„Anstrengungsverweigerung“ – Wann tritt sie auf?

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Mit freundlicher Unterstützung von pixabay.com

Die „Anstrengungsverweigerung“ hat mich selbst in unterschiedlicher Form in den letzten Wochen und Monaten wieder beschäftigt. Heute soll es daher einmal um den Zeitpunkt gehen, wann eine „Anstrengungsverweigerung“ deutlich zutage treten kann.

Grundsätzlich kann es im Leben eines Kindes drei kritische Entwicklungsphasen geben, in denen eine Leistungsverweigerung oder eben Anstrengungsverweigerung auftreten kann: 1. mit dem Zahnwechsel und dem Eintritt in die Schule, 2. mit dem Übergang zum Rubikon und 3. mit Beginn der Pubertät. Trotz einer starken Traumarisierung hat ein Kind in den ersten Lebensjahren ungeahnte Kindheitskräfte, wie es auch Bettina Bonus in ihrem Buch „Mit den Augen eines Kindes sehen lernen – Die Anstrengungsverweigerung“ eindrücklich beschreibt. – Sie hat übrigens auch ein sehr spannendes und interessantes Video zu den Folgen und Auswirkungen von Frühtraumatisierungen auf ihrer Webseite. –  Das sind diejenigen Kräfte in einem Kind, die es laufen lernen lassen, die es immer wieder aufstehen lassen nach jedem Sturz, bis es endlich auf zwei Beinen laufen kann. Es sind die Kräfte, die ein Kind auch noch mit Fieber draußen im Garten herumtollen lassen. Es sind die Kräfte, die das Kind in einer unersättlichen Phantasie leben lassen und so über Schmerz und Angst hinwegtäuschen können. Doch je älter ein Kind wird und je mehr es in der Realität ankommt, um so mehr schwinden diese Kindheitskräfte, bis sie in der Pubertät ganz verschwunden sind. Dann treten die fehlenden Lebenskräfte offen zu Tage und äußern sich in Form von mangelndem Eigenantrieb, so schildert es Bettina Bonus eindrücklich in ihrem Buch.

Es liegt auf der Hand, dass grundsätzlich meist erst mit dem Eintritt in die Schule eine Anstrengungsverweigerung zutage tritt. Denn hier ist das Kind zum ersten Mal außerhalb des elterlichen Zuhauses einem Umfeld ausgesetzt, in dem bewusst und gezielt immer wieder Anforderungen und Leistungen erfüllt werden müssen. Zudem beginnt das Kind mit dem Zahnwechsel eigene Neigungen, Gewohnheiten, Charaktereigenschaften und Temperamente zu zeigen. Doch genauso tritt nun das vom Trauma stark beanspruchte Seelenleben des Kindes ein Stück weit schutzloser zu Tage. All das, was zuvor im Verborgenen lag, tritt nun ein Stück weit mehr ans Licht. Das Kind ist damit verletzbarer. Gefühle wie Angst und Hilflosigkeit spürt das Kind nun bewusst, kann mit ihnen aber noch nicht umgehen. Im Zusammenspiel mit den großen Veränderungen, die der Eintritt in die Schule mit sich bringt, kann ein traumatisiertes Kind von seinen inneren Gefühlen überrollt und überfordert werden. Es reagiert mit Rückzug oder Angriff und geht in die Verweigerung.

Die Phase des „Rubikon“, in dem sich das Kind noch einmal anders von seiner Außenwelt abgrenzt und sich neu definiert, seine Herkunft hinterfragt, gesetzte Strukturen und Beziehungen für sich neu definiert, ist die zweite kritische Lebensphase. Im „Rubikon“ entwickelt sich beim 9 bis 10-jährigen Kind die zunehmende Fähigkeit zur inneren Distanz. Mit Blick auf die Anstrengungsverweigerung sind in dieser Phase vor allem zwei Aspekte besonders kritisch: Das Kind beginnt bisher gesetzte Autoritäten, nicht nur die eigenen Eltern, sondern vor allem auch die Autorität der Lehrer zu hinterfragen. So mag ein anstrengungsverweigerndes Verhalten zunächst als eine Rebellion gegen das Bestehende wirken. Vermehrte Diskussionen um das Erledigen von bestimmten Aufgaben gehören per se in diesen Entwicklungsschritt. Damit könnten auch zu diesem Zeitpunkt erste Anzeichen einer Anstrengungsverweigerung übersehen werden. Hinzukommt, dass der Rubikon ein entscheidender Schritt in der Entwicklung der Willenskraft eines Kindes ist. Wird dieser Entwicklungsschritt blockiert, kann sich die Willenskraft  des Kindes nicht entfalten. Wird er positiv unterstützt, wird die Willenskraft eines Kindes gestärkt. Bei einem anstrengungsverweigernden Kind, dessen Willenskraft ohnehin schon geschwächt ist, kann diese in der Phase des Rubikon vollständig zum Erliegen kommen.

Wenn wir uns vergegenwärtigen, wie die Phase der Pubertät langläufig beschrieben wird, ist es kaum verwunderlich, dass diese Zeit zwischen dem 12. und 16. Lebensjahr im Grunde genommen „die größte Krise“ im Leben eines heranreifenden Kindes darstellt, verbunden mit der größten Erschütterung des Selbstbewusstseins und der größten innerlichen Unsicherheit. Der Körper des Kindes baut sich vollständig um. Auf der emotionalen Ebene kommt es zu einer starken Veränderung der Empfindungen. Gefühle erlebt das Kind nun persönlich und innerlich. Wieder ist das Kind in einer schutzlosen Situation wie nach seiner eigentlichen Geburt, wo es die schützende Hülle der Mutter abgelegt hat. Denn wie beim Säugling bräuchte der heranwachsende Jugendliche eigentlich Schutz und Fürsorge, bis die neugeborene Persönlichkeit sich aufrichten und laufen lernen, neu sprechen und denken kann. Zudem quält ihn seine Orientierungslosigkeit, seine mangelnde Urteilsfähigkeit. Er braucht Schutz und Fürsorge, doch hinterfragt er genau die Menschen und Autoritäten, die ihm diese Orientierung und Unterstützung geben könnten. Dass das traumatisierte Kind diese Phase der Pubertät um ein Vielfaches intensiver erlebt, liegt auf der Hand. Die Ohnmacht des Traumas kommt spätestens zu diesem Zeitpunkt wieder in das volle Bewusstsein des Jugendlichen. Denn die alte vom Trauma verursachte Angst, die tief in seinem Inneren verankert ist, kann er nun bewusst spüren. Er glaubt, nur noch um sein Überleben kämpfen zu müssen und verweigert jede weitere Anstrengung.

Mit Nadeschda haben wir den Eintritt in die Schule gut geschafft und intensive Phasen, in denen sie ihre Anstrengungsverweigerung zeigte recht gut bearbeitet. Doch immer wieder lugt unsere alte Freundin hervor, wenn neuer Unterrichtsstoff eingeführt wird. Da werden dann bei den Hausaufgaben alle Register gezogen. Das Einzige was hilft, ist immer wieder durch die Anstrengung mit täglichem Üben zu gehen, bis die Bewältigung der Aufgabe nicht mehr anstrengend ist oder nicht mehr als anstrengend empfunden wird. Maxim ist noch nicht ganz durch den Entwicklungsschritt des Rubikon durch, den er zuweilen in vollen Zügen auslebt. Die Diskussionen sind das eine, doch muss ich bei ihm abwägen, wann es bei ihm eine Vermeidungsstrategie ist, oder eben ein Austesten seines eigene Willens. Das andere ist, dass ihn die emotionalen Veränderungen mit einem Gefühl der Ohnmacht und Hilflosigkeit zurücklassen, in denen er immer wieder die Beziehung zu mir in Frage stellt: „Hält sie mich? Und hält sie mich aus?“ Noch ist er nicht in seiner eigenen Mitte angekommen. Doch auch hier hilft das tägliche Üben, damit  er zumindest den Unterrichtsstoff in der Schule als nicht anstrengend empfindet. Zumindest hier sind wir auf einem guten Weg. – Dennoch es ist ein langer Prozess und immer wieder werden wir mit einem anstrengungsvermeidenden Verhalten konfrontiert werden. Doch mit unserem Rhythmus und der täglichen Übroutine sind wir hoffentlich auf einem Weg, auf dem die emotionalen Amplitudenausschläge der Anstrengungsvermeidung stetig niedriger werden.

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