3. April – Schockierender schmerzlicher Abschied mit Überraschung

Gestern mittag blieb die Erde für einen Moment stehen. Es war ein herrlicher Tag. Der Frühling schickte in diesem Jahr früh seine Vorboten. Es war ungewöhnlich warm, überall sprossen die Krokusse und Hyazinthen, die Sonne lachte und verbreitete überall einen Duft von Neuanfang und Aufbruch. Am Vormittag war ich mit Maxim alleine in der Stadt, während Richard mit Nadeschda unter den Blicken der Oma im Garten arbeitete. Renate genoss die frühlingshafte Wärme auf der Terrasse und schaute Nadeschda belustigt zu, wie sie versuchte ihrem Vater beim Unkraut jäten zu helfen. Alles war so friedlich. Zum ersten Mal stimmte die Sonne uns alle positiv in dem Gedanken, das alles gut werden würde. Selbst die Mittagspause begann für Maxim und Nadeschda harmonisch und ruhig. Richard wollte die Mittagsruhe nutzen, um mit seiner Mutter und Tatjana die kommende Woche zu besprechen, in der die erste Chemotherapie beginnen sollte. Doch dazu kam er nicht mehr.

Die Kinder schliefen schon und ich räumte auf, als mein Blick aus dem Flurfenster in Renates Wohnzimmer fiel. Ein merkwürdiges Gefühl befiel mich unvermittelt und ich verspürte den Drang, hinüber zugehen. Von der Terrasse aus sah ich, wie Renate auf dem Boden im Wohnzimmer lag, Richard sich kurz zu mir umdrehte und abwesend eine wegwischende Handbewegung machte. Ich ging wieder. Doch das Gefühl, dass gerade etwas schlimmes passiert war, ließ mich nicht mehr los. Wie gelähmt saß ich in unserem Garten und wartete. Wenig später sah ich den Krankenwagen kommen, und Augenblicke später stürmte Richard an mir vorbei in unser Haus. „Die Mama ist tot.“ war das einzige, was er herausbrachte. Er suchte kopflos etwas in seinen Unterlagen, fand das Papier und ging wieder zurück. Fassungslos blieb ich auf unserer Terrasse zurück. Das konnte, durfte und sollte nicht wahr sein. Ich wollte und konnte das nicht glauben. Warum? Konnte es wirklich sein, dass Renate nun nicht mehr da war? Doch eh Ohnmacht über mich kam, begann ich zu handeln. Meine Schnelligkeit im Handeln erschreckt mich manchmal. Von der einen Sekunde auf die andere gehe ich in meinen Funktionsmodus, schiebe alle Gefühle weg und agiere. Als ob etwas zu tun, mich vor dem Gefühl der eigenen Ohnmacht schützt. Sekunden später griff ich zum Telefonhörer und rief Daniel an. Maxim und Nadeschda mussten irgendwie versorgt sein. Das war mein erster Gedanke.

Der Tod zeigt sich erst mit aller Wucht, wenn man ihn im Angesicht sieht. Als ich Renate mittlerweile in ihrem Bett friedlich liegen sah, spürte ich, dass dies kein böser Traum war. Sie war wirklich von uns gegangen. Leblos und Seelenlos war nur noch ihr Körper anwesend. Nüchtern stellte der Notarzt fest: Lungenembolie mit sofortigem Herzstillstand. Todeszeitpunkt: 14:30 Uhr. – Renate hatte nicht gelitten. Schnell und schmerzlos war sie gestorben.

Selbst in der tauben Glocke, in der ich mich befand, wunderte ich mich, wie schnell danach alles ging. Der Notarzt war noch mit dem Ausfüllen von Formularen beschäftigt, als bereits ein Seelsorger aus dem Nichts auftauchte. Es tat gut, mit ihm zu sprechen, in diesem unmittelbaren Schockzustand. Zumal er uns geschickt direkt auf unsere Kinder lenkte, und wie wir ihnen gegenüber mit dem Tod der Großmutter umgehen sollten. Das war wertvoll und sprach mich in meiner Verantwortung als Mutter an. Ihnen offen zu sagen, dass die Oma gestorben sei, dass ihre Seele nun im Himmel sei, und ihr Körper hier auf der Erde beerdigt wird. Ihnen nicht zu sagen, dass die Oma eingeschlafen sei. Sie vielleicht noch etwas malen zu lassen, was wir der Oma mit ins Grab geben könnten. Kaum hatten wir mit ihm gesprochen, füllte sich Renates Haus mit ihren Geschwistern, Nichten, Neffen, Nachbarn. Ich konnte ihre Trauer und ihren Schmerz verstehen, aber nicht teilen. Ich spürte meine eigenen Gefühle nicht mehr. Ich hatte sie abgekoppelt, um zu funktionieren. Ich musste für Richard da sein, ihm Halt und Kraft geben, nicht noch jemand sein, dem er Trost spenden musste, hatte er ihn doch von allen am nötigsten. Aber er schlug sich tapfer. Vielleicht half es ihm auch, jetzt als Familienoberhaupt gegenüber den Verwandten Stärke zu zeigen.

Ich musste vor allem für unsere Kinder da sein, die in unserem Haus nebenan noch friedlich schliefen, ohne die leiseste Ahnung, was gerade passiert war. Ich ließ Richard im Haus seiner Mutter zurück und ging nach Hause. Maxim und Nadeschda würden bald wieder aufwachen. Daniel würde zwar den Nachmittag mit ihnen verbringen. Doch es war meine Aufgabe, ihnen zu erklären, dass die Oma von uns gegangen war. Maxim war überraschend gut gelaunt, als er nachmittags aufwachte und machte sich gleich daran, unter Nadeschdas Beobachten zu malen. Ich schaute meinen Kindern zu und suchte nach den richtigen Worten. Während ich ihnen so zusah, spürte ich, wie die erste Traurigkeit weggewischt wurde von einem einzigen Gedanken: Dies waren meine Kinder. Sie hatten schon so viel Leid in ihrem Leben erfahren. Sie jetzt durch den Verlust der Oma zu begleiten, war meine Aufgabe. Für diese beiden kleinen Wesen da zu sein, ihnen Halt und Sicherheit zu geben, war das einzige, was zählte. Irgendwann bat ich Maxim und Nadeschda zu mir auf den Schoß zu kommen und ergriff das Wort. Obwohl es noch keine vierundzwanzig Stunden her ist, weiß ich nicht mehr, was ich sagte. Denn Maxims Antwort radierte alles aus, was zuvor gewesen war. Er schaute mich an, lächelte, legte seine Hand auf meinen Arm und sagte mit glasklarer Stimme: „Nicht schlimm, Mama, nicht schlimm.“ Es waren seine ersten Worte! Nach acht Monaten hörte ich ein erstes gesprochenes Wort aus dem Mund meines Sohnes. Unglaublich. Unfassbar. Als hätte die Oma Maxims Angst zu sprechen mit in den Tod genommen und seine Sprache als ihr Vermächtnis zurückgelassen.

Richard kam ein wenig später zu uns. Als wolle Maxim seinen Vater den Trost schenken, den er brauchte, ließ er sich von Richard bereitwillig in den Arm nehmen. Richard sagte zu ihm: „Weißt Du, die Oma ist gerade gestorben und ich bin sehr traurig. Da muss ich Dich jetzt einfach mal in den Arm nehmen.“ Maxim guckte ihn an, legte sein Ärmchen um seinen Hals, drückte Richard fest und murmelte erneut: „Nicht schlimm, Papa, nicht schlimm.“ Ich sah, wie Richard zum ersten Mal an diesem Nachmittag die Tränen in die Augen schossen. Er guckte mich ungläubig an, ich nickte ihm zu und lächelte. Während Richard versuchte seine Tränen zu verstecken, entfuhr es ihm: „Das glaube ich jetzt nicht.“.

7 Gedanken zu “3. April – Schockierender schmerzlicher Abschied mit Überraschung

  1. Liebe Charlotte, Euer Verlust tut mir sehr Leid:( Du hast den Beitrag so toll geschrieben, ich habe ein paar Tränchen verdrücken müssen. Wie wundervoll Maxim reagiert hat😍 und dann die allerersten Worte😳
    Ganz liebe Grüße

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  2. Pingback: Berufstätig als Adoptivmutter – Geht das? | Charlotte's Adoptionsblog ©

  3. Erschreckend, wie nah sich Trauer und Freude manchmal zur Seite stehen. Euer Verlust ist hart (auch wenn er schon etwas zurückliegt), dafür mein Beileid. Aber Maxims Reaktion…ich hab hier grad ganz ganz nasse Augen.. ❤

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