Neulich in der Schule: Wir planten den Geburtstag unseres Sohnes, der in seinem wahren Leben an einem deutschen Feiertag Geburtstag hat, der zudem noch in den Ferien liegt. Ich hatte die Mutter von Maxims bestem Freund gefragt, ob ihr Sohn an diesem Tag zur Geburtstagsfeier kommen könnte. Leider hatten sie Urlaub geplant. Die Mutter mit Bezug auf den Geburtstermin: „ Das hast Du aber auch nicht so gut geplant.“ Ich: „Das konnte ich mir nicht aussuchen.“ Sie: “War das denn der ausgezählte Termin?“ Ich: „Das weiss ich nicht.“ Danach Schweigen. Ein paar Tage zuvor hatte meine Tochter ihre erste Spielverabredung. Ich brachte sie zu ihrer Freundin. Deren Mutter lud mich noch zu einem Kaffee ein. Während sie die Kaffeemaschine anschmiss, wanderte ihr Blick meinen Körper entlang. „Wie Du das geschafft hast, mit zwei Kindern so schlank zu bleiben.“ Erst verstand ich nicht, worum es ihr ging, und antwortet: „Nun, sie halten mich ganz gut auf Trab.“ Die andere Mutter legte noch einmal nach: „Ja, aber dass so gar nichts von der Schwangerschaft zurückgeblieben ist.“ Ah, darauf wollte sie hinaus. Ich ließ ihre Bemerkung umkommentiert stehen und fragte nach der Milch für meinen Kaffee.
Es mag ein menschliches Grundbedürfnis sein, sich gleich und unmittelbar zu erklären. Genauso ist Neugier ein treibendes Charakteristikum im menschlichen Zusammensein. Das Schweigen und die Unklarheit sind schwer zu ertragen. Sowohl für denjenigen, der die Leere schafft, als auch für denjenigen, der im Unwissen gelassen wird. Zudem scheint das Thema „Geburt“ bei Müttern nicht nur ein prägendes, sondern vor allem auch ein bindendes Erlebnis zu sein, das gleich zu Beginn einer Bekanntschaft einen gemeinsamen Kommunikationsboden schafft. Verlauf der Schwangerschaft, das Geburtserlebnis, die ersten Wochen mit Baby, Rückbildung, Veränderung der Figur, und was noch so alles dazugehört. Das hatte ich nicht. Und ich vermisse es auch nicht. Mein Geburtserlebnis war ein anderes. Es wäre genauso mitteilenswert. Doch ich ziehe es vor, zu schweigen und die Dinge unerklärt im Raum stehen zu lassen.
Im Verlauf meines Adoptivmutter-Seins habe ich zwei Dinge gelernt. Zum ersten ist das soziale Umfeld schnell mit der Tatsache der Adoption überfordert. Erst recht, wenn wir erzählen, dass unsere Kinder aus einem russischen Kinderheim kommen. Unfreiwillig laufen im Kopf des Gegenübers Filme ab, in denen Kinder an Heizungen gekettet sind, sträflich vernachlässigt werden, in ärmlichsten Verhältnissen nicht ausreichend gekleidet sind, unzureichend ernährt werden und sich selbst überlassen sind. Auch wenn es bei unseren zwei Kindern anders war, sie im Gegenteil gut aufgehoben waren und liebevoll umsorgt wurden, so bleiben doch diese Bilder hängen und werden direkt auf die Wahrnehmung unserer Kinder übertragen. Die Gefahr ist groß, dass die Tatsache der Adoption zum ausschließlichen Charakteristikum meiner Kinder wird. Sie werden in ihrem Sein ausschließlich auf ihre Adoption reduziert. Alles andere – ihr liebevolles Wesen, ihr Kampfgeist, ihr scharfer Verstand, ihre Phantasie beim Spielen, ihre Entwicklungsfortschritte – tritt in den Hintergrund. Ja, die Adoption ist ein wichtiger Teil ihres Lebens, aber sie sind so viel mehr als nur ein „Adoptivkind“. Gleichzeitig stößt die pure Information der Adoption aus Russland eine Lawine von Nachfragen in Gang. Warum habt Ihr adoptiert? Warum gerade aus Russland? Wie war das da? In was für einem Zustand waren Eure Kinder? Was für Folgen tragen sie aus dem Heimleben mit davon? Das alles so zu erklären, dass keine komischen Eindrücke zurückbleiben, würde mehr als einen Nachmittag füllen. Das ist zu persönlich für einen Nachmittagsplausch mit einer Mutter, die eigentlich nur die „Mama von XY“ ist.
Zum zweiten habe ich begriffen, dass es die alleinige Entscheidung meiner Kinder ist, wem sie wann und in welchem Umfang von ihrer Adoption erzählen. Natürlich ist die Adoption genauso ein Teil meines Lebens, aber vor allem ist es ihre ganz persönliche Lebensgeschichte. Über diese haben meine Kinder die Hoheit. Das müssen wir als Eltern respektieren. Es ist ihre Herkunft, es sind ihre ersten Lebensjahre, die sie nicht mit uns Adoptiveltern verbracht haben, es sind ihre Erfahrungen und Ereignisse, die sie mit geprägt haben. Sie sind es auch – und weniger wir Eltern -, die mit Fragen konfrontiert werden, die mit Blicken begutachtet werden, denen der „Stempel Adoptivkind“ in Schule und Freundeskreis aufgedrückt wird. Sie sind es, die Gefahr laufen, auf das „Adoptivkind“ reduziert zu werden. Sie sind es, die wenn es um die Herkunft udn den Familienstammbaum geht, vor der Klasse stehen und sagen müssen: „Ich habe zwei Mamas, aber wie meine erste Mama aussieht, weiss ich nicht.“ Es ist ihr Leben. Und meine Kinder entscheiden, wem sie davon wieviel erzählen. Ich als ihre Mutter kann sie für die schwierigen Fragen und Situationen stärken. Ich kann ihnen helfen, einen guten Umgang mit ihrer Adoption zu finden.
Zuhause sprechen wir immer einmal wieder über unser gemeinsames Geburtserlebnis als Familie. Wie wir Maxim und Nadeschda lange gesucht haben und irgendwann in Russland gefunden haben. Wie der Richter uns schließlich die Erlaubnis gab, sie zu uns zu holen und ihre Eltern sein zu dürfen. Für meinen Sohn ist das eine ganz besondere Geschichte und alle Adoptivkinder sind die Kinder, die von ihren Eltern lange gesucht wurden. Wie viel er davon aber seinen Freunden erzählt ist seine Entscheidung. So wie neulich auf einer Autofahrt mit seinem besten Freund: Maxim: „Ich bin nicht in Deutschland geboren.“ Sein Freund: „Nee, wo denn dann?“ Maxim: „In Russland.“ Sein Freund: „Sprichst Du dann russisch?“ Maxim: „Nein.“ Sein Freund: „Warum?“ Maxim schweigt. Sein Freund auch. Kinder ertragen das Schweigen besser als wir Erwachsenen. Vielleicht können wir da von ihnen lernen.