– Warum Adoptivkinder überbehütet werden müssen –

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An Pfingsten haben es „Helikopter-Eltern“ auf die erste Seite der „FAZ am Sonntag“ gebracht. Unter dem Titel „Bitte fahr mich nicht schon wieder!“ wird vor den Gefahren, die der Trend, Kinder zunehmend mit dem Auto zur Schule und persönlich bis in Klassenzimmer zu bringen, gewarnt. Es wird vom pädagogischen Mehrwert berichtet, den stattdessen der gemeinsame Schulweg mit anderen Klassenkameraden zu Fuss hat. – Ich bin eine bekennende Helikoptermutter! Ich gehöre zu dieser verhassten Spezies von Eltern. Ich kutschiere meine Kinder morgens in die Schule und nachmittags zu Ballett, Turnen, Fussball, Reiten, Musikunterricht, etc. Ich begleite sie bis in den Klassenraum. Ich achte immer darauf, dass sie sauber und ordentlich angezogen sind. Ich kenne alle Freunde meiner Kinder und deren Umfeld. Meine Kinder gehen auf eine Schule, in der viel Elternengagement erwünscht ist. Ich sitze im Elternbeirat und im Aufsichtsrat der Schule. Ich spreche viel und oft mit den Lehrern meiner Kinder und ich mische mich in die pädagogische Begleitung meiner Kinder ein. Ich kontrolliere die Hausaufgaben und packe den Schulranzen. Wenn nötig, übe ich mit meinen Kindern Rechnen, Schreiben, Lesen. Ich habe meinen Beruf zurückgestellt und habe es mir zu meiner momentanen Lebensaufgabe gemacht, meine Kinder im Zweifelsfall durch das Abitur zu tragen. Ich gehöre zu den Müttern, die beim Kinderarzt schon mit einer fertigen Diagnose bzw. Therapieempfehlung sitzen. Ich kontrolliere alles im Leben meiner Kinder. Und das ist gut so! Warum?
Meine Kinder sind Adoptivkinder. Im Alter von fast drei und einem Jahr kamen sie zu uns. Sie wurden von ihrer leibliche Mutter getrennt. Wie zu viele Adoptivkinder mussten in ihren ersten Lebensjahren Dinge erleben, die kaum ein Erwachsener verkraften könnte. Ihr Urvertrauen wurde zerstört, sie lassen sich schwer auf neue Bindungen ein, sie fühlen sich selten sicher und behütet. Ihre Frustrationstoleranz ist niedrig, das Lernen fällt ihnen manchmal schwer. Sie können Risiken nicht richtig einschätzen, übernehmen sich entweder, oder trauen sich vor lauter Angst gar nichts zu. Ihnen fehlt die entscheidende innere Basis an Vertrauen und Sicherheit, die leiblich und behütet geborene Kinder von Natur aus haben.
Meine Kinder brauchen die so häufig im Kontext der Helikopterelterndiskussion gescholtene „Übermutter.“ – Und dies eben nicht nur im Sinne von zusätzlicher Förderung, um etwaige Entwicklungsverzögerungen, Sprachstörungen oder andere gesundheitliche Beeinträchtigungen zu überwinden. – Sie brauchen ein Vielfaches an Zuneigung, Nähe, Fürsorge, Kümmern, Begleiten. Nur wenn ich da bin, spüren sie den Halt und die Sicherheit, um sich gesund zu entwickeln. In den ersten Jahren war es ein Nachnähren von Baby und Kleinkind sein, von dem man ausgehen könnte, dass es irgendwann einmal abgeschlossen ist. Aber Kinder mit frühtraumatisierenden Erfahrungen, wie die Trennung von der leiblichen Mutter, fallen immer wieder in solche frühen Entwicklungsphasen zurück. Sie sind ein „Fass ohne Boden“, sie saugen die Zuneigung und das kleinkindliche Umsorgen auf wie ein trockener Schwamm.
So fahre ich meine Kinder in die Schule und zu ihren Freizeitaktivitäten und begleite sie bis zum Unterricht, nicht weil ich glaube, dass sie es selbst nicht könnten, oder weil ich fürchte, dass ihnen etwas im Straßenverkehr passiert. Nein, meine Tochter braucht mein Umsorgen, damit sie die Kraft für den Ballettunterricht hat, dass sie weiss, dass ich da bin. Immer. Genauso lässt mein Sohn sich nach wie vor mit inzwischen sieben Jahren beim Anziehen helfen, seinen Schulranzen packen, das Brot beim Essen schmieren. Nicht weil er es nicht selbst könnte, sondern weil er diese Form der Fürsorge nach wie vor braucht. „Mama sorgt für uns wie ein Arzt.“ sagte er neulich. Ja, wie ein Arzt, der heilt.
Ich achte auf ordentliche Kleidung, nicht weil ich einen Sauberkeitsfimmel habe, sondern um meine Kinder vor Vorurteilen zu schützen. Im Anblick eines schmuddeligen Kindes ist das Stigma des russischen Heimkindes schnell hervorgeholt. Kommt mein Sohn adrett in Kordhosen daher, bleibt das Vorurteil in der Schublade. Ich engagiere mich bewusst in der Schule, um meinen Kindern das Fünkchen Mehraufmerksamkeit der Lehrköper auf der einen Seite und eine Portion mehr Wohlwollen zu teil werden zu lassen. Denn auch hier drohen Vorverurteilungen aufgrund der Lebensgeschichte unserer Kinder. Denn Adoptivkinder werden schnell als weniger leistungsfähig eingeschätzt und gelten als Störenfriede. Ich erinnere nur an die Schulärztin – „Was wollen Sie denn von einem Kind mit solchen Heimerfahrungen erwarten?“ (Link zu Kolumne Schularzt.)
Wenn ich sage, dass ich meine Kinder zum Abitur trage, dann nicht, weil ich die Hoffnung hege, dass aus ihnen Starwissenschaftler oder Top-Manager werden. Nein. Es geht darum, sie solange wie möglich in einem behüteten und steuerbaren Lernumfeld zu belassen, bis sie auf eigenen Füßen stehen können. Viele Adoptions-Experten gehen davon aus, dass frühtraumatisierte Kinder erst mit Anfang zwanzig gelernt haben, mit ihrem Trauma zu leben und die Ausprägungen dessen selbst kontrollieren können. Erst dann sind sie vollends fähig, ein normales bürgerliches Leben zu leben. Es geht also darum, ihnen solange wie möglich einen Raum für innere Heilung zu geben.
Beim Kinderarzt kommt hinzu, dass ich mit dem Befassen und Ausprobieren von so vielen unterschiedlichen Therapien in den vergangenen Jahren tatsächlich ein beachtliches Maß an Fachwissen und Erfahrung angehäuft habe. Somit habe ich durchaus an der ein oder anderen Stelle einen größeren Überblick. Vor allem aber habe ich im Zusammenwachsen und Zusammenleben mit meinen Kindern über die Jahre die bewusste Erfahrung gemacht, was sie in bestimmten Situationen brauchen. Als ihre Mutter weiss ich tatsächlich am besten, was sie brauchen und was ihnen gut tut.
Aber so wie meine Kinder besondere Bedürfnisse haben, gibt es viele Kinder, die aufgrund spezieller Ereignisse oder Vorkommnisse in ihrem Leben mehr Fürsorge brauchen. Also, wer sich das nächste mal über eine Super-Mutter aufregt, sollte erst einmal hinter die Fassade zu gucken, bevor er sich ein Urteil erlaubt. Sicherlich mag es in vielen Fällen so sein, dass Kinder aus Bequemlichkeit morgens auf dem Weg zur Arbeit von ihren Eltern zur Schule gefahren werden. Dennoch glaube ich, dass es oftmals auch einen guten Grund für das Elterntaxi gibt.