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#bestofElternblogs April 2019

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Die liebe Anja von der Kellerbande hat einmal wieder zu ihrer beliebten Blogparade #bestofElternblogs April 2019 aufgerufen. Da mache ich doch gerne endlich einmal wieder mit. Vielleicht auch mit dem Wunsch, in diesem nun neu beginnenden Monat ein paar Beiträge mehr wieder zu veröffentlichen. – Die Zahl der begonnenen, aber bisher unvollendeten Beiträge wächst stetig auf meinem Rechner…

Wieder einmal erleuchtend und interessant war der Blick in die Zahlen. Denn diesmal war es mein Beitrag aus der vergangenen Woche zu „Du bist nicht meine echte Mutter!“, der mit relativ großem Abstand zu den anderen Beiträgen diesmal die meisten Klicks verzeichnete. Hier schildere ich von der Begebenheit, an der mein Sohn mir zum ersten Mal wütend an den Kopf warf: „Du bist nicht meine echte Mutter!“ und wie wir beide einen guten Weg aus diesem Wutanfall fanden. Aber lest selbst hier

Habt lieben Dank für’s Lesen, Liken und Kommentieren!

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„Du bist nicht meine echte Mutter!“

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Da war er dann da der Tag, vor dem sich so viele Adoptivmütter vielleicht fürchten. Vor Jahren wurden sie vielleicht im Zuge des Adoptionsprozesses darauf vorbereitet. Doch dann liefen die Jahre nach der Ankunft des Kindes so dahin, man wuchs zu einer Familie zusammen. Ja, die Adoption war natürlich immer wieder ein Thema, auch die Tatsache, dass das Kind zwei Mütter hat, manche würden von einer Herzmama und einer Bauchmama sprechen – ich persönlich finde diese Begrifflichkeit immer noch unglücklich, habe aber bis zum heutigen Tag keine andere oder bessere Begrifflichkeit gefunden. Wir umgehen sie, in dem wir von der Mama in Russland sprechen, die unseren Kindern das Leben geschenkt hat, sie manchmal bei ihrem Vornamen nennen, und von mir, als der deutschen Mama, der Mama, die nun für Maxim und Nadeschda sorgt und sie durch das Leben begleitet. Doch alles geht so seinen Gang, Herkunft und Wurzeln sind wichtig, mal mehr mal weniger. Vielmehr überlagern immer wieder andere Themen unseren Alltag. Und dann ist er da, der Tag, an dem mein Sohn wutschnaubend vor mir steht und mir mit tiefster Inbrunst ins Gesicht brüllt: „Du hast mir gar nichts zu sagen. Du bist NICHT MEINE ECHTE MUTTER!!!!!“

Ich schlucke erst einmal und halte die Worte zurück, die ich darauf vielleicht genauso impulsiv wie mein Sohn hätte antworten wollen. Ich gucke ihn ein paar Momente an und verlasse das Zimmer. Innerlich gehe ich die Treppe herunter, von der so viele Traumtherapeuten sprechen, zähle nicht bis zehn, sondern bis zwanzig und dann auch noch einmal rückwärts. Ich konzentriere mich nur auf meinen Atem. Und dann kommt mir plötzlich in den Sinn, dass ich nun die Chance habe, mich endlich einmal wirklich so zu verhalten, wie es diese unzähligen Ratgeber einem immer sagen, man es aber ganz ehrlich im Eifer des Gefechts dann doch nicht immer hinbekommt. Ich gehe zurück zu meinem Sohn, bleibe ganz ruhig, bringe ihm sein Wasser und seinen Snack, um den es vor dem Streit und seinem Wutausbruch ging und erwähne seinen wütenden Ausruf mit keiner Silbe. Verdutzt schaut er mich an, denn es ist wahrscheinlich wirklich das erste Mal, dass ich auf seinen Wutausbruch gar nicht eingehe. Ich spiele das Spiel nicht mit, ich tanze den Tanz nicht mit. Denn er würde uns beide nur verlieren lassen. 

Erst am Abend in einem ruhigen Moment greife ich das Thema der echten Mutter wieder auf. Ruhig erkläre ich Maxim, dass er eben zwei Mütter hat, das ist etwas besonderes in dem Sinne, dass er damit anders ist als die meisten Kinder in seiner Klasse. Aber ich könnte sehr gut verstehen, dass ihn das wie so vieles andere auch manchmal unendlich wütend und traurig macht. Seine russische Mutter habe ihm das Leben geschenkt – wofür wir ihr sehr dankbar sind – und ist insofern seine echte Mutter, ich bin die Mutter, die ihn ins Leben begleitet und immer für ihn da ist So bin ich auch seine echte Mutter. Es gäbe eben kein echt und unecht oder kein richtig und falsch. Wir beide wären seine Mütter, aber mit unterschiedlichen Aufgaben. Wie so oft hörte mein Sohn mir nur stumm zu, doch ich merkte, dass es in ihm anfing zu arbeiten….

Ganz ehrlich, das ist kein schönes Gefühl, wenn das eigene Kind sich vor einem aufbaut und aus tiefster Überzeugung mit unendlich viel Wut in der Stimme brüllt „Du bist nicht meine echte Mutter.“ Wenn „ECHT“ gebären und ins Leben bringen heißt, worauf sich das Mutterverständnis meist reduziert, dann wäre es tatsächlich so, dass ich nicht Maxim’s echte Mutter bin, auch wenn ich mir bis heute so sehr wünschte, es gewesen zu sein, um ihm all dieses Leid, dass ihn bis heute in mancherlei Hinsicht noch prägt, erspart haben zu können. Doch das Schicksal wollte es anders. Und es schmerzt, mit all den anderen Mutterqualitäten, mit denen ich meinen Sohn versuche ins Leben zu begleiten, ihm nur so schwer und so langsam diesen Schmerz, Wut und Trauer zu nehmen. Es kommt mir ein wenig vor, als könnte all das, all diese Liebe und Fürsorge nicht oder manchmal nur kaum dieses eine aufwiegen. Das nagt in mir. Immer noch und immer wieder.

Aber auf der anderen Seite war ich sehr stolz auf mich, mit meinem Sohn eine neue Erfahrung für mich gemacht zu haben, eben nicht auf seinen Beziehungskampf einzusteigen, nicht mit ihm zu tanzen, sondern ganz ruhig zu bleiben und an einer ganz anderen Stelle und zu einem ganz anderen Zeitpunkt das Thema mit ihm zu klären. Sein überraschtes Gesicht sprach Bände: „Da reagiert doch die Mama nicht so, wie ich es von ihr gewohnt bin…“ Es scheint, als wären wir erneut ein Stück weiter gerückt in der Entwicklung unserer Beziehung. 

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Von der Wut und der Angst, die dahinter steckt… – neue Sichtweisen auf die Folgen von Traumatisierung

adult and child hands holding red heart, health care love and family concept

Mit freundlicher Unterstützung von Fotolia

Von einem Buch, von dem ich wünschte, ich hätte es schon vor Jahren gelesen..

Viel habe ich in den vergangenen Wochen wieder über Traumatisierung und ihre Folgen bzw. Auswirkungen auf die Kinder und ihr Lernverhalten in der Schule gelesen. Begeistert erzählte ich am Wochenende einer Freundin davon, denn uns beide vereinen die Sorgen um die schulische Entwicklung unserer Kinder und der tägliche Kampf gegen die eigenen uns manchmal übermannenden Ängste und das tägliche Ringen mit unseren Kindern, zuhause das nachzuholen, was sie in der Schule aufgrund ihres nach wie vor traumatisierten Zustandes nicht mitbekommen, geschweige denn verinnerlicht haben. Häufig endet gerade dieses Ringen in Wutanfällen, häufig stellt das tägliche Lernen und Üben für die Schule einen extremen Kraftakt dar. – Bei uns inzwischen zwar immer weniger, aber die Momente, in denen die Stimmung kippt, und der Machtkampf droht, gibt es immer noch. Ich hatte gelernt, dass das so ist, in einem Leben mit einem anstrengungsverweigernden Kind. Genauso wie ich weiß, wo die Ursachen der Anstrengungsverweigerung liegen.

Doch es gibt zwei Bücher, die ich in den vergangenen Wochen gelesen habe, die noch einmal meine Sicht auf die Dinge verändert haben. Ja, da ist sehr viel Wut in meinen Kindern. Unbewusste, nicht benennbare Wut. Wut, die mit der Trauer um den Verlust oder das Verlassen werden durch ihre russische Mutter zu tun haben. Trauer um den Verlust einer behüteten frühen Kindheit, die meine beiden Kinder nie gehabt haben. Eine Wut, die die wunderbare Sherrie Eldridge erst in der vergangenen Woche wieder einmal so treffend beschrieben hat. Dennoch es gibt auch eine etwas andere Sicht auf die Dinge, die mir noch einmal die Augen geöffnet hat. Und mir hat so vieles noch einmal klar werden lassen. Zunächst las ich von Heather Forbes „Help for Billy“. Hier schildert die amerikanische Autorin, die selbst zwei Kinder aus Russland adoptiert hat, warum traumatisierte Kinder so schwer in der Schule lernen können, und wie Lehrer mit diesen Kindern umgehen sollten. Primär ist es eine praktische Anleitung für Lehrer. Aber grundsätzlich macht Heather Forbes sehr deutlich, warum gängige Unterrichtspraktiken bei traumatisierten Kindern nicht greifen. Vieles war mir schon bewusst oder ich hatte es anderer Stelle gelesen, doch die Klarheit und Deutlichkeit, mit der sie das formuliert, war mir neu. Spannend war für mich vor allem ihr Ansatz, dass alles, was das traumatisierte Kind tut – gemeint ist vor allem jedes auffällige Fehlverhalten -, aus einer tiefen schmerzhaften Angst passiert, aus der Angst, nicht überleben zu können. So ähnlich, wie ich es schon in meinen Post „Mehr als Manipulation, es geht um’s Überleben…“ angedeutet hatte. Doch in dieser Deutlichkeit, dass sich hinter Verweigerung, Aggression, Wut, Lügen, Stehlen, Trotz, etc. immer nur die Angst steht, hatte ich bisher in dieser Klarheit nicht gelesen.

Das wurde mir erst bewusst und hat in mir selbst noch einmal ein Umdenken in Bewegung gesetzt, als ich Heather Forbes‚ 2. Buch bzw. eigentlich erstes Buch „Beyond Consequences, Logic, and Control“ gelesen haben, in dem sie sich ausschließlich an die Eltern traumatisierter Kinder richtet. Gemeinsam mit ihrem Co-Autor entwickelt sie ein Stress-Modell, aus dem hervorgeht, dass jegliches auffälliges Verhalten eines traumatisierten Kindes auf Angst zurückzuführen ist. Entlang dieses Modells führt sie im folgenden in ihrem Buch aus, warum Verhaltensweise, wie Aggression und Trotz, aber auch Stehlen, Lügen, Horten von Essen und fehlender Blickkontakt immer auf eine tiefe darunterliegende Angst, wieder verlassen zu werden, wieder Hunger zu erleiden, wieder nicht geliebt zu werden zurückzuführen sind. Für die annehmenden Eltern gilt es, nicht in den bisher propagierten Erziehungswegen diesen Kindern diese Verhaltensweisen „abzutrainieren“, sondern die Angst dahinter zu sehen und das Kind mit dieser Angst in bedingungsloser Liebe anzunehmen und zunächst alles daran zusetzen, dem Kind diese Angst in der Situation zu nehmen.

Besonders bewegend ist ihr dem vorangestelltes Kapitel, in dem sie aufzeigt, dass traumatisierte Kinder auch die eigenen Traumata der Eltern berühren und wieder wachrufen. Und sie deshalb die berühmten Köpfchen drücken. Aber auch hier wieder, sie tun dies nicht manipulativ, sondern es wird beim Lesen deutlich, dass das eigenen Trauma etwas ist, das wir Eltern vielleicht in uns tragen. Unsere Kinder reagieren nur darauf bzw. unser eigenes Trauma lässt uns vielmehr so – eben nicht immer adäquat und in der Emotionalität viel zu stark – auf das Verhalten unseres Kindes reagieren. Ich wusste, was gemeint war, als ich mich an meines eigene Wut erinnerte, die ich immer gespürt habe, wenn ich das Gefühl hatte, ich würde auf Maxim einreden, wie auf einen kranken Gaul, er aber gar nicht reagierte. Nicht reagieren, mich ignorieren, war das schlimmste was mir passieren konnte. Denn dieses Nicht gesehen werden, war mein eigenes Kindheitstrauma. Erst mit dem Tod meines Vaters vor ein paar Jahren und mit dem inneren Abschließen mit dem Verhältnis zu meiner Mutter schwand diese alte Wut. Und ich lernte mit Maxim’s Ignorieren anders umzugehen.

Am Wochenende habe ich zu meiner Freundin gesagt: „Vergiss alle andere Adoptionsliteratur, vergiss alle Bücher über Bindungstheorien bei traumatisierten Adoptivkindern. Lies dieses eine Buch. Ich habe beim Lesen gedacht, warum habe ich es nicht schon vor acht Jahren gelesen. Es hätte mir viel Leid und Kampf erspart.“

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Ankunftstag – ein magisches Datum für Adoptivkinder?

happy family with two kids walking at sunset

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In seiner neuen Serie „Tea with Teens“ philosophieren Mike Berry’s Töchter mit ein paar Freundinnen über die Frage: „Do you like celebrating Adoption Day?“ Die Haltung und die Gedanken der vier Mädchen geben noch einmal einen interessanten Einblick, wie Adoptivkinder im Teenager-Alter mit ihrer Adoption umgehen. Mich hat der kurze Film noch einmal zum Nachdenken gebracht. Denn ein Satz ist mir beeindruckend hängen geblieben. Da sagt die eine Tochter sinngemäß: „Warum sollen wir den Tag der Adoption immer wieder feiern. Ja, Geburtstage wiederholen sich jedes Jahr. Aber die Adoption ist doch nur einmal und dann war es das.“

Auf der einen Seite musste ich wieder einmal an Sherrie Eldridge denken. Ihr Buch „Twenty Things Adopted Kids Wish Their Adoptive Parents Knew“ hatte ich bereits gelesen, bevor Maxim und Nadeschda zu uns kamen. Ein entscheidendes Thema ist dort auch der Umgang mit dem Adoptionstag – oder wie die Amerikaner es nennen „Gottcha Day“. Mag es für uns Adoptiveltern ein freudiges Ereignis sein; endlich wird der lageersehnte Traum war und unser Kind kommt endlich nach Hause zu uns und wir können es nun endlich und für immer in unsere Arme schließen. Ja, vielleicht ein Grund zu feiern und sich jedes Jahr von neuem daran zu erinnern. Aber für Adoptivkinder ist dieser Tag ein trauriges Erlebnis. Mehr noch, im Grunde ist es für sie der traurigste Tag in ihrem Leben. Sie haben alles verloren, was ihnen vertraut war. Sie sind in eine neue, fremde Umgebung mit fremden und unbekannten Personen platziert worden. Sie haben Angst vor dem Unbekannten und Ungewissen. Warum soll dies ein freudiges Ereignis sein? 

In diesem Bewusstsein haben wir bis heute nie den Adoptionstag oder den Abholtag oder den Ankunftstag von Maxim und Nadeschda gefeiert. Aus all diesen besonderen Daten für uns als Familie erinnern wir uns leise und still, in vertrauter Runde immer an den Tag, an dem wir vor inzwischen so vielen Jahren Maxim und Nadeschda zum ersten Mal begegnet sind. Dies ist der Tag, an dem wir als Familie alleine etwas besonderes unternehmen, uns die alten Bilder aus dem Kinderheim anschauen und erzählen, wie das alles damals so war. Aber wir feiern kein großes Fest, es gibt keinen Kuchen und kein Feuerwerk. Vielmehr ist es ein stilles Innehalten in Dankbarkeit und Demut. Denn ja, der Abholtag und der Ankunftstag in Deutschland waren auch für unsere Kinder keine schönen Ereignisse. Wenn ich zurückdenke, erinnere ich mich an die Angst, die Maxim hatte, und an Nadeschda’s leises Weinen in der ersten Nacht in Moskau im Hotel.

Doch wieder einmal zeigt sich bei uns, dass unsere Kinder mit der Zeit ihren ganz eigenen Umgang mit ihrem Adoptionstag finden: Maxim’s sehnlichster Wunsch war es, einen Familienring zu haben, so wie Richard und ich einen Ehering tragen. Den bekam er. An der Innenseite sind seine Initialen bei Geburt mit seinem Geburtsdatum eingraviert, ebenso wie seine Initialen, die er mit der Adoption bekam. Spannend war die Diskussion mit ihm, welches Datum wir zu den „neuen“ Initialen dazu gravieren lassen. Mein Sohn hatte da eine klare Haltung: „Mama, der Tag, an dem ich zu Euch gekommen bin.“

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Wie viel Berufstätigkeit vertragen (meine) Adoptivkinder?

silhouette of happy mother and kids at sunset

Mit freundlicher Unterstützung von Fotolia

An der ein oder anderen Stelle hatte ich in den vergangenen Jahren, die es meinen Blog mittlerweile gibt, über das Thema der Berufstätigkeit als Adoptivmutter geschrieben. Im Grunde ist das Thema der Berufstätigkeit ein Dauerbrenner für mich, auch wenn ich mich immer mehr in mein „Schicksal“ als maximal teilzeitarbeitende Frau gefügt habe. Denn irgendwann werden meine Kinder größer und brauchen mich vielleicht nicht mehr so sehr. Doch dann wäre ich für den Arbeitsmarkt unbrauchbar. Bereits ein paar denkwürdige Kontakte mit der Arbeitsvermittlung im vergangenen Jahr bestätigten mir dieses Gefühl. Und auch wenn mein Mann uns gut versorgt und wir in der luxuriösen Situation sind, dass ich nicht zwingend arbeiten muss, so gibt es doch niemals eine absolute Garantie, dass das alles auch so bleibt. Inspiriert von ein paar Nachfragen von einzelnen Leserinnen und unserer aktuellen Situation, dass ich nun nach den Ferien konstant in Teilzeit arbeite – mal sehen wie lange das gut geht – greife ich das Thema der Berufstätigkeit wieder auf. Zumal mich genauso erneut die Frage nach der Wertschätzung von Fürsorgearbeit in unserer Gesellschaft, wie Claire von mamastreikt sie immer wieder zurecht aufwirft, umtreibt. Aber dazu an anderer Stelle in den kommenden Tagen mehr.

Meine Kinder brauchen eine „Übermutter“

Doch wie viel Berufstätigkeit vertragen Maxim und Nadeschda? Die Lebensgeschichte meiner Kinder begann mit dem schlimmsten, was man sich im Leben eines kleinen Menschen vorstellen kann, wie gerade erst Irmela Wiemann in einem Interview in der Aargauer Zeitung sagte: Sie wurden von ihrer leibliche Mutter getrennt. Wie so viele Adoptivkinder mussten sie in ihren ersten Lebensjahren Dinge erleben, die kaum ein Erwachsener verkraften könnte. Ihr Urvertrauen wurde zerstört, und also Folge sie lassen sich schwer auf neue Bindungen ein, sie fühlen sich selten sicher und behütet. Ihre Frustrationstoleranz ist niedrig, das Lernen fällt ihnen schwer. Sie können Risiken nicht richtig einschätzen, übernehmen sich entweder, oder trauen sich vor lauter Angst gar nichts zu. Ihnen fehlt die entscheidende innere Basis an Vertrauen und Sicherheit, die leiblich und behütet geborene Kinder von Natur aus haben.

Meine Kinder brauchen eine „Übermutter“. Dies nicht nur im Sinne von zusätzlicher Förderung, um etwaige Entwicklungsverzögerungen, Sprachstörungen oder andere gesundheitliche Beeinträchtigungen zu überwinden. – Sie brauchen ein Vielfaches an Zuneigung, Nähe, Fürsorge, Kümmern, Begleiten. Nur wenn ich da bin, spüren sie den Halt und die Sicherheit, um sich gesund zu entwickeln. In den ersten Jahren war es ein Nachnähren vom Baby- und Kleinkind sein, von dem man ausgehen könnte, dass es irgendwann einmal abgeschlossen ist. Aber Kinder mit frühtraumatisierenden Erfahrungen, wie die Trennung von der leiblichen Mutter, fallen immer wieder in solche frühen Entwicklungsphasen zurück. Sie sind ein „Fass ohne Boden“, sie saugen die Zuneigung und das kleinkindliche Umsorgen auf wie ein trockener Schwamm. Ich war mir bei der Adoption der Folgen der Traumatisierung bewusst. Doch glaubte ich noch, dass meine Kinder nur im ersten Jahr therapeutische Unterstützung brauchen, um ihre Entwicklungsdefizite aufzuholen, und in den ersten Monaten meine permanente Fürsorge und Anwesenheit, um eine stabile Bindung aufzubauen. Aber nach beinahe einem Jahrzehnt muss ich feststellen: Das reicht nicht aus. Meine Kinder brauchen viel mehr. Noch heute benötigen sie immer einmal wieder therapeutische Hilfe in unterschiedlicher Form. Noch heute muss ich als ihre Mutter permanent verfügbar sein. Und immer da sein. Bin ich es nicht, verlieren meine Kinder ihren Halt und stellen unsere Bindung von neuem in Frage. – Erst in dieser Woche fanden meine Kinder mich nicht, als ich sie von der Schule mittags abholte. (Sie hatten mich beim Essen schon gesehen und wussten also, dass ich da bin.) Ich war an einer anderen Stelle in der Mensa mit einer Lehrerin im Gespräch. Die Panik stand Maxim und Nadeschda noch ins Gesicht geschrieben, als sie mich fanden. Und aus ihrer Wut „Mama, kannst Du verdammt nochmal Bescheid sagen, wenn Du weggehst!“ sprach die pure Angst, allein gelassen zu werden. –

Unser Alltag ist nach wie vor wenig geprägt von freiem sorglosem Spiel, sondern dominiert von vielen Therapieterminen, Arztbesuchen, Aktivitäten, die die Kinder in den Bereichen fördern, wo sie noch Unterstützung brauchen, lernen für die Schule, üben für die Logopädin, etc. Wir müssen einem sklavischen Tagesablauf folgen, der immer den gleichen Rhythmus und die gleiche Struktur hat. Nur das gibt den Kindern Sicherheit. Zudem reicht der routinierte Tagesablauf nicht aus, sondern Maxim und Nadeschda  brauchen mich, ihre Mutter, als stabilen Anker in ihrem Alltag. Diese Fürsorgearbeit für meine Kinder abzugeben, ist keine Option.

Permanente Fürsorge

So fahre ich meine Kinder in die Schule und zu ihren Freizeitaktivitäten und begleite sie bis zum Unterricht, nicht weil ich glaube, dass sie es selbst nicht könnten, oder weil ich fürchte, dass ihnen etwas im Straßenverkehr passiert. Nein, meine Tochter braucht mein Umsorgen als ihre Mutter, damit sie die Kraft für den Musikschulunterricht hat, dass sie weiss, dass ich da bin. Immer. Genauso lässt mein Sohn sich nach wie vor mit inzwischen zehn Jahren morgens beim Anziehen helfen, seinen Schulranzen packen, das Brot beim Essen schmieren. Nicht weil er es nicht selbst könnte, sondern weil er diese Form der Fürsorge nach wie vor braucht.

Wenn ich sage, dass ich meine Kinder zum Abitur trage, dann nicht, weil ich die Hoffnung hege, dass aus ihnen Starwissenschaftler oder Top-Manager werden. Nein. Es geht darum, sie solange wie möglich in einem behüteten und steuerbaren Lernumfeld zu belassen, bis sie auf eigenen Füßen stehen können. Viele Adoptions-Experten gehen davon aus, dass frühtraumatisierte Kinder erst mit Anfang zwanzig gelernt haben, mit ihrem Trauma zu leben und die Ausprägungen dessen selbst kontrollieren können. Erst dann sind sie vollends fähig, ein normales bürgerliches Leben zu leben. Es geht also darum, ihnen solange wie möglich einen Raum für innere Heilung zu geben.

Permanente Schulbegleitung

Eine Ausprägung der Traumatisierung ist sowohl bei Nadeschda als auch bei Maxim, dass die Schule ein unglaublicher Stressfaktor für beide ist. In der Folge zeigen sie Tendenzen eines anstrengungsverweigernden Verhaltens, über das ich schon an vielen Stellen geschrieben habe. Entscheidend ist bei beiden,d ass sie in Phasen der Überforderung einfach im Unterricht dissoziieren, also das Unterrichtsgeschehen einfach an ihnen vorbei rauscht. So müssen wir täglich Zuhause für die Schule arbeiten, sei es den Unterrichtsstoff nachholen, den sie nicht mitbekommen haben, sei es bestimmte Themen immer wieder und wieder zu üben, dass sie Sicherheit gewinnen und das Erlernte von ihnen eben nicht mehr als anstrengend empfunden und damit nicht mehr abgelehnt oder vermieden wird. Das braucht Zeit, viel Zeit. Je nach emotionaler Verfassung meiner Kinder arbeiten wir ein bis drei Stunden täglich, jeden Tag, egal ob Wochentag, Wochenende oder Ferien. Zudem engagiere ich mich bewusst in der Schule, um meinen Kindern das Fünkchen Mehraufmerksamkeit der Lehrköper auf der einen Seite und eine Portion mehr Wohlwollen zu teil werden zu lassen. Auch das kostet Zeit.

Der Löwenanteil der Fürsorge für Maxim und Nadeschda liegt also bei mir. Ich kümmere mich um die Schule, begleite Hausaufgaben und tägliches Üben, ich organisiere ihre Hobbies und Verabredungen, ich sorge für die richtige Begleitung durch Ärzte, Therapeuten etc., ich bin für sie immer verfügbar. Berufstätig sein kann ich nur in der Zeit, in der die Kinder in der Schule sind. Das ist nicht viel Zeit. – Ungeachtet dessen, dass hinzukommt, dass ebenso jegliche Familienarbeit auf meinen Schultern lastet. Denn Richard und ich haben uns auf die klassische Arbeitsteilung verständigt, was bedeutet, er verdient das Geld und ich mache den Rest. Dass der „Rest“ aber eben auch noch eine ganze Menge ist, wird viel zu wenig gesehen. – Bin ich außerhalb der Schule nicht so für meine Kinder da, wie ich es nun schon seit so vielen Jahren bin, verlieren sie ihren Halt, ihre Sicherheit. Dann bleibt vieles auf der Strecke. Und die Chancen sinken, dass sie irgendwann einmal heilsam mit ihrem Trauma leben und ein ganz normales bürgerliches Leben führen können. Doch sie genau dahin zu begleiten ist meine Hauptverantwortung und vor dieser muss eine Berufstätigkeit immer zurücktreten. So könnte ich also auch meine Ausgangsfrage „Wie viel Berufstätigkeit vertragen meine Adoptivkinder?“ mit einem einzigen Wort beantworten: KEINE!

P.S. Gerade als ich diesen Post fertig geschrieben hatte, rief die Schule an. Ich möge Maxim abholen. Er hätte starke Kopfschmerzen…..

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Erinnerungen eines Adoptivkindes können überraschen…

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Danke an Rachael Gorjestani auf unsplash.com

Sherrie Eldridge hat einmal wieder einen Post vor ein paar Wochen veröffentlicht, der mich sehr gerührt und ermutigt hat. „Your Adopted or Foster Child’s Memories May Surprise You“ kam gerade richtig. Hängen geblieben ist er zunächst, weil Sherrie über ein ganz profanes Gericht geschrieben hat, das ihre Mutter immer für sie gemacht hat: Erbsen auf Toast.

Das blieb in meinem Gedächtnis hängen, denn zum einen hasst Maxim Erbsen, ohne sie wirklich zu kennen. Bei uns hat er sie immer verweigert. Und es gibt eine lustige Geschichte, die wir gerne erzählen: Einmal habe ich Backerbsen zur Kartoffelsuppe gekauft. Und auch den Kindern erzählt, dass es abends Kartoffelsuppe – die beide Kinder lieben – mit Backerbsen gibt. Maxim verzog fast schmerzverzerrt das Gesicht. Doch dann sah er, dass es keine Erbsen waren und probierte – zunächst widerwillig -, um dann mit der Backerbse im Mund zu sagen: „Mmmh, Mama, echt lecker.“ Seitdem geht bei uns immer der Spruch um: „Maxim, es gibt Erbsen.“ Schmerzverzerrtes Gesicht meines Sohnes. „Nein, es gibt Backerbsen.“ Maxim’s Gesichtsmuskeln entspannen sich zu einem Lächeln.

Zum Anderen entspannten mich Sherrie’s Schilderungen einmal wieder so ungemein. Denn sie macht in ihrem Beitrag so wunderbar deutlich, dass meine Kinder mich lieben und akzeptieren, so wie ich bin, dass sie mir das eben nur nicht zeigen können. Denn die Wut auf ihre leibliche Mutter mag so unermesslich sein, dass sie diese einfach immer wieder auf mich projizieren. Und es braucht Jahre und Jahrzehnte bis meine Kinder realisieren, dass das, was ich jeden Tag für sie tue, ihnen vielleicht doch zeigt, wie sehr ich sie liebe. Dies tue ich einfach, jeden Tag und mit jedem Tag immer mehr. Und ich bin sehr gespannt, an was sich meine Kinder einmal erinnern werden.

Es werden jedoch nicht „Peas on Toast“ sein, das ist sicher…