Fehlendes Urvertrauen – Ein Erklärungsversuch für die „Fleischwurst“

Der Beitrag von Katja von „home is where the boys are“  zu „Stark fürs Leben“ hat mich schon lange beschäftigt. Katja schreibt darin über Urvertrauen und Vertrauen. Wohlmöglich hat mich deshalb auch die Situation neulich, als drei Scheiben Fleischwurst in einem Drama endeten, so getroffen. Die ganze Situation fiel auf fruchtbaren, bereits gepflügten Boden. Ich hatte Tage vorher schon gespürt, dass Maxim und ich ein Thema hatten.

Urvertrauen ist nicht angeboren. Es entsteht in den ersten zwei bis drei Lebensjahren eines Kindes. Da beginnt es zu lernen, seiner Umwelt und seinen wichtigsten Bezugspersonen zu vertrauen. Denn all seine physischen und emotionalen Bedürfnisse werden (meist) vor allem durch die Mutter gestillt. Wenn das Baby Hunger hat, wird es gefüttert. Ist ihm kalt, wird es gewärmt. Hat es Angst, wird es getröstet und behütet. Dieser Prozess des Urvertrauens ist dabei gebunden an die „zuverlässige und nur für relativ kurze Zeiträume unterbrochene Anwesenheit ganz konkreter unverwechselbarer Menschen“, so schreiben Rech-Simon und Simon in ihren „Survivaltipps für Adoptiveltern“. Mit diesem Urvertrauen entsteht eine sichere und stabile Bindung zur Mutter, das Kind ist in der Lage sich an seine Mutter zu binden.

Adoptivkinder, vor allem Adoptivkinder mit Heimerfahrung, erleben stattdessen in ihren ersten Lebensjahren bis zur Adoption ein Leben mit wechselnden Betreuern und Erzieherinnen. Essen gibt es nach einem festen Zeitplan und nicht dann, wenn das Baby oder Kleinkind Hunger hat. Direkte unmittelbare Zuwendung ist nur wenig und sehr eingeschränkt möglich. Denn schließlich leben bis zu zehn Kinder im Schnitt in solchen Heimgruppen und selten sind ausreichend Betreuerinnen da. Vor dieser Heimerfahrung waren die Lebensumstände auch alles andere als behütet und fürsorglich. Adoptivkinder haben also kein Urvertrauen entwickeln können.

Stattdessen haben sie gelernt, dass sie sich nur auf sich selbst verlassen können. Dies zeigt sich in einem ausgeprägten Drang nach Autonomie. Sich in existenzielle Abhängigkeit von anderen Menschen zu begeben, ist in der Gedankenwelt eines Adoptivkinds gefährlich und tut weh. Deshalb muss es sich seine eigene Autonomie beweisen und zwar so, dass es alles bekämpft, zu dem eine Abhängigkeit besteht. Je älter das Kind ist, desto weniger geht es dabei um die körperlichen Bedürfnisse, sondern vielmehr um das Selbstbestimmen des Verhaltens. Meist lehnen sie sich gegen jede Form von Disziplin auf.

Das Urvertrauen werden diese Kinder nicht mehr erlernen. Mit der Zeit und mit viel Geduld und Fürsorge entsteht jedoch eine stabile Bindung zwischen Adoptivkind und Adoptiveltern. In dieser Bindung gewinnt das Kind tiefes Vertrauen zu seinen Adoptiveltern. Aber in Krisenzeiten, in denen es dem Adoptivkind aufgrund unterschiedlicher Umstände nicht gut geht, brechen der Drang nach Autonomie und alte Überlebensmuster wieder hervor.

Was war also passiert, an dem Abend, als Maxim wegen drei Scheiben Fleischwurst einen lange nicht mehr in dieser Intensität aufgetretenen Tobsuchtsanfall bekam? Vorab: Wir befinden uns im Moment für Maxim gefühlt in einer „Krisenzeit“. Es war das Ende der Sommerferien und Maxim erwartete mit Schulbeginn eine neue Lehrerin. Seine alte Klassenlehrerin aus dem ersten Schuljahr war an eine andere Schule gewechselt, nicht ganz unfreiwillig, denn Elternschaft und Schule waren unzufrieden mit ihren pädagogischen Kompetenzen. Jede Veränderung bringt Unruhe in das Leben meiner Kinder. Der anstehende Lehrerwechsel verunsicherte Maxim. Der Abschied von der alten Lehrerin, auch wenn er schon mehrere Wochen zurücklag, trat mit dem Auftreten der neuen Lehrerin noch einmal bewusst zu Tage. Es war wieder ein Bindungsabbruch in seinem Leben, mit dem er nicht gut umgehen konnte. Wieder war er gezwungen, sich auf eine neue Lehrerin einzulassen. Der Schulbeginn war an diesem Abend sehr präsent, denn wir waren an dem Nachmittag in der Stadt gewesen und hatten die Schulmaterialien und neue Anziehsachen für die Schule gekauft. Es brauchte also wenig, um Maxims innere Unruhe zum Überlaufen zu bringen. Mit dem fehlenden Salz auf den Tomaten griff ich zum ersten Mal in sein vermeintlich selbstbestimmtes Verhalten ein. Denn ich entschied, dass bereits genug Salz auf den Tomaten war.  Als er dann bockig wurde und seinen Teller wegschob, und ich auch noch „sein Essen“, seine drei Scheiben Fleischwurst an Nadeschda gab, war es zu spät. Der „Trigger“, wie es in der Fachliteratur heißt, war gesetzt. Von da an nahm der Wutanfall seinen Lauf. Entgegen dem, was ich doch so viele Male gelesen hatte, versuchte ich Maxim zu beruhigen. Ich redete auf ihn ein, gebetsmühlenartig, ich versuchte ihn zu trösten. Schwerer Fehler. Denn damit ließ ich ihn ja seine Abhängigkeit von mir noch mehr spüren. Ich hätte wissen müssen, dass ich damit die Sache nur schlimmer machte. Erst als Maxims Tobsuchtsanfall das Maß des Unerträglichen bekam und ich das Bad später verließ, beruhigte er sich. Ich war aus dem „Tanz“ und dem Machtkampf ausgestiegen. Das allerdings zu spät.

Ich weiß nicht, ob Maxim irgendwann eine so feste Bindung zu mir und seinem Vater haben wird und so viel Vertrauen in sich und in uns gefunden haben wird, dass diese Tobsuchtsanfälle und die inneren Überlebenskämpfe verschwinden. Er wird sicherlich mit der Zeit lernen, sich anders zu verhalten. Und ja, wenn ich auf die vergangenen Jahre zurückblicke, so sind diese Wutanfälle entschieden weniger geworden. Wenn ich zurückdenke an unser erstes Jahr als Familie, so gab es sie da mehrmals am Tag. Mit der Zeit verschwanden sie über Wochen, manchmal sogar über Monate hinweg. Sie traten dann nur wieder in Phasen der Veränderungen und Verunsicherungen auf. So wie jetzt eben auch.

Ich als seine Mutter kann nur achtsamer mit ihm und dem, was ihn umtreibt, umgehen. Ich kann nur mein eigenes Verhalten ändern. Ich darf mich auf keinen Machtkampf mit ihm einlassen. Nicht auf ihn einreden, nicht ihn versuchen zu trösten, wenn er das ablehnt. Den Raum zu verlassen, scheint wieder einmal die beste Lösung zu sein. Das aber, ohne ihm das Gefühl zu geben, allein gelassen zu sein. Katja hat es am Ende ihres Beitrags so wunderbar gesagt: In Beziehungen, die von einem friedlichen Miteinander gekennzeichnet sind, akzeptieren wir die Grenzen des Anderen, wir geben auf einander Acht und gehen achtsam miteinander um. Das wird der vielleicht einzige Weg sein, wie Maxim mehr Vertrauen gewinnt und sein Autonomiebestreben vor allem in Zeiten der Veränderungen und Verunsicherung nachlässt.

6 Gedanken zu “Fehlendes Urvertrauen – Ein Erklärungsversuch für die „Fleischwurst“

  1. Liebe Charlotte, du hast das ganz wunderbar geschrieben und ich spüre in deinen Worten die Sorge um deine Kinder, aber auch deine Liebe. Und die ist groß und stark und lässt die beiden wachsen. Die Kinder spüren, dass ihr mit eurem ganzen Herz mit ihnen geht. Das ersetzt zwar nicht das Urvertrauen, aber es schenkt ihnen Gewissheit, sich auf einen Menschen verlassen zu dürfen. Ich drück dich aus der Ferne. Du machst das gut. Alles Liebe Katja

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