15. März – Meine wunderbare Patchwork-Familie

Die formvollendete Fassade war meiner Stiefmutter Elvira immer sehr wichtig. Familie war für sie ein starres formales Konstrukt, in das man sich einfügen musste, ob man wollte oder nicht. Hier galten für sie die unverrückbaren Maßstäbe und Regeln der 08-15 Mittelstands-Spießer Gesellschaft. Alles passierte, weil man es so tat, weil man so sein wollte, wie die wohlhabende Freundin drei Häuser weiter, weil der Nachbar, der jeden Samstag sein Auto wusch und seinen Rasen mähte, es von einem erwartete. Als Frau machte man zwar eine Ausbildung, suchte sich aber einen wohlsituierten Mann zum Heiraten, bekam schnell einen ganzen Sack voller Kinder und bemühte sich dann als gestresste Hausfrau und Mutter um einen Teilzeitjob, damit man wenigsten sagen konnte, dass man arbeitete. Das große Haus mit Garten und Zimmern für jedes Kind musste dann schnell in einem repräsentativen Vorort her. Es wurde, wie man es als Mittelstandsfamilie tat, nach dem neusten Segmüllerkatalog eingerichtet. Die Rolf Benz Couch war zwar nicht wirklich schön, aber sie galt als Statussymbol. Das eigene Pferd zum privaten Zeitvertreib war der willkommene Ausgleich für das fehlende Cabrio, das einfach mit drei Kindern unpraktisch gewesen wäre.  Kinder waren nur Staffage und hatten sich in das starre Regelkonzept einzufügen. Wenn wir Kinder, vor allem ihre Stiefkinder, in ihrem Familienspiel nicht mitspielten, war Krach vorprogrammiert. Daniel und ich hatten selten mitgespielt. Nicht weil wir nicht wollten, sondern weil ihre Erwartungen uns so fremd waren.

Mit der Adoption von Maxim und Nadeschda hatte ich Elviras Fassade einen mächtigen Riss zugefügt. Denn in ihrer Welt gab es keine ungewollte Kinderlosigkeit und zwei Kinder auch noch aus Russland zu adoptieren, passte nicht in ihr Familienbild. Zwei Russenkinder zu ihren Enkeln zu machen, grenzte bald schon an eine Unverschämtheit. Mit der Einladung zur Taufe von Maxim und Nadeschda wollte sie den Riss wieder zu schmieren und versuchen zu einer formvollendeten Normalität zurückzukehren. Mit einem Minimum an Einsatz sollten wir wieder heile Familie spielen. Doch ich machte es ihr nicht so leicht, wie sie gehofft hatte. Ja, Richard und ich hatten uns nach dem Besuch meines Vaters nach Weihnachten dazu durchgerungen, ihn und seine Familie sowie genauso meine Mutter zur für April geplanten Taufe einzuladen. Mein Vater und seine Familie sollten am Vortag der Taufe, wenn möglich anreisen, würden mit uns schon im Hotel, in dem die Taufe stattfinden sollte, übernachten, und die Taufe wäre nach dem Mittagessen am frühen Nachmittag so beendet, dass alle Gäste noch entspannt nach Hause reisen könnten. Doch ich hatte es gewagt, Bedingungen an die Einladung zu knüpfen. Elvira musste uns mit meinen Halbgeschwistern vor der Taufe besuchen, damit Maxim und Nadeschda sie kennenlernen konnten und nicht bei der Taufe zum ersten Mal sahen. Elvira prompte Absage kam am vergangenen Sonntag, einen Tag nach Renates Rückkehr aus dem Krankenhaus, formvollendet per mail, mit einem Ton und einer Wortwahl, die jegliche Benimmform verlassen hatte. Natürlich schilderte sie in ihrer unnachahmlichen Art, wie viel Mühe sie sich immer gegeben hatte, wenn wir zu Besuch kamen; es wurden keine Kosten und Mühen gescheut. Ihnen jetzt zuzumuten, an einem Tag mehrere hundert Kilometer hin- und her zufahren, wäre kaum zumutbar. Und dann wären sie ja auch noch am Abend vor der Taufe alleine im Hotel untergebracht. Ein Besuch vorab sei schon gar nicht darstellbar. Die Kinder müssten ja für Klausuren lernen und sich auf die Führerscheinprüfung vorbereiten. Und überhaupt, wozu dieser ganze Stress? Spannend fand ich ihre Schlussbemerkung, die eigentlich alles zusammenfasste: „Wie hättest Du auf eine Einladung unsererseits in dieser Form reagiert? Richtig, Du hättest abgesagt. Wir alle sind sehr enttäuscht. Mit der Einladung hast Du erst mal einen Scherbenhaufen hinterlassen. Die Taufe wird leider ohne uns stattfinden. Der Ball ist in Deinem Feld, vielleicht schaffst Du es ja noch, ihn für Deine Kinder aufzuheben und die Familie, die zwanzig Jahre für Dich da war zusammenzuführen.“ Besser kann man nicht die Schuld und Verantwortung wegschieben, dachte ich. Doch ich war im ersten Moment zu konsterniert, um überhaupt irgendwie zu reagieren.

Das übernahm Richard für mich. Als ich ihm Elvira Absage zeigte, tobte er, griff sofort zum Telefonhörer und rief meinen Vater und Elvira an. Doch anstatt die Missverständnisse, auf denen ihre Absage beruhte, aus dem Weg räumen zu können, wurde die Situation nur noch absurder. Seltsam mutete die Bemerkung meines Vaters an, dass wir doch Verständnis für seine und Elviras Empfindlichkeit haben sollten, denn sie müssten sich immer noch an den Gedanken der Adoption von Maxim und Nadeschda gewöhnen. Da waren sie wieder die Vorurteile, unausgesprochen, aber dennoch mit einer peinlichen Berührtheit. Allmählich machte sich bei mir blanke Wut breit. Wenn überhaupt, dann hätte ich nun einen Grund gehabt, diesen Teil meiner Herkunftsfamilie von der Taufe auszuladen, denn sie dachten nicht im entferntesten daran, sich an unsere Bitte, Maxim und Nadeschda vor der Taufe zu besuchen und kennenzulernen, zu halten. Das war respektlos. Nach Elviras seltsam irritierenden und an zahlreichen Stellen unwahren Absage lag wohl kaum mehr ein Ball in irgendeinem Feld, sondern hatte mit einem gewaltigen Tritt unser Universum verlassen. Elvira hatte einen offenen Bruch geschaffen, die Taufe war nur der willkommene und wohl inszenierte Anlass gewesen, auf den sie zwanzig Jahre gewartet hatte.

Ich habe Konflikte nie gemocht. Aber dieser hier war wohlmöglich nach all den Jahren fällig, offen ausgetragen zu werden. Je länger ich ihre Taufabsage vor mir sah, um so stärker wurde meine Wut auf sie. Ich hatte die Schnauze voll von diesem ganzen formvollendeten Familienspiel. Ich hatte Elvira nie gemocht, von dem ersten Augenblick an, an dem ich sie vor all den Jahren kennenlernen musste. Doch ich hatte versucht, mich mit ihr als Frau meines Vaters zu arrangieren. Jetzt hatte sie den Bogen überspannt. Es war der Punkt gekommen, an dem sie endlich die Konsequenzen ihres Handelns zu tragen hatte. Ich war nicht mehr bereit, mich ihr gegenüber irgendwie zu verbiegen. Ich tat das, womit ich sie am meisten traf: Ich schwieg und strich sie aus meinem Leben.

4 Gedanken zu “15. März – Meine wunderbare Patchwork-Familie

  1. Hallo Charlotte, beim Lesen deines Berichts hat mich wirklich die Wut gepackt, denn ich kann mich so gut in dich hinein versetzen. Auch der Vater meines Mannes hat große Probleme damit, dass wir adoptiert haben, noch dazu aus dem Ausland. Wir haben das Gefühl, dass auch in diesem Fall die hetzende Kraft im Hintergrund seine 2.Frau ist. Nach 3,5 Jahren hat er nun zum ersten Mal die beiden Kinder gesehen und das Treffen verlief erwartungsgemäß unterkühlt und nicht wiederholungwürdig. Wir haben das Gefühl, dass sich gerade die ältere Generation damit schwer tut. Wir werden den Kontakt auch auf das absolute Minimum reduzieren und uns stattdessen mit den Menschen umgeben, die uns gut tun. „Friends are the family you choose“. Vielleicht kommt er irgendwann zu der Erkenntnis, was er alles verpasst hat.

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  2. Pingback: Blogparade „Familienzusammenführung und Patchwork-Familie“ | Charlotte's Adoptionsblog ©

  3. Es ist gut jetzt so. Auch Konflikt offen austragen ist besser. Auch gut DIE Menschen zu von EUCH gewählten Zeitpunkt einladen, die EUCH gut taten. Das ist richtig.
    Ich denke nur, mit der Zeit und je mehr man durch die Adoptivkinder Trauma, Stress- und Überlebungsstrategien verstehen lernt- mit der Zeit, nicht gleich- wird man eigene unaufhaltsam älternde Eltern unter diesen Gesichtspunkt auch betrachten lernen. Das bedeutet gar nicht, dass man alles zulassen soll, was uns verletzt- nur, das man verstehen lernt, woher es kommt und dass sie auch nur nicht anderes können- und wahrscheindlich nicht anderen können werden, weil durch ihr Leben sind die Strategien schon verhärtet worden und sie nicht mehr über die Lebeskräfte zu den Veränderungen verfügen, wie die kleine Kinder. Also- dann und wann, wenn wir können und so, dass es für uns auch stimmt, sollen wir unseren Eltern ein wenig davon zukommen lassen, was wir durch die Adoptivkinder lernen…

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    • Da hats Du sehr recht. Nur ehrlich gesagt fehlt mir bei meiner eigenen Mutter dazu oft die Kraft. Auch wenn ich so oft denke, bei den wenigen Kontakten die wir haben, was für ein schlechtes Vorbild ich für meine eigenen Kinder bin. Denn ehrlicherweise möchte ich nicht so von meinen Kindern mal behandelt werden, wie ich vielleicht mit meiner Mutter umgehe. Meine Stiefmutter steht auf einem anderen Blatt. Mein Vater ist mittlerweile vor ein paar Jahren (zum Glück gab es da noch eine Annäherung an seine Enkel, so dass sie ihn in guter Erinnerung behalten haben), danach folgte eine sehr unschöne Erbauseinandersetzung. Seitdem geht meine Stiefmutter mit meinen Halbgeschwistern und ich getrennte Wege. Und ich denke – auch mit der Erfahrung der Adoption – „nur weil man Gene teilt, muss man sich nicht mögen und Zeit miteinander verbringen.“….

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