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Selbstbewusste erwachsene Adoptivkinder…

Sherrie Eldridge begeistert und erleuchtet seit beinahe Jahrzehnten vor allem die amerikanische Adoptionsszene mit ihren unterschiedlichen Büchern zu „20 Things…“, „20 Things Adoptited Kids Wish Their Parents Knew“ oder auch „20 Things Adoptive Parents Need to succeed“. Auch in ihrem Blog greift sie diese Themen aus ihren Büchern immer wieder auf. Und bei einem ihren letzten Beiträge stieß ich auf diese zwei jungen erwachsenen (adoptierten) Herren, die über YouTube vloggen, und im Moment die amerikanische Adoptionsszene „rocken“. Oder um mit Sherrys Worten zu sprechen: „Two Korean adoptees who take the world of Adoption by storm….“

Als ich diesen Beitrag sah, habe ich bei allem, was sie schonungslos sagten und kommentierten „Ja!“ sagen müssen. Vor allem aber wünsche ich mir seitdem so sehr, dass meine Kinder auch irgendwann dieses Selbstbewusstsein und diese Gelassenheit und diese Abgeklärtheit, aber auch den Humor haben, wie diese beiden sie an den Tag legen…Einfach großartig und bewundernswert! Aber schaut selbst:

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„Aber mit Deinen Emotionen bist Du allein…“ – Gedanken zur Wurzelsuche meiner (Adoptiv-)Kinder

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Photo by Yulia Gambold on unsplash.com

Bevor ich mit Maxim nach Moskau flog, war eine liebe Freundin zu Besuch. Zunächst fragte sie: „Und bist Du aufgeregt?“ Ich antwortete zögerlich. Sie setzte nach, oder fasste vielmehr das zusammen, was mir seit Tagen durch Kopf und Bauch ging: „Aber mit Deinen Emotionen bist Du allein….“ Ja, genauso war es, und es war eine Achterbahn der Gefühle, die erst in Moskau endete. 

Auch wenn diese Reise mit Maxim für ein paar Tage nach Moskau auf der einen Seite ein erster Schritt in Richtung „Wurzelsuche“ war, so war es doch hauptsächlich eine kleine „Kulturreise“. Wir besuchten kein Kinderheim, wir kehrten nicht zu alten Plätzen, an denen vor etlichen Jahren wichtige Entscheidungen getroffen wurden, zurück. Wir schauten uns „bloß“ ein wenig Moskau an, tauchten ein in diese unermeßlich große russische Metropole, erlebten ein wenig Russland. Weniger das „typische“, das wirkliche  Russland, das uns in anderen Städten begegnen würde. Dennoch war diese Reise dann doch im Vorfeld mit vielen Emotionen verbunden gewesen. 

Da brachen auf einmal alte Erinnerungen auf, an unsere erste Einreise nach Russland, an die Tage, an denen wir Maxim und Nadeschda zum ersten Mal im Kinderheim begegneten, an unser Gerichtsverfahren, an all die Stempel, die wir sammeln mussten, an die Angst bei der Ausreise in dieser so furchtbar überfüllten Abflughalle, in dieser fast unerträglichen Hitze, die Angst, dass unser Familienplan doch noch einmal scheitern könnte. Nicht zuletzt auch durch mein „gesundheitliches Problem“, dass der eine Arzt neulich ja nicht lösen konnte, und der einzige Arzt hier im Umfeld, der es vielleicht lösen kann, derjenige ist, der mich bei meinen Fehlgeburten operiert hat, wurde wieder die Erinnerung an die Bitternis und den Schmerz über die eigene Kinderlosigkeit wach. Und dann waren da die Gedanken an die Sorgen, ob es mir gelingen würde, meine Kinder, die mir anvertraut wurden, wirklich gut ins Leben zu begleiten. Ja, manchmal ist das Leben mit ihren niemals endenden Bedürfnissen, mit immer neuen Herausforderungen anstrengend. Es kostet Kraft und Energie, die ich vielleicht manchmal gar nicht ausreichend habe. Manchmal fühle ich mich so, wie die wunderbare Sherrie Eldridge es einmal wieder in einem so ehrlichen Post über die Wut in Adoptivkindern geschrieben hat, den ich hier gerne mit Euch teilen möchte. Am meisten hat mich ein Satz berührt, in dem sie von den Adoptivmüttern spricht: „They’re in a war they never chose, in a place they don’t belong, and in an ocean that is life-defying.“ Ja, ich habe diesen „Krieg“ niemals gewollt. Vielleicht ist das Wort auch zu heftig. Es ist ein Kampf, aber kein Krieg, auf den ich mich niemals wirklich vorbereitet fühlte. Auch wenn uns die Bedürfnisse von Adoptivkindern hinreichend im Vorfeld der Adoption geschildert wurden, und ich so viel vorher gelesen hatte, aber wirklich ermessen, was das heißt und was es bedeutet, und wie es sich eben anfühlt, das passiert erst, wenn man tatsächlich drinsteckt, im wahren Leben mit zwei Adoptivkindern. 

So war ich nun auch mit meinen Ängsten und Sorgen vor der Russlandreise alleine. Aber dann gibt es eben doch Freunde, die das irgendwie erahnen und vermuten. Das tat gut. Und am Ende waren die Tage in Moskau mit Maxim mehr als versöhnlich. Viele Ängste lösten sich in Wohlgefallen auf. Angefangen von der Einreise über das Nichtkennen der russischen Sprache und dem sich Zurechtfinden in einer 18 Millionen-Metropole und das sich Bewegen in einer Stadt, die alles andere als sicher gilt bis hin zur Ausreise. Meist ist es heilsam, die Ängste zu konfrontieren und durch sie hindurch zu gehen. Die Einreise war eher unspektakulär, nach kaum 30 Minuten nach Verlassen des Flugzeuges, waren wir eingereist, hielten unsere Koffer in der Hand und standen unserem Fahrer zum Hotel gegenüber. Nach einem Tag hatte ich die russischen Buchstaben wieder alle parat, erinnerte Wörter und begann mich nicht mehr so fremd zu fühlen in dieser unermesslich großen Metropole Moskau. Auch in ihr hat sich seit unserem letzten Aufenthalt sehr viel getan. Erst dachte ich, es wäre meine verklärte Erinnerung. Aber dem war nur bedingt so. Denn mittlerweile hatte das Land auch eine Fussball-WM hinter sich, in dessen Vorfeld sehr viel Geld investiert wurde, um die Austragungsorte schön und sicher zu machen. Und das auch mit Erfolg. Die Innenstadt von Moskau ist heutet so unglaublich sauber und schön. Und eben sicher. Oder zumindest wird das Gefühl von Sicherheit erfolgreich vermittelt. Ja, es gibt viel Sicherheitspersonal und eine hohe Polizeipräsenz, dennoch fühlte ich mich nicht überwacht, sondern eben „beschützt“. Maxim und ich fanden uns gut zurecht, genossen unsere Zeit, nahmen die vielen Eindrücke auf, waren fasziniert und überwältigt. Mit den Tagen kamen wir immer besser zurecht, fanden unsere Wege durch die Stadt, entwickelten immer mehr Entdeckergeist. Gerne wären wir länger geblieben. Doch es war gut, so wie es war. Bei unserem nächsten Besuch werden wir mutiger sein, noch mehr auf eigene Faust erkunden, jetzt wo wir ein erste kleines Gefühl für diese Stadt haben. 

Viel Angst ist gewichen in diesen Tagen, nicht nur vor dieser unberechenbaren 18 Millionen Metropole Moskau, auch vor diesem so unermesslich großen und faszinierenden Land Russland und letztlich auch vor der Suche nach den Wurzeln meiner Kinder…. vielleicht war deshalb auch der Besuch in der Christ-Erlöser-Kathedrale so erhebend und befreiend….

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Charlotte’s Sonntagslieblinge (136)

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Photo by Waranya Mooldee on unsplash.com

Heile und wohlbehalten sind Maxim und ich nun zurückgekehrt aus der Millionenmetropole Moskau. Was für eine Stadt, so voller Widersprüche, Gegensätze und beeindruckenden Plätzen und Orten. Wir hatten eine gute Zeit, haben viel gesehen und erlebt, viele Eindrücke gesammelt, viel gelernt und erfahren. Es war eine gute Reise, ein gelungener Einstieg in eine wahrscheinlich in den kommenden Jahren folgende ganze Reihe von Reisen in das Geburtsland meiner Kinder. Nun sind wir dankbar für ein ruhiges Osterfest wieder Zuhause. Bevor wir uns bald den Ostereiern und der Suche nach den Geschenken des Osterhasen begeben, bin ich in diesen ruhigen Morgenstunden heute vor allem dankbar für diese drei Sonntagslieblinge:

  1. Für die beeindruckenden und gleichzeitig auch beruhigenden Tage in Moskau. Sie haben mir viel Angst genommen vor dem, was uns vielleicht in den kommenden Jahren noch erwarten wird mit Blick auf die Wurzelsuche meiner Kinder.
  2. Für die Zeit mit meinem Sohn alleine. Einmal nur wir beide, weit weg von einer alltäglichen Routine. Das tat gut. Auch wenn wir viel gefangen waren in den überwältigen Eindrücken, die in der so faszinierenden und dann auch wieder anstrengenden Metropole auf uns eingeprasselt sind.
  3. Für die Stärke meiner Tochter, die die Zeit ohne uns mehr als gut und tapfer überstanden hat, und sich dann doch um so mehr gefreut hat, dass Maxim und ich wieder Zuhause waren.

Habt ein wunderbares Osterfest, genießt die sonnigen Feiertage und startet gut in eine neue hoffentlich traumhafte Woche!

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„Du bist nicht meine echte Mutter!“

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Photo by The HK Photo-Company on unsplash.com

Da war er dann da der Tag, vor dem sich so viele Adoptivmütter vielleicht fürchten. Vor Jahren wurden sie vielleicht im Zuge des Adoptionsprozesses darauf vorbereitet. Doch dann liefen die Jahre nach der Ankunft des Kindes so dahin, man wuchs zu einer Familie zusammen. Ja, die Adoption war natürlich immer wieder ein Thema, auch die Tatsache, dass das Kind zwei Mütter hat, manche würden von einer Herzmama und einer Bauchmama sprechen – ich persönlich finde diese Begrifflichkeit immer noch unglücklich, habe aber bis zum heutigen Tag keine andere oder bessere Begrifflichkeit gefunden. Wir umgehen sie, in dem wir von der Mama in Russland sprechen, die unseren Kindern das Leben geschenkt hat, sie manchmal bei ihrem Vornamen nennen, und von mir, als der deutschen Mama, der Mama, die nun für Maxim und Nadeschda sorgt und sie durch das Leben begleitet. Doch alles geht so seinen Gang, Herkunft und Wurzeln sind wichtig, mal mehr mal weniger. Vielmehr überlagern immer wieder andere Themen unseren Alltag. Und dann ist er da, der Tag, an dem mein Sohn wutschnaubend vor mir steht und mir mit tiefster Inbrunst ins Gesicht brüllt: „Du hast mir gar nichts zu sagen. Du bist NICHT MEINE ECHTE MUTTER!!!!!“

Ich schlucke erst einmal und halte die Worte zurück, die ich darauf vielleicht genauso impulsiv wie mein Sohn hätte antworten wollen. Ich gucke ihn ein paar Momente an und verlasse das Zimmer. Innerlich gehe ich die Treppe herunter, von der so viele Traumtherapeuten sprechen, zähle nicht bis zehn, sondern bis zwanzig und dann auch noch einmal rückwärts. Ich konzentriere mich nur auf meinen Atem. Und dann kommt mir plötzlich in den Sinn, dass ich nun die Chance habe, mich endlich einmal wirklich so zu verhalten, wie es diese unzähligen Ratgeber einem immer sagen, man es aber ganz ehrlich im Eifer des Gefechts dann doch nicht immer hinbekommt. Ich gehe zurück zu meinem Sohn, bleibe ganz ruhig, bringe ihm sein Wasser und seinen Snack, um den es vor dem Streit und seinem Wutausbruch ging und erwähne seinen wütenden Ausruf mit keiner Silbe. Verdutzt schaut er mich an, denn es ist wahrscheinlich wirklich das erste Mal, dass ich auf seinen Wutausbruch gar nicht eingehe. Ich spiele das Spiel nicht mit, ich tanze den Tanz nicht mit. Denn er würde uns beide nur verlieren lassen. 

Erst am Abend in einem ruhigen Moment greife ich das Thema der echten Mutter wieder auf. Ruhig erkläre ich Maxim, dass er eben zwei Mütter hat, das ist etwas besonderes in dem Sinne, dass er damit anders ist als die meisten Kinder in seiner Klasse. Aber ich könnte sehr gut verstehen, dass ihn das wie so vieles andere auch manchmal unendlich wütend und traurig macht. Seine russische Mutter habe ihm das Leben geschenkt – wofür wir ihr sehr dankbar sind – und ist insofern seine echte Mutter, ich bin die Mutter, die ihn ins Leben begleitet und immer für ihn da ist So bin ich auch seine echte Mutter. Es gäbe eben kein echt und unecht oder kein richtig und falsch. Wir beide wären seine Mütter, aber mit unterschiedlichen Aufgaben. Wie so oft hörte mein Sohn mir nur stumm zu, doch ich merkte, dass es in ihm anfing zu arbeiten….

Ganz ehrlich, das ist kein schönes Gefühl, wenn das eigene Kind sich vor einem aufbaut und aus tiefster Überzeugung mit unendlich viel Wut in der Stimme brüllt „Du bist nicht meine echte Mutter.“ Wenn „ECHT“ gebären und ins Leben bringen heißt, worauf sich das Mutterverständnis meist reduziert, dann wäre es tatsächlich so, dass ich nicht Maxim’s echte Mutter bin, auch wenn ich mir bis heute so sehr wünschte, es gewesen zu sein, um ihm all dieses Leid, dass ihn bis heute in mancherlei Hinsicht noch prägt, erspart haben zu können. Doch das Schicksal wollte es anders. Und es schmerzt, mit all den anderen Mutterqualitäten, mit denen ich meinen Sohn versuche ins Leben zu begleiten, ihm nur so schwer und so langsam diesen Schmerz, Wut und Trauer zu nehmen. Es kommt mir ein wenig vor, als könnte all das, all diese Liebe und Fürsorge nicht oder manchmal nur kaum dieses eine aufwiegen. Das nagt in mir. Immer noch und immer wieder.

Aber auf der anderen Seite war ich sehr stolz auf mich, mit meinem Sohn eine neue Erfahrung für mich gemacht zu haben, eben nicht auf seinen Beziehungskampf einzusteigen, nicht mit ihm zu tanzen, sondern ganz ruhig zu bleiben und an einer ganz anderen Stelle und zu einem ganz anderen Zeitpunkt das Thema mit ihm zu klären. Sein überraschtes Gesicht sprach Bände: „Da reagiert doch die Mama nicht so, wie ich es von ihr gewohnt bin…“ Es scheint, als wären wir erneut ein Stück weiter gerückt in der Entwicklung unserer Beziehung. 

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Ankunftstag – ein magisches Datum für Adoptivkinder?

happy family with two kids walking at sunset

Mit freundlicher Unterstützung von Fotolia

In seiner neuen Serie „Tea with Teens“ philosophieren Mike Berry’s Töchter mit ein paar Freundinnen über die Frage: „Do you like celebrating Adoption Day?“ Die Haltung und die Gedanken der vier Mädchen geben noch einmal einen interessanten Einblick, wie Adoptivkinder im Teenager-Alter mit ihrer Adoption umgehen. Mich hat der kurze Film noch einmal zum Nachdenken gebracht. Denn ein Satz ist mir beeindruckend hängen geblieben. Da sagt die eine Tochter sinngemäß: „Warum sollen wir den Tag der Adoption immer wieder feiern. Ja, Geburtstage wiederholen sich jedes Jahr. Aber die Adoption ist doch nur einmal und dann war es das.“

Auf der einen Seite musste ich wieder einmal an Sherrie Eldridge denken. Ihr Buch „Twenty Things Adopted Kids Wish Their Adoptive Parents Knew“ hatte ich bereits gelesen, bevor Maxim und Nadeschda zu uns kamen. Ein entscheidendes Thema ist dort auch der Umgang mit dem Adoptionstag – oder wie die Amerikaner es nennen „Gottcha Day“. Mag es für uns Adoptiveltern ein freudiges Ereignis sein; endlich wird der lageersehnte Traum war und unser Kind kommt endlich nach Hause zu uns und wir können es nun endlich und für immer in unsere Arme schließen. Ja, vielleicht ein Grund zu feiern und sich jedes Jahr von neuem daran zu erinnern. Aber für Adoptivkinder ist dieser Tag ein trauriges Erlebnis. Mehr noch, im Grunde ist es für sie der traurigste Tag in ihrem Leben. Sie haben alles verloren, was ihnen vertraut war. Sie sind in eine neue, fremde Umgebung mit fremden und unbekannten Personen platziert worden. Sie haben Angst vor dem Unbekannten und Ungewissen. Warum soll dies ein freudiges Ereignis sein? 

In diesem Bewusstsein haben wir bis heute nie den Adoptionstag oder den Abholtag oder den Ankunftstag von Maxim und Nadeschda gefeiert. Aus all diesen besonderen Daten für uns als Familie erinnern wir uns leise und still, in vertrauter Runde immer an den Tag, an dem wir vor inzwischen so vielen Jahren Maxim und Nadeschda zum ersten Mal begegnet sind. Dies ist der Tag, an dem wir als Familie alleine etwas besonderes unternehmen, uns die alten Bilder aus dem Kinderheim anschauen und erzählen, wie das alles damals so war. Aber wir feiern kein großes Fest, es gibt keinen Kuchen und kein Feuerwerk. Vielmehr ist es ein stilles Innehalten in Dankbarkeit und Demut. Denn ja, der Abholtag und der Ankunftstag in Deutschland waren auch für unsere Kinder keine schönen Ereignisse. Wenn ich zurückdenke, erinnere ich mich an die Angst, die Maxim hatte, und an Nadeschda’s leises Weinen in der ersten Nacht in Moskau im Hotel.

Doch wieder einmal zeigt sich bei uns, dass unsere Kinder mit der Zeit ihren ganz eigenen Umgang mit ihrem Adoptionstag finden: Maxim’s sehnlichster Wunsch war es, einen Familienring zu haben, so wie Richard und ich einen Ehering tragen. Den bekam er. An der Innenseite sind seine Initialen bei Geburt mit seinem Geburtsdatum eingraviert, ebenso wie seine Initialen, die er mit der Adoption bekam. Spannend war die Diskussion mit ihm, welches Datum wir zu den „neuen“ Initialen dazu gravieren lassen. Mein Sohn hatte da eine klare Haltung: „Mama, der Tag, an dem ich zu Euch gekommen bin.“

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Herkunft (reloaded): Sie spielten ihr eigenes Schicksal…

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Photo by Marco Bianchetti on unsplash.com

Im Frühsommer arbeitete ich für eine Theaterproduktion an der Schule, mit der 8. Klasse. Alle Kinder waren mitten in der Pubertät und sehr mit ihrem eigenen inneren emotionalen und seelischen Umbau beschäftigt. Zwei Jugendliche sind mir nachhaltig in Erinnerung geblieben, denn das Engagement mit dem sie ihre Rollen ausfüllten, zeigte zuweilen eine ganz besondere Art der Besessenheit.

Wir spielten „Oliver Twist“. Für diejenigen, die die Handlung des Klassikers von Charles Dickens nicht vor Augen haben: Eine junge schwangere Frau bricht erschöpft und völlig  ermattet in einer regnerischen Nacht vor einem Waisenhaus zusammen. Sie bringt noch ein Kind, Oliver, zur Welt und stirbt. Oliver Twist lebt fortan in einem Waisenhaus, bis er mit zehn Jahren in die Lehre bei einem Bestatter gehen soll. Von dort flieht er nach London und wird von einer Bande Kleinganoven aufgenommen. Bei seinem ersten eigenen Diebstahl begegnet er dem reichen Mr. Brownlow, der, wie sich später nach vielen Irrungen und Wirkungen herausstellt, Olivers Großvater ist.

Das Mädchen, das die Agnes, Olivers Mutter, spielte, fiel mir zunächst auf, weil sie zunächst so eine ganz fixe Idee von ihrem Kleid hatte. Zunächst tat ich das als „kleinen Mädchen Traum“ ab und ließ sie gewähren. Alle anderen sahen eher ihre Kostüme aus einer kritischen Distanz. Es war fast eher peinlich, so alten „Fummel“ anzuziehen. Auch als sie dann über mehrere Tage mit immer wieder neuen Ideen kam, wie man denn den schwangeren Bauch ausstopfen könnte, wurde ich noch nicht hellhörig. Bei den Proben war sie oft unkonzentriert und wenig bei der Sache. Lediglich der Schrei, den sie in der Geburtsszene ausstoßen musste, saß. Um so überraschter war ich, als „Agnes“ bei den eigentlichen Aufführungen dann ihre Rolle herzergreifend spielte. Wenn sie den Saal hinunter ging zur Bühne – auf dem Weg zum Waisenhaus, spürte man förmlich den Schmerz dieser Welt, der auf ihren Schultern lastete.

Genauso bewegte mich die Darstellung des Mr. Brownlow. Der Junge, der ihn spielte, war mir schon im Unterricht in der 8. Klasse aufgefallen. Nicht weil er nun der Cleverste war, aber er war so über aus bemüht und engagiert, bei mir, weniger bei seinem Klassenlehrer. Wenn ich ihn schon morgens auf dem Parkplatz traf, suchte er immer den Kontakt zu mir, als wollte er mir irgendetwas ganz anderes mitteilen. Die Fürsorge, mit der er als Mr. Brownlow sich um den Waisenjungen Oliver kümmerte, war bemerkenswert. Und in der Schlussszene, in der der Großvater seinen verlorenen Enkel in die Arme schließt, schien es, als würde der Schüler hier einen ganz tiefen eigenen inneren Wunsch zum Ausdruck bringen.

Vor ein paar Tagen nun schaute ich mir die Bilder der Aufführung noch einmal mit einer Kollegin an. Bei einem Foto der schmerzverzerrten Agnes bemerkte ich noch einmal, wie bewundernswert ich ihr Spiel fand. Unser Gespräch driftete zu den beiden Schülern. Als ich feststellte, dass der Schüler, der Mr. Brownlow spielte, so anders sei als sein Bruder, den ich aktuell im Unterricht habe, sagte sie: „Nun ja, die beiden haben ja auch nicht die gleichen Eltern.“ Ich schien wohl zu stutzen, obwohl mir die Antwort klar war, denn sie ergänzte: „Die beiden Jungen sind adoptiert. Und ich meine die „Agnes“ auch.“

Da war mir klar, warum diese beiden Schüler so in ihren Rollen auf der Bühne versunken waren: Sie spielten ihr eigenes Schicksal…