18. April -Erkenntnisse zum Muttersein

Silhouette of Mother and Young Children Holding Hands at Sunset

Die Zugfahrt in den Schwarzwald ähnelte einer Odyssee. Wir schienen niemals an unserem Ziel anzukommen. Aber ich war begeistert, wie gelassen meine Kinder dies über sich ergehen ließen. In Karlsruhe fuhr uns unser Anschlusszug vor der Nase weg. Selbst Maxim entfuhr ein: „Mist, Mama.“ – Seine sprachliche Aufholjagd macht in unserer vertrauten Umgebung vor nichts Halt. Stattdessen werden alle Worte, die er in seiner Umgebung aufschnappt, sofort verarbeitet und in den eigenen Wortschatz aufgenommen. – Also zuckelten wir fast zwei Stunden mit einer S-Bahn in den nördlichen Schwarzwald. Die vier Tage bei Nils und Rieke ließen die Strapazen der Anreise jedoch schnell wieder vergessen. Überraschend war, wie schnell unsere drei Kinder wieder begannen zusammen zu spielen. Als wäre da ein unsichtbares Band und eine stille Übereinkunft, die sie miteinander verband. Auch ich fühlte mich schnell Zuhause, denn es war bei Nils und Rieke alles so unkompliziert. Im Gegensatz zu mir ließen sie die Uhr gedanklich in ihrem Kopf ausgeschaltet und wir lebten so in den Tag hinein. Hinzukam, dass Nils gerade seine Elternzeit begonnen hatte, und Rieke während unseres Besuchs nicht arbeiten musste, so dass bis zu Richards Ankunft drei Erwachsene für drei Kinder da waren. Ich musste mir keine Gedanken machen. Zum ersten Mal seit Wochen konnte ich mich richtig entspannen.

Während wir uns am ersten Nachmittag noch im Regen auf dem Spielplatz rumdrückten und bald durchnässt die Segel strichen, wurden wir am nächsten Tag mit strahlendem Sonnenschein beschenkt. Wir nutzten das schöne frühlingshafte Wetter und fuhren in den Zoo. Immer noch freute ich mich zu beobachten, wie sich meine Kinder gefühlte Stunden für ein einziges Tier begeistern konnten. Pinguine und Eisbären wurden ewig verfolgt, Affen und Elefanten lange kritisch begutachtet, Ziegen im Streichelgehege ausdauernd gestreichelt, am Schwanz gezogen und mit Bürsten gestriegelt. Immer wenn ich das sah, musste ich daran denken, wie Nadeschda einmal im Streichelgehege unseres Zoos von zwei Ziegen attackiert worden war, weil sie noch ein Brötchen in der Hand hatte – als sie das noch essen durfte. Mir kam es nun jedes Mal so vor, wenn sie die Ziegen quälte, als wollte sie sich insgeheim an ihnen für diesen Vorfall rächen. Alle Ziegen, egal in welchem Zoo, hatten es seitdem nicht anders verdient, als von Nadeschda malträtiert zu werden.

Währenddessen blieb Rieke und mir viel Zeit zum Reden. Wir teilten das Glück, das wir mit unseren Kindern hatten. Wir wurden uns gewahr, das wir doppelt beschenkt worden waren, denn unsere Kinder hatten sich alle drei bisher gut entwickelt, medizinische Diagnosen aus Russland hatten sich nicht bewahrheitet oder neue medizinische Herausforderungen, wie Nadeschdas Zöliakie, waren im Alltag nach einer geraumen Zeit zur Normalität geworden. Wir waren dankbar für den Weg, den uns das Schicksal hatte gehen lassen. Dennoch wussten wir beide inzwischen, das unser jeweiliges Familienleben nicht normal war. Es schien nach außen so gewöhnlich, die Entwicklung unserer Kinder so großartig. Welche Anstrengungen und emotionalen Achterbahnfahrten wir aber hinter unseren Haustüren manchmal fuhren, das erkannte und verstand kaum jemand draußen. Das musste auch nicht sein. Es erklärte mir nur so schön, warum ich mich oft so einsam fühlte. Ich war anders als die Mütter leiblicher Kinder und würde es auch immer bleiben. Letztendlich forderten meine Kinder eine andere Mutter. Maxim und Nadeschda waren zwei Kinder, die in ihren ersten Lebensjahren in widrigen Umständen um ihr Überleben gekämpft hatten, bedingungslose und fürsorgende Mutterliebe hatte ihnen gefehlt. Um so mehr war ihre Entwicklung zu gesunden, starken Kindern keine Selbstverständlichkeit. Sie entsprach damit nicht den Standardmaßstäben einer normalen Kindesentwicklung. Wir durften dies als ihre späten Eltern weder erwarten, noch so bewerten. Vielmehr war jeder einzelne Entwicklungsschritt, und wenn er auch noch so klein war, ein Wunder und ein großes Geschenk. Dessen musste ich mir als Mutter immer bewusst sein.

Zudem funktionierte die in vielen Ratgebern zementierte Erziehungskunst leiblicher Kinder nicht bei Kindern, die früh ihre leibliche Mutter verloren hatten und in einem Heim viel zu früh auf sich selbst gestellt waren. Bestrafen und Belohnen zum Beispiel zeigten keine Wirkung oder berührten im Gegenteil alte seelische Verletzungen und provozierten damit einen erneuten Überlebenskampf. Ein Adoptivkind vor dem Einschlafen alleine zu lassen, damit es lernt, auch ohne die Mutter zu schlafen, weckte vielmehr alte Verlassensängste. Auch hier musste ich als Mutter andere Wege finden, mit meinen Kindern umzugehen. Da ich beide Kinder nicht in meinem Bauch unter meinem Herzen getragen hatte, mussten wir auf eine andere Art unsere Beziehung und Bindung aufbauen und festigen, als das Mütter von leiblichen Kindern taten. Das Urvertrauen meiner Kinder war früh zerstört worden. Warum sollten sie einfach so einer neuen Mutter ihr Vertrauen schenken? In vielen kleinen Schritten mussten Maxim und Nadeschda lernen, dass sie sich auf mich verlassen konnten, dass ich immer für sie da war, dass ich sie nicht alleine lassen würde, dass sie keine Verantwortung mehr für ihr Leben übernehmen mussten. Ich musste ihnen im Umkehrschluss zeigen und beweisen, dass ich ihr Vertrauen wert war. Es erforderte somit einen so achtsamen und behutsamen Umgang mit diesen beiden Kindern. Erst in ein paar Jahren würde ich vielleicht spüren, dass wir eine unumstößliche Mutter-Kind Beziehung aufgebaut und entwickelt hatten.

Irgendwann, ich glaube es war vor dem Gehege der Flamingos, war es mir klar: Ich hatte neun Monate damit gerungen, eine normale Familie zu haben und eine ganz normale Mutter zu sein. Doch die war ich nicht, und die würde ich auch nie sein. Ich sollte aufhören, es werden zu wollen. Die Geschichte und die Herkunft meiner Kinder, und vor allem der Weg, den wir alle vier gegangen waren, um heute als Familie zusammenleben zu dürfen, war kein gewöhnlicher gewesen. Richard und ich waren anders Eltern geworden. Nadeschda und Maxim waren anders unsere Kinder geworden. Damit würden wir immer anders Eltern, und vor allem anders eine Familie sein. Dies ergab sich zwangsläufig aus dem Weg der Adoption, vor allem aus der Adoption von zwei Kindern, die bereits ein Leben vor uns gelebt hatten, ihr Päckchen mitbekommen hatten und nicht aus dem Kreißsaal direkt zu uns gekommen waren.

Die schwierigen Rahmenbedingungen, die Richard und ich in den letzten Monaten erfahren hatten, brachten uns unseren Kindern noch näher. Renates Tod und der Bruch mit meinem Vater und die damit verbundene Trauer ließen uns nur erahnen, welchen Schmerz Maxim und Nadeschda bereits in ihren frühen Lebensjahren hatten erfahren müssen. Mit dem Tod von Renate hatte Richard seine Mutter verloren, wie auch unsere Kinder ihre erste Mutter verloren hatten. Mit dem Bruch von meinem Vater war ich an den Schmerz meiner eigenen Kindheitserfahrungen gelangt. Nicht geliebt zu werden, für das was ich war, sondern allein dafür, was ich tat und erreichte, zeigte das Defizit an bedingungsloser Elternliebe. Diese hatte ich nicht erfahren, weder durch meinen Vater, noch durch meine Mutter. Bis zum heutigen Tag waren beide nicht in der Lage, emphatisch Anteil an meinem Leben zu nehmen, auch wenn ich dies gerade wieder in den letzten Wochen gebraucht hätte. Auch meine Kinder hatten diese bedingungslose Elternliebe in ihren ersten Lebensjahren entbehren müssen, anders und sicherlich noch um vieles schmerzlicher. Das Schicksal hatte uns zusammengebracht, und wir vier hatten in uns gegenseitig unsere Lehrmeister gefunden. Es hing jetzt nur von uns allein ab, was wir daraus machten. Ja, wir waren anders. Es war an der Zeit, dies endlich zu akzeptieren und unseren eigenen Weg zu gehen. Ich würde für mich selbst definieren müssen, wie ich meinen Kindern eine gute Mutter sein kann. Ich müsste mich befreien von sozialen Konventionen,alten Rollenmodellen und letztendlich von den eigenen Kindheitsverletzungen. Dies könnte der Schlüssel sein, meine innere emotionale Schraube der Unzulänglichkeit zu stoppen. Für einen Moment spürte ich die Euphorie in mir, die ein solcher Neuanfang in sich barg.

 

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