Kolumne: Von der Anstrengung, Adoptivmutter zu sein – Gedanken zu Tina Traster‘s Buch „Rescuing Julia Twice“

Die amerikanische Journalistin Tina Traster hat mit „Rescuing Julia Twice“ ein bewegendes Buch über die Adoption ihrer Tochter aus Sibirien geschrieben. Selten habe ich ein Buch gelesen, dass mich so berührt hat. Denn Traster schildert nicht nur die Adoption in Russland schnörkellos ohne Adoptionsromantik, sondern vielmehr erzählt sie mit schonungsloser Wahrheit, wie schwierig es ist, sich in die Mutterrolle einzufügen, vor allem da ihre Tochter an der lange unentdeckten reaktiven Bindungsstörung leidet. Hoffnunggebend zeigt Traster schließlich den Weg der Heilung und des Wachsens einer stabilen Beziehung zu ihrer Tochter auf.

Ich bin tief davon überzeugt, dass die Adoption meiner zwei Kinder der richtige und für mich einzige wahre Weg war, um Mutter zu werden. Ich habe keinen einzigen Tag mit meinen beiden Kindern bereut. Mit großer Dankbarkeit bin ich ihre Mutter. Dennoch war ich mir wenig dessen bewusst, wie anstrengend dieses Mutterdasein sein kann. In Vorbereitung meines Adoptionsblogs fragten mich zwei Freundinnen immer wieder: „Warum ist das alles so anstrengend bei Dir, Charlotte?“ Über die Jahre ist es inzwischen leichter geworden. Doch ja, es war (und ist) anstrengend und Kräfte zehrend. Weniger die physische Herausforderung mit gleich zwei Kindern einen neuen Alltag zu gestalten, sich mit medizinischen Diagnosen auseinanderzusetzen, die richtigen Förderungen und Therapien zu finden, unzählige Wutanfälle zu ertragen, 24 Stunden 7 Tage die Woche ohne Unterbrechung dazusein. Vielmehr quälten die stetig wachsenden Selbstzweifel, ob ich das als Mutter auch so richtig mache. Wurde ich diesen zwei besonderen Kindern wirklich gerecht? Konnte ich ihnen das geben, was sie brauchten? Ich fühlte den Druck, der enormen Verantwortung, der auf mir lag. Ich hatte diesen zwei Kindern ihre Wurzeln genommen. Sie hatten bereits einmal in ihrem Leben eine Mutter verloren und waren von ihr getrennt worden. Aufgeben und Scheitern durfte ich nicht. Das sah mein Konzept nicht vor. Im Gegenteil: Die perfekte Bilderbuchmutter zu sein war mein Anspruch, meinen zwei Kindern nur Anlass zu geben, mich bedingungslos zu lieben.

Erst mit der Lektüre von „Rescuing Julia Twice“ wurde mir bewusst, warum mein Muttersein als Adoptivmutter so kräftezehrend für mich war und vielleicht manchmal heute noch ist. Mein perfekter Anspruch war von vornherein zum Scheitern verurteilt. Denn zum einen war und bin ich nicht perfekt. Es ist vermessen so etwas anzunehmen. Das berühmte schlechte Gewissen, auch das schildert  Traster so treffend. Zum anderen brachten meine Kinder eine Geschichte mit, sie waren schon einmal enttäuscht worden, tief verletzt und traumatisiert worden, hatten eine Mutter verloren. Um es drastisch zu formulieren, sie hatten in ihren ersten Lebensmonaten und -jahren Erfahrungen gemacht, die wir Erwachsenen, die gesund und behütet aufgewachsen sind, frühestens – und wenn denn überhaupt – erst in unserer zweiten Lebenshälfte machen, und selbst dann gehen diese Erlebnisse nicht schadlos an uns vorüber. Warum sollten meine Kinder also einer neuen Mutter vorbehaltlos und bedingungslos entgegentreten? Ihr Urvertrauen war zu einem frühesten Zeitpunkt zerstört worden.

In der Fachliteratur finden sich eine Vielzahl von klassifizierten Bindungsstörungen, die frühtraumatisierte Kinder zeigen. Darunter auch die reaktive Bindungsstörung, von der Traster schreibt. Als Kernsymptome zeigen Kinder entweder eine undifferenzierte Distanzlosigkeit, suchen Trost und Zuspruch willkürlich auch von Fremden; oder genau im Gegenteil weisen diese Kinder jede Form von Zuspruch und Fürsorge vor allem von ihren nächsten Bezugspersonen, ihren Eltern zurück und gehen auf große emotionale Distanz. In der Öffentlichkeit sind es die Kinder, die bei allen beliebt sind, die immer fröhlich und unkompliziert erscheinen. Gegenüber ihren Eltern in der vertrauten Umgebung verweigern sie Blickkontakt, weichen körperlicher Nähe aus, lügen, zeigen ein ständiges Kontrollbedürfnis auch durch unbegründete Wutanfälle. Um nur einige wenige Verhaltensweisen zu nennen. Inzwischen gibt es einen ganzen Diagnosekatalog.

Ich habe ein Störgefühl dabei, dass die Schwierigkeiten von Adoptivkindern, sich auf eine neue Beziehung zu ihren Adoptiveltern einzulassen, mit diesen Diagnosekatalogen voreilig pathologisiert werden und den Kindern ein Stempel aufgedrückt wird. – Traster hingegen geht hier fundiert vor, und ich maße mir nicht an, die Einschätzung ihrer Tochter anzuzweifeln. – Auch meine Kinder hatten sehr wohl Schwierigkeiten, Vertrauen zu mir als ihrer „neuen“ Mutter zu fassen, was sich teilweise bis heute zeigt. Dennoch will ich sie nicht in die „Schublade einer Krankheit stecken“. Das macht es mir auch rückblickend auf all die Jahre Beziehungsarbeit zu einfach: Auffälliges Verhalten, medizinische Diagnose, Therapie, fertig. Denn so einfach ist es nicht. Und das ist die andere Seite, die mir widerstrebt: Ja, in Vorbereitungen auf Auslandsadoptionen wird auf mögliche Störungen im Bindungsverhalten bei Heimkindern hingewiesen, unterschiedliche Bindungstypen werden beschrieben, und praktische Typs gegeben, wie Adoptiveltern in den ersten Wochen und Monaten eine enge Bindung zu ihren Adoptivkindern. Aber nur selten wird offen und deutlich gesagt, dass die Beziehungsarbeit und der Bindungsaufbau zu Adoptivkindern ein jahrelanger, ja wenn nicht dauerhafter lebenslanger Prozess ist. Es ist harte Arbeit, es ist ein ständiges „Vor und zurück, zwei Schritte vor, einer zurück“. Irgendetwas passiert außerhalb der Routine und schon sind sie wieder da, die Beziehungsanfragen, das Grenzenaustesten, die immer wiederkehrende Frage „Hält mich meine Mutter und hält sich mich aus?“. Bindung entsteht nicht von alleine, nicht bei Kindern, deren Urvertrauen durch die Trennung von der ersten Mutter egal aus welchem Grund zerstört wurde. Bedingungslos lieben können diese Kinder nicht mehr. Neues Vertrauen, das entsteht, ist lange instabil und kann sehr schnell wieder erschüttert werden. Manchmal ist es nur eine falsche Geste, ein Augenbrauenzucken im falschen Moment, und man steht mit seinem Adoptivkind wieder am Anfang. Dieser Weg ist mühevoll und langwierig. Das sollten werdende Adoptiveltern nicht unterschätzen und das Entstehen von Bindung von den Kindern zu ihren „neuen“ Eltern als selbstverständlich und automatisch wachsend sehen. Dennoch, auch wenn diese Kinder nie ihr Urvertrauen wiedererlangen werden, die Wunden werden heilen und sie werden irgendwann eine stabile Beziehung zu ihren Eltern aufbauen und ihre Liebe lernen zu zeigen. So lange dieser Weg auch dauert, er ist gangbar und lohnenswerter als alles andere im Leben einer Mutter. Denn irgendwann kam der Moment dann doch, an dem mein Kind mir stürmisch auf dem Schulhof entgegenrannte, mich umarmte und rief: „Meine Mama!“

2 Gedanken zu “Kolumne: Von der Anstrengung, Adoptivmutter zu sein – Gedanken zu Tina Traster‘s Buch „Rescuing Julia Twice“

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