
Foto von Veri Iwanowa und mit freundlicher Unterstützung von unsplash.com
Mein Bruder Daniel lebt mittlerweile seit einem halben Jahr bei uns. Warum ist eine andere Geschichte. Er ist Teil der Familie und muss an mancher Stelle mit unterstützen. Neulich war ich mit Nadeschda nachmittags beim Friseur. Maxim war bei Freunden im Dorf. Ich hatte Daniel gebeten, wenn ich nicht rechtzeitig zurück bin, Maxim die Haustür aufzumachen, wenn er von seinen Freunden zurückkommt. Maxim hatte ich gesagt, dass, sollte ich nicht rechtzeitig vom Friseur zurück sein, Daniel ihm aufmachen würde. Nun, Maxim ging zu seinen Freunden, ich mit Nadeschda zum Friseur. Der Friseurbesuch zog sich hin. Mir war schnell klar, dass wir später als geplant nach Hause kommen würde. Ich wägte mich aber in Sicherheit, denn Daniel war ja da.
Als ich schließlich mit Nadeschda nach Hause kam, stand Maxim vor der verschlossenen Tür. Daniel hatte nicht aufgemacht. Gottseidank war mein Sohn in Begleitung der Mutter seiner zwei Freunde und nicht alleine. Dem Himmel sei Dank waren alle drei Jungs nach dem Abendessen zusammen zu uns aufgebrochen. Als sie feststellten, dass niemand die Tür aufmachte, lief einer der Freunde nach Hause zurück und holte die Mutter. Sie kam mit und wartete mit dem zweiten ihrer Söhne und meinem Sohn vor der Tür. Nach nur wenigen Minuten traf ich mit Nadeschda ein.
Alles nicht so schlimm, könnte man jetzt denken. Die drei Jungs haben das wunderbar gelöst. Sie haben Hilfe geholt und dann zusammen gewartet. Und es waren ja auch nur wenige Minuten, die Maxim vor verschlossener Tür stand. Was ist schon so tragisch daran, dass ein Achtjähriger auf dem Dorf am frühen Abend ein paar Minuten auf seine Mutter warten muss? So mag das vielleicht bei leiblichen Kindern sein, die in Urvertrauen mit ihren leiblichen Eltern aufgewachsen sind. Bei meinen Kindern ist ein Nicht-Einhalten der Absprachen eine Todsünde.
„Mama ist nicht da, wie sie gesagt hat. Und die Tür wird mir von meinem Onkel auch nicht aufgemacht, wie Mama gesagt hat. Also, kann ich mich nicht auf sie verlassen. Es stimmt nicht, was sie sagt. Und sie ist nicht für mich da, wie sie sagt.“ Das geht im Kopf meines Sohnes wohlmöglich ab. Dabei ist völlig unerheblich, dass auch Daniel sich nicht an die Absprache gehalten hat. Es geht allein um Maxims Bindung an mich. Kann er sich an eine Mutter binden, kann er einer Mutter vertrauen, deren Worte und Versprechen nicht so in der Realität eintreten?
An dem Abend ist Maxim sofort regrediert und hat sich wie ein kleines Baby verhalten. Logisch. Er musste sich zwingend vergewissern, dass ich doch für ihn da bin und ihn umsorge. Genauso folgten seitdem jeden Tag von Neuem seine Beziehungsanfragen. „Kann mich meine Mama halten und kann sie mich aushalten.“ Wutanfälle, die sich zuweilen in hysterische Tobsuchtsanfälle hineinsteigern stehen wieder an der Tagesordnung. „Steht sie zu ihrem Wort und bleibt bei mir? Oder schickt sie mich nicht doch irgendwann weg? Irgendwann muss sie doch so die Schnauze vollhaben von mir, dass sie aufgibt.“ Maxim sagt es nicht so, aber sein Verhalten zeigt es eindeutig. Mit meinem Zuspätkommen und dem Ausfall meiner Fallback-Lösung – Daniel – ist die Beziehung zwischen Maxim und mir gestört, jahrelange Bindungsarbeit ins Wanken geraten.
So manches Mal hatte ich in den vergangenen Tagen das Gefühl, wieder ganz von vorne anfangen zu müssen. Immer wieder Maxim zu zeigen, dass ich für ihn sorge, dass ich immer da bin und da sein werde, dass ich diejenige bin, die weiss, was für ihn gut ist und ihn egal, was er tut, trage, halte und aushalte. Keiner weiß, wie lange das noch anhalten wird. Auch nach Jahren kippt die hart erarbeitete Stabilität, wenn nur ein kleiner „Fehler“ passiert. Meine Kinder dulden das nicht. Sie ertragen das nicht. Sofort sind sie wieder in ihrem Überlebensmodus, fallen zurück in ihre Autonomie in dem Glauben, nur sie selbst können und müssen alleine dafür sorgen, dass sie weiter leben. – Oder wie im Falle von Maxim, gehen noch einmal zurück in ihr Babystadium, um sich über diesen Weg zu vergewissern, wie gut die Mama für ihn sorgen kann und tut. – Bei meinen Kindern müssen Absprachen zwingend eingehalten werden. Nur so erfahren sie und erleben sie jeden Tag: Es stimmt, was die Mama sagt und es ist auch genauso, wie sie gesagt hat. Nur das gibt ihnen Sicherheit und Geborgenheit. Das ist sehr anstrengend und kostet mich viel Kraft. Doch hätte ich es wissen müssen. Aber nach Jahren, in denen so vieles immer mehr „normal“ läuft, werde ich vielleicht als Adoptivmutter auch etwas „nachlässiger“. Ungeachtet dessen, dass ich mich einfach auch auf meinen Bruder verlassen habe. Das werde ich wohl in dieser Form nicht mehr tun. – Ich muss mir immer dessen bewusst sein, wir sind eben anders. Ich muss anders Mutter sein. Die Amplitudenausschläge sind höher, meine Kinder haben andere Bedürfnisses, ich muss als ihre Mutter viel bewusster durch unseren Alltag gehen, muss mich mehr disziplinieren und ich darf mir kaum Fehler erlauben. Und vor allem: Ich darf niemals zu spät kommen.
Tut mir sehr leid, dass alles immer noch so fragil ist. Ich hoffe, es wird irgendwann besser. Der Druck, von dem du schreibst, ist schon enorm. Lg Tina
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Liebe Tina, danke! – Nun ja, es ist ja nicht dauernd schwierig und fragil. Da sind ja auch die vielen wunderbaren Momente. Nur Phasen der Veränderung (wie jetzt nach den Ferien und dem Schulanfang mit neuer Klassenlehrerin) sind immer sehr schwer. Nach wie vor und immer wieder. Hinzukommt, dass ich natürlich jetzt auch gerade viel darüber schreibe, weil es mich beschäftigt und ich ja auch darauf aufmerksam machen will, dass das hier kein „Kasperletheater“ ist – auch nicht, wenn die Kinder schon Jahre bei uns leben. – Die Adoption unserer Kinder ist das Wunderbarste, was mir in meinem Leben passiert ist, aber gleichzeitig ist und bleibt es auch die größte Herausforderung.
Liebe Grüße Charlotte
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