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Viel beschäftige ich mich gerade einmal wieder mit den Folgen von Frühtraumatisierungen und welchen Einfluss diese auf das Lernverhalten von Kindern haben. Mir schwirren wieder die Situationen mit meinen Kindern auch den Kopf: Nadeschda versucht augenscheinlich, von den Übungsaufgaben abzulenken, in dem sie mir von 38 Begebenheiten in der Schule erzählt, die gerade ja so viel wichtiger sind. Im Rechenförderunterricht verwickelt sie die Lehrerin in ein Gespräch und dabei geht erfolgreich unter, dass sie ja eigentlich die Stufen im Treppenhaus zählen soll. Beim Zahlen zerlegen wickelt mich Nadeschda erfolgreich um den Finger, in dem sie anstatt die Zahlen zu überschlagen, auf Englisch zählt. Maxim starrt beim Üben Löcher in die Luft, oder spielt lieber mit seinen Stiften. Seine Buntstifte sind immer aussergewöhnlich gut gespitzt, Beim Trompete üben gibt er gerne seinem Vater „Privatkonzerte“. Klar, dann fällt nicht unmittelbar auf, dass er die Stücke, die er eigentlich üben soll, gar nicht gespielt hat. Genauso gehen mir meine eigenen Ausrufe und die anderer befreundeter Adoptivmütter auch den Kopf, wenn es einmal wieder schwierige und vielleicht sogar eskalierte Hausaufgabensituationen gab: „Da hat er (oder sie) einmal wieder erfolgreich die Köpfchen bei mir gedrückt.“
Das alles suggeriert Absicht und bewusste Manipulation. Klar, aus einer seelischen Not heraus geboren. Dass es aber weder das eine noch das andere ist, wurde mir erst wieder bewusst, als ich einen der letzten Blogbeiträge von Mike Berry von confessionsofanadoptiveparent las. In „Her behavior isn’t manipulation, it’s survival!“ schildert er sehr eindrucksvoll und plakativ, warum ein wie auch immer geartetes anstrengungsvermeidendes Verhalten eben gar keine geplante und beabsichtigte Manipulation oder Ablenkung sein kann.
Sehr vereinfacht dargestellt (und mit Sicherheit wissenschaftlich betrachtet nicht ganz korrekt), passiert etwa das Folgende: Das Großhirn ist verantwortlich für das rationale Denken – und damit Handeln, das Verarbeiten von Informationen und Wissen, das logische Denken, vorausschauende Planung und Struktur. Das Limbische System ist verkürzt gesagt das emotionale Zentrum des Gehirns. Hier spielen sich auch die schützende Prozesse von Flucht oder Kampf ab. In der Amygdala sind alle vitalen Funktionen und damit der natürliche Selbsterhaltungstrieb des Menschen angesiedelt. Sie verarbeitete externe Impulse und leitet daraus die vegetativen Reaktionen ab. In der Regel ist das Großhirn der dominierende Teil, der das limbische System und die Amygdala kontrolliert und steuert. Fühlt sich ein traumatisiertes Kind allerdings bedroht und lebt ohnehin aufgrund der traumatischen Erfahrungen in einem dauerhaften Zustand von Stress und Erregung, dann kontrolliert nicht mehr das Großhirn seine internen Prozesse und reguliert seine Gefühle und Reaktionen. Es ist ausgeschaltet, und allein das limbische System und die Amygdala übernehmen. Das Verhalten, was dann ein traumarisiertes Kind zeigt, ist allein von Emotionen gesteuert und der archaische von jeder Hemmung befreite Kampf ums Überleben ist aktiviert.
Insofern kann es gar keine Absicht oder geplante Manipulation sein, oder ein Verhalten, was gezielt und „strategisch“ darauf abzielt, einer Situation aus dem Wege zu gehen, oder eine Anstrengung in welcher Form auch immer zu vermeiden. Das wären ja Vorgänge im Großhirn. Doch dies hat in Stresssituation vor dem Einfluss von limbischem System und Amygdala kapituliert. Jegliches rationale und abwägende Denken ist in diesen Momenten ausgeschaltet. Allein der Kampf ums Überleben steht im Vordergrund. Und dafür ist – verständlicherweise – jedes Mittel recht.
ich denke, es funktioniert nicht nur so. also- es kann in etwa von dir beschriebenes prozess in bestimmten situationen stattfinden. es können aber auch sehr wohl durchgedachte oder geplante manipulationen sein. der grund ist dann oft eine bindunsstörung oder eine art störung des emotionales empfindes/verhaltens mit einbeziehung des denkens in die folgende handlungen.
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Liebe Charlotte!
Ich finde, du bringst mit diesem Artikel sehr klar zum Ausdruck, welche seelische Not hinter dem ausweichenden, anstrengungsvermeidenden Verhalten traumatisierten Kinder steht.
Trotzdem frage ich mich, ob Anstrengungsvermeidung bei ALLEN Kindern (auch bei traumatisierten) nicht auch in manchen Situationen tatsächlich eine GESUNDE Reaktion auf wirkliche momentane Überlastung sein kann? Vermutlich ist es ein sehr schmaler Grat, zu erkennen: wo wollen meine Kinder nicht weiter, weil sie wirklich nicht mehr können – und wo will etwas in ihnen (aus Angst vor einer empfundenen, aber nicht (mehr) realen Bedrohung) nicht weiter und sie brauchen tatsächlich die Begleitung durch ihre Angst und den daraus resultierenden Widerstand hindurch.
Ich finde deine Artikel sehr interessant und gedankenanregend, auch für das Zusammenleben mit meinem Sohn!
Lieben Gruß, Sarah/„Sunnybee“
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Liebe Sarah,
ich glaube in Deiner sehr nachvollziehbaren Sichtweise ist der Unterschied in der akuten Situation egal. Denn egal, ob das Kind in einer Übererregung ist, weil es in der permanent ist aufgrund seiner Traumatisierung, oder ob es das gerade ist, weil es sich überfordert fühlt und nicht mehr kann, löst die gleichen Reaktionen im Gehirn aus. In erstem Fall dauerhaft und schneller, im zweiten Fall hin und wieder und vielleicht etwas langsamer. (das weiß ich nicht, würde aber vermuten, wenn ein Kind „over the edge“ ist, dann geht das auch schnell….) Für mich war nur wichtig, den Punkt zu machen, dass hinter dem Verhalten, was dann ausgelöst wird, keine geplante Absicht oder bewusste Manipulation steht, was häufiger die Denkweise bei (Adoptiv-) Kindern mit diesen Reaktionsmustern ist. Und das ist es eben nicht…
Liebe Grüße
Charlotte
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