In diesem Jahr versuche ich es einmal, und bewerbe mich mit „Homeschooling für traumatisierte Kinder?“ für den scoyo ELTERN! Blog Award 2018. Das Thema des Awards „Nachhilfe und Förderung“ war einfach zu verführerisch, nicht daran teilzunehmen, streiften mich doch in der vergangenen Woche zum ersten Mal Gedanken über eine Abschaffung der Schulpflicht….zumindest für meine Kinder…
Homeschooling für traumatisierte Kinder?
Die 36 Schüler der sechsten Klasse einer Waldorfschule erheben sich zum Morgenspruch. Während alle Schüler ordentlich und mit angespannter Körperhaltung vor ihrem Tisch stehen, erhebt sich der 13-jährige Maxim nur mühsam von seinem Stuhl. Gerade ist er erst noch in den Klassenraum gehuscht, wieder einmal zu spät, wie so oft in den letzten Monaten. Sein T-Shirt zeigt Flecken des Mittagessens vom Vortag, seine Schnürsenkel an den Schuhen sind nicht gebunden. Ungelenk stellt Maxim sich hin. Doch seine Schultern hängen herunter, sein langes Haar hängt ihm im Gesicht und sein Mund ist halb geöffnet. Er wirkt müde und unmotiviert. „Ich schaue in die Welt, in der die Sonne leuchtet…“ Wenn die Blicke des Klassenlehrers ihn streifen, senkt er entweder den Kopf oder dreht sich zu seinem Tischnachbarn. Später wird der Klassenlehrer feststellen, dass Maxim wiederholt keine Hausaufgaben gemacht hat. Sein Heft ist leer. Ihm ist bereits aufgefallen, dass Maxim seit langem abwesend im Unterricht ist, ausweicht, oft fehlt. Viel beteiligt hat er sich am Unterricht in den vergangenen sechs Jahren noch nie. Doch Maxim’s Verweigerung hat jetzt eine neue Dimension. Spricht der Lehrer ihn auf seine nicht erbrachte Leistung an, reagiert Maxim aggressiv und gereizt. Er weicht nicht mehr aus, sondern er droht dem Lehrer mit der Faust. Einmal schon hat er seinen Schultisch umgeworfen. Danach musste er von seinen Eltern abgeholt werden.
Das war das „Horrorszenario“, dass sich in meinem Kopf über die zukünftige Schulkarriere meines Sohnes ausmalte, als Maxim vor ein paar Jahren in die Schule kam und ich merkte, dass trotz liebevoller Woldorfpädagogik und fehlendem Leistungsdruck ich eben nicht der Schule allein die Bildung und die Vermittlung von Kulturfähigkeiten überlassen konnte. Mein Sohn zog sich entweder geschickt aus der Affäre im Unterricht – und als kleiner sechs oder siebenjähriger ist das ja noch süß – oder er war vielleicht physisch in der Schule anwesend, aber der Unterrichtsstoff zog nur rauschend an ihm vorbei.
Wie diejenigen, die meinem Blog regelmäßig folgen, wissen, haben wir unsere Kinder vor etlichen Jahren aus Russland adoptiert. Sowohl Maxim als auch seine kleine Schwester Nadeschda sind aufgrund ihrer Lebensgeschichte, bevor sie zu uns kamen, frühtraumatisiert. In der Folge zeigte Maxim deutliche Charakteristika eines Anstrengungsverweigerers und – hätten wir dies nicht rechtzeitig erkannt – würde er wohlmöglich das „Vollbild“ eines Anstrengungsverweigerer wie eingangs beschrieben mit Beginn der Pubertät erfüllen.
Das Phänomen der „Anstrengungsverweigerung“
Bei einer Anstrengungsverweigerung geht es um die stetige Verweigerung einer Anstrengung oder Leistung. Tätigkeiten, die das normale bürgerliche Leben erforderlich

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machen, werden vom anstrengungsverweigernden Kind oder Jugendlichen nicht ausgeführt. Typisch ist, dass das betroffene Kind bereit ist, „einen weit höheren Energieaufwand aufzubringen, um eine bestimmte Tätigkeit zu verweigern, als die eigentliche Aufgabe ihm abverlangt hätte.“, so Bettina Bonus, die dieses Phänomen erstmals im Kontext mit Pflege- und Adoptivkindern ausführlich beschrieben hat.
Am deutlichsten tritt die Anstrengungsverweigerung im Kontext der Schule zu Tage. Das beginnt beim morgendlichen Aufstehen und dem Weg zur Schule. Anstrengungsverweigernde Kinder können dadurch auffallen, dass sie stunden-, tage- oder sogar wochenweise den Schulunterricht schwänzen. Andere sind zwar physisch im Unterricht anwesend, bekommen aber vom Unterricht und seinen Inhalten nichts mit. Sie nehmen nicht am Unterrichtsgeschehen teil, entziehen sich unterschiedlichen Aufgaben und umgehen meist Aufgabenstellungen oder Aufträge des Lehrers. Dies zeigt sich nicht zuletzt in schlechten Beurteilungen, doch vor allem schon in leeren oder schlecht geführten Heften, einem unordentlichen Schulranzen und beschädigten oder unvollständigen Schulmaterialien.
Das Phänomen der Anstrengungsverweigerung oder auch Leistungsverweigerung in der Schule tritt allerdings nicht nur bei Adoptiv- und Pflegekindern auf. Folgt man den Medien, so finden sich immer mehr in deutschen Schulen verhaltensoriginelle Kinder aus schwierigen sozialen Gefügen und traurigen familiären Umständen, die immer öfter Zeichen von Leistungsverweigerung zeigen. Schaut man genauer hin, trifft man in vielen Fällen auf traumatische Erfahrungen im Leben dieser Kinder.
Unser Schulalltag mit einem anstrengungsverweigernden Kind
„Ich trage meine Kinder durch das Abitur.“ hatte ich von Beginn an, als die schulische Ausbildung unserer Kinder in unser Leben trat, gesagt. Mehr denn je stehe ich zu dieser Äußerung und bin überzeugt davon, dies als die wichtigste Aufgabe in meinem Mutterdasein zu sehen. Und dies nicht, weil ich davon träume, dass meine Kinder den Nobelpreis einmal bekommen, sondern allein um sie überlebensfähig zu machen und sie in die Lage zu versetzen, einmal ein eigenständiges Leben zu führen. Um so leichter fällt mir das natürlich, wenn ich eine pädagogische Ausbildung habe, noch dazu eine, in der meine Kinder auch in der Schule erzogen werden. Es ist mehr als förderlich, wenn ich die Unterrichtsinhalte kenne, und hier genauso tief einsteigen kann, um meinen Kindern Zuhause zu helfen, mit ihnen passend mehr zu üben. Denn aufgrund ihrer traumatischen Lebensgeschichte und der daraus resultierenden Anstrengungsverweigerung brauchen meine beiden Kinder mehr Hilfe und Unterstützung als andere. Das Wissen und das Können fliegen ihnen nicht einfach zu. Manchmal steigen sie aufgrund einer schnellen Überforderung im Unterricht aus. Sie dissoziieren, bekommen vom Unterrichtsgeschehen nicht mehr mit. Sie sind in einer anderen Welt, aus der sie erst wieder mit Verlassen des Schulgebäudes auftauchen. Das ist ihre Überlebensstrategie, wenn ihnen alles zu viel wird. Die Lücken, die diese Dissoziationen reißen, muss ich Zuhause füllen. Genauso können sie nicht mit Leistungsdruck umgehen, dann fühlen sie sich bedroht. Können sie sich diesem Druck nicht entziehen, greifen sie an. Nur wenn sie sich einer Sache sicher sind, spüren sie diesen Druck nicht, nur dann gehen sie durch den Schulalltag als ruhige zufriedene Kinder. Auch deshalb müssen wir Zuhause viel arbeiten, damit sich meine Kinder ihrer Sache sicher sind.
In den vergangenen vier Jahren sind wir durch viele Höhen und Tiefen gegangen. Denn das tägliche Üben, das zwischen einer und drei Stunden oder mehr dauern kann, ist jedem Tag von neuem eine Herausforderung. Auch wenn die Anstrengungsverweigerung uns manchmal schon wie eine alte Freundin vorkommt. Manchmal läuft alles gut, dann kommen wir gut durch unseren Stoff. Es wird fleißig gerechnet, inzwischen schöne Aufsätze geschrieben oder ordentlich gelesen. An anderen Tagen passiert irgendetwas – Maxim meint, dass er etwas nicht kann – und die Wut sucht uns heim. Manchmal hat sie uns dann für Stunden im Griff. Erst wird Papier zerknüllt, Stifte fliegen durchs Zimmer oder sie kritzeln mit voller Wucht über das Papier Mein Sohn brüllt herum, schreit, schlägt um sich, manchmal wirft er seinen Stuhl um. Am Ende verfällt er meist einfach nur noch in ein verzweifeltes Weinen, aus dem er sich erst nach über einer Stunde wieder beruhigt. Erst dann können wir weiter arbeiten. Vielleicht….
Sklavische Routine und tägliches „Arbeiten“ zahlt sich aus

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Mit der Zeit sind diese Szenarien zum Glück deutlich weniger geworden. Die Intervalle zwischen den wütenden und verzweifelten Zusammenbrüchen werden immer größer. Nur gelegentlich, vor allem in Phasen, in denen ein neuer Unterrichtsstoff eingeführt wird, kann es zu überraschenden Leistungseinbrüchen und damit einem Wiederaufladen der Anstrengungsverweigerung Zuhause kommen. In diesen Ferien haben wir – auch wenn ich komisch angeschaut werde, dass wir auch in den Ferien jeden Tag arbeiten – große Fortschritte gemacht. Kein zerrissenes Papier, keine Gegenstände flogen durch das Zimmer, alle Möbel bleiben stehen, und die Lautstärke blieb auch auf einem normal erträglichen Niveau. Das Geheimnis ist nicht nur die sklavische Kontinuität des täglichen Üben und Arbeitens, sondern all dies ist eingebettet in einen feste Struktur und Routine, die meine beiden Kinder so sehr brauchen. Denn nur das gibt ihnen Sicherheit. Und wenn sie sich sicher fühlen, dann haben sie innerlich Kapazitäten frei, um Lesen zu lernen, Schreiben zu üben, schön zu formulieren, sich zu erinnern, was wir am Vortag gemacht haben, und dies in einem schönen Text zu Papier zu bringen; dann können sie sich konzentrieren, um im Kopf das 1 x 1 vielleicht auch durcheinander zu rechnen. All das hat auch dazu geführt, dass mein Sohn inzwischen den eigenen inneren Wissensdurst spürt, und sich nun zum ersten Mal selbstständig Dinge erarbeitet. So sitzt er manchmal stundenlang über seinen Büchern zu Kristallen und Mineralien, liest, schreibt auf und katalogisiert seine eigenen Kristalle. Für meine Tochter könnte ich ähnliche wunderbare Entwicklungsfortschritte anbringen.
Homeschooling für traumatisierte Kinder?
Das tägliche Arbeiten für die Schule ist anstrengend. Für meine Kinder und für mich. Vor allem in der Schulzeit, wo eh das Pensum der Hausaufgaben nicht immer gering ist, wo oft Zeitdruck entsteht, da es ja noch andere Hobbys und Freizeitaktivitäten gibt, ich einen Job habe und meine Kinder vielleicht auch noch ab und zu ihre Freunde treffen möchten. Schule ist ohnehin grundsätzlich belastend. Nicht nur der Unterricht, sondern auch das Ganze drum und dran in diesem riesigen sozialen Gefüge einer Klasse. Gerade für meine Kinder sind die Stunden in der Schule extrem anstrengend, aufreibend und Kräfte zehrend. Streit, Ungerechtigkeiten, ein lauter Ton der Lehrerin, Abweichungen von der täglichen Schulroutine, weil ein Lehrer krank ist, nehmen meine Kinder ganz anders auf. Das nimmt sie mehr mit, damit können sie schlecht umgehen, damit sind sie überfordert.
Wenn ich mir die Entwicklung meiner Kinder in den vergangenen Jahren ansehe – und vor allem jetzt noch einmal mit der frischen Entwicklung in den Ferien, wo wir uns sechs Wochen lang in einem stressfreien Raum bewegt haben -, dann begeistern mich die riesigen Fortschritte und der inzwischen (meistens) entspannte Umgang mit dem Arbeiten, Lernen und Üben. Das geht so viel leichter, wenn wir nicht täglich in die Schule gehen. – Und man darf bei unseren Kindern nicht vergessen, dass wir uns in der vermeintlich heimeligen Waldorfwelt ohne all den Notendruck und Leistungsdruck bewegen. Ich mag mir gar nicht ausmalen, wie es wäre, wenn wir an einer Regelschule wären. – Manchmal habe ich schon in den vergangenen Tagen gedacht, ob es nicht viel besser wäre, wenn ich meine Kinder Zuhause selbst unterrichten würde. Es mag vermessen klingen, aber dass sich die Kulturfähigkeiten wie Rechnen, Schreiben und Lesen bei meinen Kindern in den vergangenen Jahren verfestigt haben, ist maßgeblich auf unsere Arbeit Zuhause zurückzuführen.
Natürlich bin ich mir dessen bewusst, dass wir zum einen in der privilegierten Lage sind, dass ich die Zeit und auch mittlerweile die pädagogische Ausbildung habe, um dies zu tun. Ich weiß, dass dies in vielen Familien nicht gegeben ist. Deshalb denke ich auch nicht über eine grundsätzliche Abschaffung der Schulpflicht nach. Zu vielen Kindern wäre dann der Zugang zu Bildung grundsätzlich versagt. Und nicht alle Familien schaffen es, ihren Kindern Zuhause ein lernendes Umfeld zu bieten. Zum anderen bin ich mir bewusst, dass Kinder im schulischen Umfeld auch noch so viel anderes lernen, über das Schreiben, Lesen, Rechnen hinaus. Soziale Kompetenzen, gesellschaftliche Regeln, Zusammenarbeiten in der Gruppe, Rituale, etc. Das kann ich meinen Kindern hier Zuhause nur in einem gewissen Rahmen bieten. Insofern bin ich mir der Grenzen des „Homeschooling“ durchaus bewusst. Wenn ich mir allerdings vergegenwärtige, welche Belastung der schulische Kontext nach wie vor für meine Kinder ist, und ich auf der anderen Seite weiß, dass ein umhüllendes, fürsorgliches und friedliches Umfeld so wichtig für die Heilung und das Heranwachsen meiner traumatisierten Kinder ist, dann mag das Modell eines Unterrichts Zuhause in meiner Wunschvorstellung doch überwiegen. Zumindest für die ersten vier bis sechs Schuljahre.
Am Ende weiß ich, es wird ein Wunsch bleiben und wir werden weiter unseren Weg in der Realität der Schule finden. Aber wünschen kann man sich ja mal was….