Paketen unter dem Weihnachtsbaum zu. Nadeschda hingegen wandelt anmutig und in stiller Andacht durchs Zimmer und untersucht all die brennenden Kerzen. Schnell stellt sie aber fest, dass die Kerzenflamme auch heiß ist. Wie ein stiller Beobachter sitze ich auf dem Sofa und betrachte meine Familie. Zum ersten Mal seit unserer Ankunft in Deutschland durchströmt mich bewusst eine Welle des Glücks, die mir die Tränen in die Augen treibt. So wie auf unserem Flug von Moskau hierher. Welch ein schöner und wunderbarer Moment, den ich so gerne konservieren möchte, um mich im Alltag daran zu erinnern. Ich spüre, dass dieses einer der Augenblicke ist, die mit einem Federstreich alle Schwierigkeiten und Sorgen unseres alltäglichen Lebens bedeutungslos machen. Dies ist einer der Glücksmomente, in denen sich auch meine eigene Kindheitssehnsucht nach einem harmonischen und glücklichen Weihnachtsfest erfüllt. Und ich denke bei mir: So fühlt sich also „Familie“ an.

Maxim entdeckt schnell das Dreirad, das das Christkind für Nadeschda gebracht hat. Damit Maxim Nadeschda auch darauf fahren lässt, darf er gleich als erstes seinen Traktor auspacken. Damit hätten wir es bei den Geschenken schon belassen können. Denn von nun ab fahren beide Kinder mit Traktor und Dreirad durch die Wohnung. Maxim packt zwar bereitwillig auch alle anderen Geschenke aus und lädt diese dann auf seinen Traktor. Aber sie sind schon nicht mehr wichtig. Auch Nadeschda hat nach dem dritten Geschenk das Interesse verloren und will nur noch Dreirad fahren. Als sich bei ihr Müdigkeit und Erschöpfung breit machen – Der Mittagsschlaf war zu kurz. – tritt ihre Überforderung deutlich zu Tage. Sie zieht sich aufs Sofa zurück, haut immer wieder ihren Kopf in die Kissen und fängt an zu weinen. Zwar beruhigt sie sich nach einigen Minuten wieder, doch Richard und ich beschließen schnell, die Bescherung zu beenden und die übrigen Geschenke für die kommenden Tage aufzuheben. Spätestens jetzt wissen wir: Ein Geschenk für jedes Kind hätte völlig ausgereicht. Zum Abendessen scheint Nadeschda ihre letzten Kräfte zu mobilisieren. Beim traditionellen Kartoffelsalat und Lendensteak sitzt sie in ihrem Kinderstuhl und isst wie ein großes Mädchen. Irgendwann dann auch direkt aus der Salatschüssel, sehr zur Freude ihrer Großmutter, die immer froh ist, wenn es den Kindern gut schmeckt. Die Aufregung scheint zumindest Nadeschdas Appetit nicht zu schmälern. Nach dem Essen fahren beide Kinder diesmal zusammen auf dem Dreirad durch die Wohnung. Mal fährt Maxim und Nadeschda sitzt hinten um Transportkorb, mal umgekehrt. Maxim zeigt Nadeschda, wie man die Pedalen treten muss und fährt stehend, während Nadeschda auf dem Dreirad sitzt. Beide Kinder scheinen hier nun ihrer Anspannung Luft zu machen und mit letzter Energie die Aufregung des Tages zu verarbeiten. Wie immer mit viel Bewegung. Zufrieden und müde fallen sie bald danach in ihre Betten und schlafen friedlich ein.

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22. Dezember – Kindersorgen

Nach dem Mittagessen wurde die Mittagspause zu einer Herausforderung, die uns wahrscheinlich die nächsten Wochen begleiten wird. Beim Einschlafen spielt Nadeschda mit ihrem Schnuller. Solange, bis dieser dabei kaputt geht. DER Schnuller hat nun nach etwas mehr als vier Monaten endgültig den Geist aufgegeben und verabschiedet sich in zwei Teilen. Ich hatte mich nach acht Wochen einmal gewundert, dass dieser russische Schnuller überhaupt so lange hielt. Doch heute hat der Sauger Nadeschdas Härtetest nicht mehr bestanden. Der Schnuller, den wir in einem letzten achtsamen Moment von Nadeschdas Erzieherin im russischen Kinderheim vor unserer Abfahrt erhalten hatten, ist nun irreparabel kaputt. Nadeschda ist sehr unglücklich und traurig. Einen anderen Schnuller will sie nicht nehmen. Richard hatte Tage damit zugebracht, im Internet nach alternativen Schnullern zu suchen, die dem russischen in Form und Art entsprechen. Auch als er fündig wurde und hier Zuhause eine breite Palette an vergleichbaren Schnullermodellen Einzug hielt, war Nadeschda nie dazu zubewegen gewesen, auch nur einen von ihnen auszuprobieren. Selbst im Tiefschlaf merkte sie den Unterschied und spukte immer wieder die anderen Schnuller mit schlafender Verachtung aus. Auch heute nimmt sie keinen der anderen Schnuller. Es braucht lange bis sie einschläft und dann wacht sie auch immer wieder weinend auf. Irgendwann übermannt sie dann doch der Schlaf. Sie ruht für eine Weile, ohne Schnuller.

Bei Maxim kommt etwas in Bewegung. Sei es ausgelöst durch den Besuch bei der Frühförderstelle, sei es durch die nun zunehmende Zeit, die ich mit ihm alleine verbringe. Was es ist, kann ich noch nicht greifen. Bisher nehme ich nur vorsichtige Veränderungen an ihm wahr. So wie heute Nachmittag. Beide Kinder brauchten neue Schlafanzüge.

Silhouette of Mother Lovingly Kissing Little Child at Sunset

Mit freundlicher Unterstützung von Fotolia

Im Geschäft sucht sich Maxim ausgerechnet zwei Babyschlafanzüge aus, einteilige Strampelanzüge mit angenähten Füssen. Und auch einen Schlafsack, wie Nadeschda möchte er gerne haben. Ich gebe seinen Wünschen nach. Will er es einfach Nadeschda gleich tun? Ist das seine Art, sein Bedürfnis an mehr Zuneigung zu äußern? Oder wächst in ihm der Wunsch, noch einmal Baby zu sein?

Am Abend erleben wir dann eine zunächst aufreibende Szenerie. Während ich nach dem Abendessen die Küche aufräume, toben beide Kinder im Wohnzimmer auf dem Sofa herum. Plötzlich scheint Maxim vom Sofa auf seine Kopf gefallen zu sein. Ich höre nur einen dumpfen Schlag, dann sein leises Weinen, während ich ins Wohnzimmer stürze. Ich nehme Maxim in den Arm und will ihn trösten. Doch auf einmal schockt und krampft er in meinem Arm. Er wird von einem Moment auf den anderen stock steif und ist nicht mehr ansprechbar. In Panik rufe ich nach Richard. Bei dem herbeigeeilten Richard löst sich nach ca. 30-60 Sekunden der Krampf und Maxim fängt bitterlich an zu weinen. Es ist kein Weinen vor Schmerzen, sondern irgendetwas anderes scheint sich tief in seinem Inneren zu lösen und in diesem Moment aus ihm herauszubrechen. Nach einer guten Viertelstunde beruhigt sich Maxim wieder, doch er wirkt blas und steht etwas neben sich. Zum ersten Mal seit einer langen Zeit, will er ganz bewusst wieder zu mir in den Arm. Er sucht meine Nähe. Das ist für unseren sehr autonomen Sohn, der Körperkontakt nur in Ausnahmefällen zulässt, bemerkenswert. Ja, im Alltag sucht er unsere Aufmerksamkeit, aber selten körperliche Zuneigung. Manchmal kommt es mir so vor, als hätte er Angst vor zu viel Nähe. Er will sich nicht verletzbar zeigen, und auf keinen Fall sich als offensichtlich hilfs- und zuneigungsbedürftig zu erkennen geben. Doch in diesem Moment gewinnt in Maxim das Bedürfnis, einfach nur gehalten zu werden. So wickle ich ihn in eine Decke und gehe mit ihm ein paar Minuten raus an die frische Luft. Wir sitzen eng aneinander gekuschelt draußen und schauen uns den Mond und die Sterne am Himmel an. Auf einmal ist da dann doch so viel Nähe zwischen uns. Wie ein trockener Schwamm saugt Maxim meine Zuneigung auf und genießt unsere Zweisamkeit. Langsam normalisiert sich Maxims Zustand, er lacht bei dem Anblick von Mond und Sternen, bleibt aber sehr anhänglich. Dennoch lässt er sich später von Richard ins Bett bringen. Beide Kinder schlafen schnell ein. Doch in der Nacht ist Nadeschda zweimal wach. Sie trauert um ihren Schnuller.

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Von der Anstrengung, Adoptivmutter zu sein…

Die amerikanische Journalistin Tina Traster hat mit „Rescuing Julia Twice“ ein bewegendes Buch über die Adoption ihrer Tochter aus Sibirien geschrieben. Selten habe ich ein Buch gelesen, dass mich so berührt hat. Meine Gedanken dazu lest Ihr heute in meiner aktuellen Kolumne: „Von der Anstrengung, Adoptivmutter zu sein – Gedanken zu Tina Traster‘s Buch „Rescuing Julia Twice“.

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6. Dezember – Nikolaus

Ich habe keine schönen Kindheitserinnerungen an die Adventszeit. Meine Mutter hat keine Plätzchen mit meinem Bruder und mir gebacken, bis auf den Heiligen Abend lief keine Weihnachtsmusik, an schöne weihnachtliche Dekorationen kann ich mich nicht erinnern. An Nikolaus haben wir abends unsere Stiefel rausgestellt, die dann mit Süssigkeiten gefüllt wurden, wobei Daniel und ich früh wussten, dass es den Nikolaus nicht gibt, sondern, dass unsere Eltern die Stiefel befüllten. Irgendwie hatte das alles den Charme des Ernüchternden. Umso mehr bin ich jetzt bemüht, für Maxim und Nadeschda diese besondere Zeit vor Weihnachten mit Geschichten und Märchen, dem Duft nach warmen Plätzchen und Tannengrün, Adventsklängen und glaubhaften Erlebnissen, die die Existenz von Nikolaus und Christkind belegen, zu füllen.

Heute nachmittag kam der Nikolaus zu uns zu Besuch. Mit Einbruch der Dunkelheit klopfte es plötzlich draußen laut an die Türe, während wir vier mit der Oma bei Plätzchen und Tee saßen.

Two cute boys, looking through a window, waiting for Santa

Mit freundlicher Unterstützung von Fotolia

Herein kam wahrhaftig der Nikolaus, in rotem Mantel, weißem langem Bart, mit schwerem Sack und dicken Stiefeln, das goldene Buch der guten und schlechten Taten unter dem Arm. Maxim und Nadeschda machten großen Augen. Maxim zog sich zunächst auf sichere Entfernung neben seinen Vater zurück. Immer wieder guckte er Richard und mich unglaubwürdig an. Sollte es ihn also tatsächlich geben, diesen dicken rotgewandeten Mann, dessen Abbilder überall im Haus standen und von dem mir Mama nun jeden Abend Geschichten erzählte? Hatte er tatsächlich einen Schlitten mit Rentieren, mit dem er vorgefahren war? Was hätte ich darum gegeben, die Gedanken meines Sohnes zu lesen. Er schien keine Angst zu haben, da er spürte, dass wir als seine Eltern dem Nikolaus wohlgesonnen waren. Nadeschda amüsierte sich über das Spektakel, konnte sie den Nikolaus doch aus sicherer Distanz aus ihrem Hochstuhl beobachten. Seufzend ließ sich dieser auf einem Stuhl nieder, den Richard ihm anbot. Mit sonorer Stimme las er nun den Kindern vor, was die Engelchen ihm mit auf den Weg gegeben hatten. Von Maxim berichtete der Nikolaus, dass er tapfer in den Kindergarten ginge, dass er sehr schnell Laufrad fahren gelernt hatte, und darüber hinaus sich rührend um seine kleine Schwester kümmerte. Maxim schien ihn zu verstehen, denn mit jedem Satz lächelte er ein wenig mehr und rückte ein Stück von Richard ab und näherte sich dem Nikolaus, als wollte er gucken, ob all das wirklich in dem großen goldenen Buch stand. Als der Nikolaus sich Nadeschda zuwandte, vergrub diese erst einmal ihr Gesicht in ihren Händen. Wenn der Nikolaus mich nicht sieht, dann kann er auch nichts über mich erzählen, dachte sie vielleicht. Als der Nikolaus aber zu berichten wusste, dass sie schon die Treppe alleine hochlaufen kann, wie tapfer sie ihre Operation überstanden hatte und wie begeistert sie ihrer Mama beim Backen ihres Brotes helfen würde, das sie dann gerne mit ganz viel Butter verspeise, spähte sie vorsichtig und neugierig zwischen ihren Fingerchen durch. Auch sie schien zu verstehen, was der Nikolaus über sie erzählte. Maxims Neugier trieb ihn derweil immer mehr in die Nähe des Nikolaus. Sicherlich strahlte der prall gefüllte Sack, der neben ihm auf dem Fussboden stand, eine ungeahnte Faszination aus. Wie schon an seinem Geburtstag, unser Sohn lernte schnell und auch wenn er uns an seinen Gedanken nicht teilhaben ließ, so gewann ich den Eindruck, dass er wohlmöglich in Erinnerung an die Geschichten, die wir ihm vorgelesen hatten, oder nach seiner Erfahrung im Kindergarten, wo heute ebenfalls der Nikolaus- ohne sich zu zeigen – ein paar kleine Geschenke für jedes Kind zurückgelassen hatte, nun darauf spekulierte, dass in dem Sack ein paar Geschenke für ihn und Nadeschda verborgen waren. Welch Strahlen in seinen Augen sahen wir, als der Nikolaus tatsächlich seinen Sack öffnete und jedem Kind einen dick gefüllten Strumpf mit Geschenken überreichte. Vorbei war es mit der Scheu und der kindlichen Sorge, was wohl passieren würde. Stattdessen öffnete Maxim mit stummer Begeisterung seine bunt verpackten Geschenke, riss die Schokoladenverpackung auf und stopfte sich gleich drei Schokoladenkugeln auf einmal in den Mund. Ein Stück weit wich in diesem Moment mein innerer Zweifel, der mich nach wie vor quälte, meiner Mutterrolle gerecht zu werden, und meinen Kindern ein schönes Zuhause und eine glückliche Kindheit zu geben, eine glücklichere als meine eigene. Mit Momenten wie diesen schufen Richard und ich für unserer Kinder schöne Erinnerungen an eine heimelige Vorweihnachtszeit, geborgen im Schoß der Familie. Wie der Duft der Kerzen und der Geschmack von Zimt und Schokolade sich auf den glücklichen Gesichtern unserer Kinder ausbreitete, so spürte ich ein Stückchen Zufriedenheit in mir fließen.