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Maxim sitzt am Tisch und macht Rechenhausaufgaben. Die ersten zwei Aufgaben gehen noch leicht von der Hand. Bei der dritten muss er etwas nachdenken. Er verstummt. Ich wiederhole die Aufgabe für ihn. Er erstarrt. Gefühlte Minuten passiert gar nichts. Dann wandert sein Bleistift in den Mund. Mit dem Radiergummi malt er auf seiner Tischunterlage. Dann guckt er mich wie durch einen Schleier an und sagt einfach irgendeine Zahl, die fernab von der eigentlichen Rechenaufgabe ist. Ich schaue ihn überrascht an und sage: „Mmmh, bist Du Dir sicher? Rechne nochmal nach.“ Maxim wiederholt die falsche Zahl. Ich wiederhole die Aufgabe und helfe ihm mit einem Bild. Doch Maxim hört mich schon nicht mehr. Er nimmt seinen Stift in die Faust und streicht die Aufgabe wutentbrannt durch. In der Folge wird er irgendwann den Stift und das Heft durchs Zimmer schleudern, ich werde nicht mehr ganz so verständnisvoll sein, und irgendwann wird er anfangen zu brüllen und zu toben, was irgendwann in ein verzweifeltes Weinen und Schluchzen übergeht. Ich werde ihn trösten, ihm gut zureden und nach einer halben Stunde oder auch Stunde wird er sich beruhigen und sagen: „Mama, ich habe solche Kopfschmerzen.“

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Nadeschda kommt wutschnaubend aus der Schule. Sie piesackt ihren Bruder und lässt nicht von ihm ab. Mich schnauzt sie nur an, wenn ich sie etwas frage. Mit geballten Fäusten stampft sie in ihr Zimmer. Sie flucht weiter, wirft ein paar Dinge durch die Gegend. Wenn ich sie frage, was los ist, stellt sie sich vor mir auf und brüllt: „Mama, ich bin wütend.“ Ja, das merke ich. Auf meine Frage, warum, kommt ein „Sag ich Dir nicht.“ Okay, ich lasse sie eine Weile in Ruhe, doch ihre Stimmung bessert sich nicht. Als unsere Übzeit beginnen soll, ist sie immer noch grantig und motzt. Erst beim Händewaschen entlädt sich die gesamte Wut und Traurigkeit. Erst schreit sie lauthals, dann weint sie bitterlich. Unter Tränen erzählt sie, dass ihre Freundin in der Schule sie im Gesicht gekniffen hat. „Ich gehe da nie mehr hin, Mama. Die Schule soll abgerissen werden.“ Schluchzend sitzt sie dann auf meinem Schoß.
Wir verbringen einen friedlichen Nachmittag im Garten. Die Kinder plantschen vergnügt in unserem Schwimmbecken, wir genießen die sommerliche Sonne, lachen viel, das Spiel ist entspannt. Plötzlich ziehen Gewitterwolken auf. Doch ein Donnern ist noch nicht zu hören. Die Kinder kommen aus dem Wasser, Maxim rutscht auf der Leiter ein wenig ab und verletzt sich leicht am kleinen Zeh. Ist er meist hart im Nehmen, steigert er sich schnell in ein hysterisches Weinen. Er zittert. Er hat Angst. Ich wickele ihn in ein Handtuch und tröste ihn. Doch plötzlich stimmt Nadeschda aus heiterem Himmel in das Weinen ihres Bruders mit ein. Sie zittert wie Espenlaub. Die Panik, die ihren Körper durchzieht, ist offensichtlich. Auch sie wickele ich in ein Handtuch und setze sie zu mir auf den Schoß. Jedes Kind auf ein Bein und halte sie ganz fest. Nach einer Weile haben sie sich so weit beruhigt, dass wir ins Haus gehen können. Doch auch dort halte, wärme und beruhige sie noch eine Stunde, bis ihre Angst verflogen ist. – Das Gewitter zog an unserem Ort vorbei, mehr als ein paar Regentropfen kam nicht herunter.
Seitdem ich Sherrie Eldridges Beitrag zu „The Game Changer…“ gelesen habe, gehen mir so viele Situationen nicht mehr aus dem Kopf, in denen bei meinen Kindern der „Alarm“ losgeht. Frust bei den Hausaufgaben, Wut und Trauer über eine Gemeinheit einer Freundin in der Schule, ein harmloses Gewitter. Die Palette der Auslöser ist vielfältig und unüberschaubar. Und erst jetzt, wenn ich darüber nachdenke, wird mir bewusst, mit wie vielen unterschiedlichen Ausprägungen sich das zeigt. Denn nicht immer sind es Wutanfälle oder offensichtliche Angstmomente. Eine von Nadeschdas Lehrerinnen sagte neulich erst zu mir: „Ich spüre immer noch diese Anspannung in ihr.“ Und Maxim’s Klassenlehrerin schilderte uns in einem Elterngespräch: „ Er ist ja ein Junge, der alles immer besonders gut machen möchte.“ Ich war mir bewusst, dass die Schule anstrengend für Nadeschda ist. Stets bemüht, dort allen Anforderungen gerecht zu werden. Darauf führte ich auch die Anspannung zunächst zurück. Doch das ist nur ein Teil der „Wahrheit“. Wenn ich mir wieder das Bild des Rauchmelders vor Augen führe, wird mir klar, warum Nadeschdas Körper in der Schule immer in einem Zustand der Anspannung ist. Sie ist dort in ständiger Habacht-Stellung, als müsse sie aufpassen, wann das nächste Mal der Rauchalarm in ihrem Kopf losgeht. Genauso bei Maxim. Er versucht, in dem er sich so bemüht, alles gut und richtig zu machen, zu vermeiden, dass der Alarm ausgelöst wird. So versucht er Kontrolle über das Geschehen in der Schule zu bewahren. Dass das für ihn anstrengend ist, ist nachvollziehbar. Erst Zuhause bei den Hausaufgaben entlädt sich dann der Druck mit aller Macht. Und kaum verwunderlich, dass er am Ende eines jeden Ausbruchs über Kopfschmerzen klagt.
Ich weiß, dass unsere Kinder mit der Zeit einen anderen Umgang mit ihrem Rauchmelder im Kopf finden werden und auch schon gefunden haben. Immerhin gibt es viele Zeiten, in denen sie sich besser entspannen können, in denen sie gelöst und angstfrei durch ihr Leben gehen. Doch es braucht noch mehr als Zeit und Geduld, dass sie auch in der Schule ihre permanente Anspannung etwas ablegen können. Ich weiß allerdings noch nicht was. Ich für mich habe nur erkannt, dass vor allem Maxims Wutausbrüche bei den Hausaufgaben zu einem Teil Anzeichen einer Leistungsverweigerung und Reaktionen auf einen vermeintlichen Leistungsdruck sind. Häufig ist es aber zu einem anderen Teil der Alarm in seinem Kopf, der alle Sicherungen durchbrennen läßt. Möge mir dieses Bild beim nächsten Mal gegenwärtig sein….