Mein Sohn und ich machen Hausaufgaben. Er soll die Vokale schreiben. A, E, I, U und O. Schön, ordentlich, gleichmäßig. Nachdem ich in der dritten Zeile ihn liebevoll aber bestimmt daran erinnere, dass die Buchstaben schön und ordentlich aussehen sollen, schmeisst er seinen Stift hin und schmollt. Schmollen geht bei ihm so: Der Stift landet in der Ecke des Raums. Es wird ein anderer Stift genommen und alles, aber auch alles auf dem beschriebenen Blatt Papier durchgestrichen, mehrmals, so lange, bis man nicht mehr erkennen kann, was darunter stand. Dann wird das Papier erst zerknüllt, dann zerrissen, um dann schließlich in der selben Ecke des Raums zu landen, genauso wie der Stift. In dieser Zeit spricht Maxim nicht, er atmet nur schwer und aufgebracht. Sein Blick ist wild und mit seiner Körperanspannung vibriert der Raum unter der Wut, die sie ausströmt. Ist das Papier vernichtet, steht Maxim auf, nimmt seinen Stuhl und schleudert ihn in dieselbe Ecke. Dann setzt er sich in eine andere Ecke und verharrt dort. Manchmal bis zu einer Stunde. Danach kann er sich an nichts mehr erinnern. Mein Sohn ist sieben, gerade hochgradig frustriert, er fühlt sich ohnmächtig und hilflos, aber er ist in einer anderen Welt, in der ich ihn nicht erreiche. Ich als seine Adoptivmutter kann nur warten. Warten, bis es vorbei ist….
Szenenwechsel: Ich sitze mit meiner Tochter bei der Ergotherapeutin. Wegen einer leichten motorischen Entwicklungsverzögerung soll Nadeschda Ergotherapie helfen. Die Therapeutin ist nett und verständnisvoll. Aber meine Tochter interessiert das nicht. Sie macht nicht mit und lehnt jedes Angebot, dass die Therapeutin ihr macht, ab. Stattdessen hängt sie auf meinem Schoß, jeder Muskel in ihrem Körper ist erschlafft, ihr Blick ist leer, der Mund halb offen, die Zunge leicht nach vorne geschoben. Zureden hilft nicht. Spielerische Angebote, seien sie auch noch so reizvoll, erreichen sie nicht. Stumm starrt Nadeschda vor sich hin. Auch sie scheint in einen andere Welt abgetaucht zu sein. Kaum ist die Zeit bei der Ergotherapeutin vorbei, und wir haben die Praxis verlassen, springt Nadeschda draußen herum, als wäre nichts gewesen. Im Auto spricht sie wie ein Wasserfall und erzählt mir begeistert, was sie am Nachmittag alles spielen will. Sie gestikuliert, ihr Gesichtsausdruck ist wach, sie strahlt. Diese Szenerie wiederholt sich bei der Ergotherapeutin bei jedem Termin. Fünfmal insgesamt. Solange zieht sich die Diagnostik hin, die ja eigentlich keine ist, denn meine Tochter macht nicht mit. Das Ergebnis ist wie eine selbsterfüllende Prophezeiung: Nadeschdas Entwicklungsverzögerung sei weitaus gravierender als vom Kinderarzt vermutet, feinmotorische und grobmotorische Defizite zeigten sich, auch sei ihre Körperwahrnehmung stark beeinträchtigt. Wir brechen die Therapie ab.
In der Fachliteratur findet sich eine Erklärung für das Verhalten meiner Kinder. Meine Kinder haben beide in sehr frühem Alter traumarisierende Erfahrungen machen müssen. Sie wurden von ihrer russischen Mutter getrennt, wuchsen unter widrigsten Umständen auf. Häufig waren sie in Situationen, in denen es für sie um das pure Überleben ging. Ein Baby, das nach der Mutter ruft, und diese nicht kommt, erlebt dies als Todesangst und versucht nur noch, selbst zu überleben und diese Angst loszuwerden. Von Natur her zeigen wir Menschen im Angesicht einer solchen übermächtigen Angst vier unterschiedliche Reaktionsmuster: Wir greifen selbst an, wir versuchen Angst zu machen, wir stellen uns tot oder wir laufen weg. Adoptivkinder, die traumarisierende Erfahrungen schon im Säuglingsalter gemacht haben, zeigen genau diese Verhaltensmuster, wenn sie wieder – und dies kann durch kleinste Begebenheiten passieren – erneut an die altern Angstmuster erinnert werden. Dann kommt die früh gelernte und sich eingebrannte Überlebensstrategie wieder zum Vorschein. Mal versuchen sie ihrem Gegenüber selbst Angst zu machen, sie greifen an – wie Maxim in der Situation mit den Hausaufgaben -, oder sie stellen sich tot und laufen (innerlich) vor der Situation weg – wie Nadeschda bei der Ergotherapeutin. Es braucht lange Jahre – auch unter therapeutischer Unterstützung -, bis Kinder mit diesen Angsterfahrungen lernen, wieder Vertrauen zu fassen und sich sicher zu fühlen. Ganz ausradieren kann man diese Angsterfahrungen und die Verhaltensmuster, die diese zur Folge haben nicht.
Sind Adoptivkinder mit diesen Lebenserfahrungen nun in unserem Schul- und Bildungssystem – und hierzu zähle ich auch Therapeuten, die die Aufgabe haben, Kindern in ihrer Entwicklung zu helfen und zu fördern, damit sie in eben diesem System funktionieren – Leistungsdruck ausgesetzt, wird der alte Überlebensmechanismus wieder geweckt. Sie müssen etwas tun, von dem sie glauben oder auch bestätigt bekommen, dass sie es nicht können. Das setzt sie unter Druck. Stressgefühle und Angst machen sich breit. Schnell wird diese Angst so übermächtigt, dass das Kind das Gefühl hat, erneut um sein pures Überleben kämpfen zu müssen. Und es verhält sich so, wie es früh gelernt hat zu überleben. Es verweigert sich, in dem es aggressiv – der Angreifer – wird oder sich dumm – oder tot – stellt. Das fatale ist, dass mit dem Leistungsdruck ein Teufelskreislauf begonnen wird, aus dem es – wenn man sich des Überlebensverhaltens seines Kindes nicht bewusst ist – kein Entrinnen gibt. Das Kind ist in irgendeiner Prüfungssituation – wie Nadeschda bei der Ergotherapeuten. Es empfindet diese Situation mit unermesslichem Stress und Angst. Es reagiert mit Verweigerung. Die Beurteilung des Kindes zielt in der Konsequenz nur auf das Verweigerungsverhalten ab, wie der erhöhte Therapiebedarf bei Nadeschda. Sind wir uns als Adoptiveltern nicht der Überlebensstrategie bewusst, und folgen dem erhöhten Therapiebedarf, setzen wir unser Kind nur noch mehr Druck und Stress aus. Noch öfter muss es in eine Therapiestunde gehen, in der es jedesmal das Gefühl hat: „Ich bin hier nicht gerne, ich bin nicht gut genug, ich habe große Angst.“, was automatisch wieder den Überlebensmechanismus in Gang setzt. Therapieerfolge in einer solchen Situation zu erwarten, wäre vermessen.
Es ist eine besondere Herausforderung, ein Adoptivkind heilend zu begleiten und es lernen zu lassen, anders mit den Erwartungshaltungen aus dem Umfeld von Schule und Bildung umzugehen. Das dauert Jahre, und immer wieder kann es Rückschläge geben, in denen der alte Überlebensmechanismus wieder hervorbricht. Genauso können wir Eltern in einem begrenzten Rahmen versuchen, den Leistungsdruck von außen zu minimieren, damit der Überlebensmechanismus gar nicht erst getriggert wird. Vor allem aber müssen wir uns bewusst sein, dass Adoptivkinder aufgrund ihrer frühen Geschichte so auf Leistungsdruck reagieren können. Damit können sie Erwartungen des Normalsystems gar nicht erfüllen, wenn sie sich so Druck und Angst ausgesetzt fühlen. Jede Prüfung und jede Leistungsbeurteilung ist zwangsläufig zum Scheitern verurteilt. Das heißt nicht, dass Adoptivkinder mit dramatischen Lebenserfahrungen dumm oder lebensunfähig sind. Vielmehr müssten die Normen und Maßstäbe der Eltern für Kinder mit frühtraumatisierenden Erfahrungen andere sein oder die bestehenden anders interpretiert werden. Denn diese Kinder haben eins geschafft, was selten ein Erwachsener leisten könnte: Sie haben unter oft widrigsten Umständen überlebt! Das ist mehr als eine Leistung, mehr als wir ermessen können!