Schwierige Liebe – Über das Bindungsverhalten von Adoptivkindern

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Alex Blajan, unsplash.com

In Vorbereitung auf unsere Adoption zeigte eine Seminarleiterin uns einen Teddybären. Er hatte unzählige abgeschnitten Fäden an Armen und Beinen. „So wird ihr Kind zu ihnen kommen,“ erläuterte sie uns, „mit all seinen abgeschnittenen und gekappten Bindungen, die aus seinem früheren Leben nicht weitergingen. Seine leiblichen Eltern, möglicherweise Geschwister, Erzieherinnen im Heim, die irgendwann nicht mehr da waren, andere Kinder aus der Heimgruppe, die aus welchen Gründen auch immer irgendwann nicht mehr da waren etc. etc. etc.“ An diesen Teddybären muss ich in der letzten Zeit wieder denken.

Es steht außer Frage, dass meine Kinder ein verletztes Bindungsverhalten hatten, als sie zu uns kamen. Das brachte ihre Geschichte mit sich. Genauso wie sie kein Urvertrauen entwickeln konnten, haben sie auch nicht lernen dürfen, sich an eine verlässliche Bezugsperson zu binden. Beide zeigten Verhaltensmuster von unsicher vermeidender Bindung, wie in der Fachliteratur Bindungstypen bei Kindern klassifiziert werden, (sie demonstrieren eine Pseodunabhängigkeit, bzw. Autonomie und ein zuweilen auffälliges Kontakt- und Vermeidungsverhalten) und einer unsicheren ambivalenten Bindung (ein Schwanken zwischen klammerndem und aggressiv-ablehnendem Verhalten).

Als Maxim und Nadeschda zu uns kamen, taten wir all das, zu dem uns Adoptionsspezialisten und die Fachliteratur geraten hatten: In den ersten Wochen begaben wir uns in die Isolation. Nur wir vier waren ständig zusammen. Kontakte zu Freunden oder anderen Familienmitgliedern gab es kaum und wenn dann nur nach und nach und immer wohl dosiert bei uns Zuhause. So sollten Maxim und Nadeschda lernen, dass Richard und ich ihre wichtigsten Bezugspersonen sind, dass wir immer für sie da sind. Genauso waren Richard und ich die einzigen, die alle „intimen Alltäglichkeiten“ mit ihnen verrichteten. Nur wir wuschen sie, nur wir gaben ihnen zu essen, nur wir zogen sie an, nur wir gingen mit ihnen auf die Toilette, nur bei uns gingen sie an der Hand, nur wir brachten sie ins Bett. Erst nach Monaten ließen wir auch Dritte, wie unsere Kinderfrau oder meinen Bruder, einzelne Aufgaben der Fürsorge übernehmen. Und auch heute noch, Jahre danach ist es ein ungeschriebenes Gesetz zwischen Richard und mir, dass wir maximal an einem Abend in der Woche Maxim und Nadeschda von unserer Kinderfrau oder Daniel ins Bett bringen lassen. Die Konsequenz mit der wir das taten, schien sich auszuzahlen. Denn unsere Kinder schienen recht bald schon an uns gebunden zu sein. Lange glaubten wir, auf einem guten Weg zu sein.

Wenn ich heute in einem Seminar sitze und etwas über die Bindung von Adoptivkindern höre, muss ich manchmal müde lächeln. Da werden die vier unterschiedlichen Bindungstypen erläutert und empfohlen, genau das zu tun, was ich eben beschrieben habe. Auch den Rat, die Entwicklung des Bindungsverhaltens nachzunähren, haben wir befolgt. Wir sind mit Maxim und Nadeschda zurück in ihr Babystadium gegangen – vielleicht bei Maxim zu wenig – aber dennoch wir haben es getan. Doch dem Optimismus, dass nach wenigen Monaten oder einem Jahr, so eine stabile Bindung zwischen Adoptivkindern und -eltern entsteht, kann ich heute nicht mehr teilen.

Bindungsarbeit hört nicht auf. Auch Jahre danach noch brechen immer einmal wieder alte Wunden auf, und unsere Kinder stellen die Bindung an uns Eltern in Frage. Maxims Wutanfälle sind ein Beispiel dafür, genauso wie Phasen, in denen er den Blickkontakt meidet, mich ignoriert. Nadeschdas Verlustängste, ihr Klammern an mich, um mich dann im nächsten Moment wieder wegzuschieben, ein anderes Zeichen. Manchmal liegt es auf der Hand bei genauerer Betrachtung, warum wieder alte Verletzungen berührt wurden, wie bei meinem Zuspätkommen . Manchmal bleibt mir die Ursache auch über Wochen verborgen. Ich kann dann nur versuchen, meinen Kindern sklavisch penible Verlässlichkeit und Sicherheit zu bieten, wieder zurückzugehen in das Nachnähren früherer Zeiten. Ihnen in jeder Sekunde zu zeigen, dass ich für sie da bin, dass ich sie halte, dass ich nie aus dem Kontakt mit ihnen gehe, egal wie schwierig es vielleicht auch sein mag. Für mich ist die „Bindungsarbeit“ bei Adoptivkindern ein lebenslanger Prozess. Ich wage zu bezweifeln, dass er jemals abgeschlossen werden kann.

Auf der anderen Seite ist er für mich ein Lehrstück in absoluter bedingungsloser Liebe. Er lehrt mich Demut und Achtsamkeit. Und die dann manchmal überraschenden Liebesbekundungen meiner Kinder erfüllen mich mit großer Dankbarkeit. Wenn Maxim mir seinen Hosentasche mit Steinen ausleert und sagt: „Mama, die habe ich alle nur für Dich gesammelt. Für Dich ganz allein, meine Supermama.“ Oder wenn Nadeschda mir in der Schulmensa entgegenläuft und aus vollem Halse ruft: „Meine Mami!“ Dann muss ich wieder an den Teddy denken. Ich lächle innerlich und spüre, dass er auch mit seinen vielen abgeschnittenen Fäden langsam zur Ruhe kommt und neben den vielen losen Enden neuer Halt  mit neuen fest verknüpften Fäden wächst.

2 Gedanken zu “Schwierige Liebe – Über das Bindungsverhalten von Adoptivkindern

  1. Liebe Charlotte, du sprichst mir mit deinem Bericht aus der Seele. Auch wir erleben die allermeiste Zeit Familienglück pur mit unseren beiden Adoptivkindern. Viele sagen uns sogar, dass es bei uns viel harmonischer läuft als bei vielen anderen. Doch immer wieder mal, treffen uns ganz unerwartet Ausbrüche, mit denen wir nicht gerechnet haben. Was bei euch die Scheibe Fleischwurst war, war bei uns ein wunderbar ausgemaltes Bild und einem einzigen Strich, der über die Linie hinaus ging. Da hilft nur ruhig bleiben und abwarten. Mittlerweile gelingt mir das viel leichter. Wahrscheinlich auch, weil ich weiß, dass wir auf einem guten Weg sind…

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