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Lydia’s Blogparade: „Was darf man Kindern zutrauen?“

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Photo by Michal Janek on unsplash.com

Die liebe Lydia, deren Blog ich sehr gerne lese, weil sie mir die Welt aus einer ganz anderen Perspektive nahe bringt und damit für mich so vieles Selbstverständliche oft in ein anderes Licht rückt, hat zur Blogparade „Was darf man Kindern zutrauen?“ aufgerufen. Gerne mache ich mit und folge Lydias Aufruf. 

Mit Sicherheit motiviert es mich auch mitzumachen, da ich aufgrund der Lebensgeschichte meiner Kinder eine andere Sichtweise vertrete als viele andere Mütter. Denn meine Kinder haben eine harte und schmerzhafte Lebensgeschichte in ihren ersten Lebensjahren erfahren müssen. Sie lebten eben nicht wohlbehütet und umsorgt auf, sondern waren mehr oder weniger wahrscheinlich von Geburt an auf sich selbst gestellt. So können wir heute nur vermuten. Denn all dies spielte sich ab, bevor wir Maxim und Nadeschda im Alter von fast drei und bald zwei Jahren adoptierten. Mittlerweile sind unsere Kinder „groß“ mit zehn und bald neun Jahren. Aber die Wunden der Frühtraumatisierung hallen bis heute nach. Und somit wachsen sie bei uns eben nicht auf wie „normale“ Kinder, sondern sind durchaus im gemeine Sprachjargon überbehütet. Gerne mache ich mich dabei in Diskussionen um Helikoptermütter unbeliebt. Ich bin eine Helikoptermutter aus Überzeugung. Denn das ist es, was meine Kinder bis heute brauchen. 

Was kann ich meinen Kindern zutrauen? – Theoretisch ganz schön viel. So bitter es klingt, ich könnte heute tot umfallen, und meine Kinder würden irgendwie klar kommen. Denn es ist eine Situation, die sie früh in ihrem Leben gelernt haben. Gerade mein Sohn, der ein ausgeprägtes Autonomieverhalten an den Tag legt, wenn man ihn lässt, würde wahrscheinlich – oberflächlich betrachtet – gut zurecht kommen. Er könnte gut Verantwortung übernehmen, würde sich (zu) viel aufbürden, würde es dennoch schaffen. Aber es täte ihm nicht gut, und es tut ihm auch nicht gut, wenn es denn mal in Ausnahmesituationen gefordert ist. Danach folgen heute noch tagelang die Beziehungsanfragen: „Hält mich die Mama? Hält sie mich aus?“ – Und meine Tochter? Sie war fünf Monate alt, als sie von ihrer russischen Mutter getrennt wurde. Bis heute müssen wir so unglaublich viel nachnähren. Seit bald mehr als einem Jahr schläft sie (wieder) bei Richard und mir in unserem Bett, und es ist fast ein Ritual, dass sie nach dem Vorlesen dort zwischen meine Beine krabbelt und in meinem Schritt verharrt. Als würde sie sich innerlichst wünschen, in meinen Bauch zu kriechen, in dem sie (leider) niemals war. Dieses Kind muss so viel umsorgt werden. Noch heute – und Nadeschda wird bald neun Jahre alt – braucht sie jedes Kleinkindhafte Umsorgen, vom Anziehen über das Schultasche packen und dann an der Hand in die Schule laufen bis zum pünktlichen Abholen – oder ein da sein, weil ich ja im Hort arbeite – und einem begleiteten Arbeiten für die Schule. Nur so schafft sie gut ihren Alltag und ihr Leben. Dennoch weiß ich, dass sie all diese Dinge des alltäglichen Lebens auch alleine bewältigen kann. Natürlich kann sie sich alleine anziehen. Natürlich kann sie sich ihr Frühstück selbst zubereiten. – An guten Tagen erwische ich sie oft am Kühlschrank, wo sie sich selbst ihren Jogurt herausholt, oder sie steht am Toaster und wartet auf ihr Brot, um es sich dann selbst zu schmieren. Dann huscht ihr verschmitztes und spitzbübisches Lächeln über ihr Gesicht, als wolle sie mir sagen: „Mama, ich kann das alles. Aber ich will meistens nicht. Ich brauche es noch, dass Du das alles für mich machst.“

Was kann ich also meinen Kinder zutrauen? Dem einen tut die Autonomie nicht gut, die andere braucht noch so viel Mutterliebe und -fürsorge, dass es mir so oft scheint, es wäre ein Fass ohne Boden. Denn nur mit all dieser Fürsorge haben meine Kinder eine Chance zu heilen: Ihr Trauma zu überwinden, den Schmerz und die Trauer, die Wut des Verlassenseins aus der frühesten Kindheit zu verarbeiten und irgendwann einmal anders damit umzugehen.

Also traue ich meinen Kindern mit Blick auf eine Alltagskompetenz erst einmal wenig zu. Denn ich weiß, dass es am besten ist, wenn sie sich um nichts kümmern müssen und „Mama“ einfach da ist. Nur so fühlen sie sich behütet, sicher und umsorgt. Nur so können sie wachsen und sich entwickeln. Dennoch weiß ich, dass ich genauso die Pflicht und die Aufgabe habe, meine Kinder auf das Leben vorzubereiten und sie dahin zu bringen, dass sie tatsächlich einmal in der Lage sind, ihren Alltag alleine zu bewältigen. Und das ist der schmale Grat auf dem wir uns bewegen. 

Ich erinnere ich mich an eine Situation vor ein paar Jahren mittlerweile. Maxim war zum Geburtstag eingeladen bei einem Freund im Ort – seinem bis heute ersten und seelenverwandten Freund noch aus Kindergartenzeiten. Nadeschda war krank und lag schlafend auf dem Sofa, als es für Maxim Zeit war zu gehen bzw. es Zeit war, dass ich ihn zu seinem Freund bringe. Ich war im ersten Moment etwas ratlos, wollte Nadeschda nicht aufwecken, aber auf der anderen Seite musste Maxim ja zu diesem Geburtstag. Da sagte mein Sohn: „Mama, ich kann doch auch alleine zu Karl laufen.“ Wie Recht er hatte! Es war ja wirklich nur die Straße rauf. So machten wir das dann auch. Und es war gut. Denn es war auch ein Stück weit eine gesunde Eigenverantwortung, die Maxim sich in diesem Moment selbst gewählt hatte.   

So versuchen wir seitdem, in kleinen wohlgewählten Dosen, unsere Kinder an Verantwortung in ihrem Alltag heranzuführen. Pflichten und Aufgaben im Haushalt zu übernehmen, selbstständig an Dinge zu denken und diese auch zu erledigen. – Erschwerend kommt allerdings hinzu, dass wir auf dem Land leben und meine Kinder nicht die örtliche Schule besuchen. So ist unser Leben ohnehin davon dominiert, dass ich eh meine Kinder überall hinbringen muss. (Öffentliche Verkehrsmittel fallen qua schlechter Infrastruktur aus.) Wir fahren sie zur Schule, wir holen sie dort ab, wir bringen sie zu ihren Freunden, wir fahren zu den Freizeitaktivitäten, die eben alle auch nicht in unserem Ort sind. Diese Form der Unselbstständigkeit haben wir uns sozusagen eingekauft, als wir uns für die Waldorfschule entschieden haben, die mittlerweile unser Lebensmittelpunkt ist. – Nach den Jahren des vollständigen Umsorgtseins ist das nicht immer einfach. Gerade hier im Skiurlaub gab es eine riesen Diskussion, warum denn nun beide Kinder ihre Koffer selbst auspacken sollten und ihre Anziehsachen in den Schrank räumen sollten. Es ist und wird eine Gratwanderung bleiben. 

Aber am Ende muss ich für meine Kinder feststellen: Zutrauen darf man ihnen eine Menge. Doch ich muss jedes Mal wieder abspüren, ob ihnen das jetzt gut tut oder nicht. Manchmal könnte ich mehr loslassen und ihnen mehr zutrauen. Oft brauchen sie aber immer noch einmal das Quäntchen mehr „Mama“ und Fürsorge als andere Kinder.  

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Charlotte’s Sonntagslieblinge (120)

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Photo by Paul Green on unsplash.com

Es war Weihnachten und daher ruhig auf diesem Blog. Nicht weil es mir an Themen mangelt, sondern weil ich mich bewusst dazu entschieden habe, diese besondere Zeit zwischen den Jahren meiner Familie und mir zu widmen. Schön und erholsam waren die Tage.

In den frühen Morgenstunden, wenn alle anderen noch schliefen, habe ich gelesen. Maxim Biller“s „Sechs Koffer“ habe ich endlich beendet, genauso wie Melanie Raabe’s „Der Schatten“. Beide mehr als lesenswert. Jetzt wartet Michail Bulgakov’s „Meister und Margarita“ in der Neuübersetzung von Alexander Nutzberg auf mich. Ich fliege ja mit Maxim im Frühjahr nach Moskau. Zeit sich vorzubereiten. Auch literarisch… Manchmal kam Maxim morgens verschlafen ins Wohnzimmer getapst, wo ich in meinem Sessel saß und las. Meist gesellte er sich mit einem seiner Bücher zu mir und las ebenso. Neben diesen stillen Momenten habe ich das getan, was ich oft zwischen den Jahren tue: Umräumen, ausmisten, neu gestalten. Das tat gut. War irgendwie befreiend, und wenn auch nicht viel weg gekommen ist, so doch zumindest die alten Wollmäuse, die schon seit langem hinter den nicht vorgerückten Regalen und Schränken ihr Dasein fristeten.

Bevor nun mein Sohn mit einem erneuten: „Mama, was machst Du da…?“ zu mir aus dem Wohnzimmer getroddelt kommt, denke ich an diesem letzten Sonntag in diesem Jahr an all die Dinge, für die ich nach diesem doch sehr sorgenvollen und manchmal schmerzhaften Jahr dankbar bin.  Aus den vielen Gedanken, die mir gerade dabei durch den Kopf gehen, sind dies meine heutigen drei Sonntagslieblinge:

  1. Ich bin so unendlich dankbar für meine beiden Kinder! Immer wieder und wieder! Dieses Jahr mit all seine Sorgen hat mir gezeigt, dass ich sie niemals missen möchte. Niemals!!! Erst vor ein paar Tagen habe ich mir ganz lieben Freunden zusammen gesessen, die ebenso ein Kind aus Russland adoptiert haben. Wir kamen irgendwie im Gespräch auf die Frage, ob wir heute wissend ob all der Schwierigkeiten und Herausforderungen noch einmal adoptieren würden. Und wir alle bejahten diese Frage ganz vehement. Ja, es ist schwierig und es ist herausfordernd, und es kostet mit all den Sorgen, die man sich macht, so viel Kraft. Vielleicht mehr Kraft als mit leiblichen Kindern. Doch auf der anderen Seite haben mir selbst unser zwei Kinder so viel gegeben. Erst vor ein paar Tagen stellte Richard so treffend fest: „Was für eine Entwicklung Du mit diesen zwei Kindern gemacht hast…“ Ja, und welchen Weg ich gegangen bin…. Das hätte ich mir nicht in meinen kühnsten Träumen ausmalen können.
  2. Viel zu selten machen Richard und ich uns bewusst, dass wir genauso dankbar sein können für unsere Zuhause, unsere kleine Familie und die wohlbehüteten Umstände, in denen wir leben, die uns viele andere Sorgen und Nöte ersparen, und uns auch die Freiheit geben, genau diesen Weg mit unseren Kindern zu gehen.
  3. Dankbar bin ich in diesen Tagen für unsere Freunde, die uns auch in schwierigen Zeiten die Stange gehalten haben, die für uns da waren, auch wenn wir nicht immer die besten Kontaktpfleger waren und sind. Wie stellte einer von ihnen an Weihnachten so schön fest: „Es ist doch egal, wie oft man sich sieht und wie oft man miteinander spricht. Die Hauptsache ist doch, dass man für einander da ist, in den Momenten, in denen es darauf ankommt.“

In diesem Sinne wünsche ich Euch allen ein großartiges Silvesterfest und einen wohlbehaltenen und gesunden Start in das neue Jahr! Möge es für Euch vieles bereit halten, was Ihr Euch erhofft und wünscht.

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Interviewreihe „Anstrengungsverweigerung“ – eine Adoptivmutter erzählt… (1/3)

„Julia’s Geschichte und ihre ersten Erfahrungen mit der Anstrengungsverweigerung“

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Mit freundlicher Unterstützung von Fotolia

Nach meinem Beitrag „Aber ich sehe gar keine (Anstrengungs-) Verweigerung …“ entstand aufgrund ihres bewegenden und reflektierten Kommentars ein spannender Austausch mit Julia. Die Kinderkrankenschwester und ihr Mann haben vor sieben Jahren ihren Sohn Joshua* (Name geändert) als fünf Minuten alten Säugling adoptiert. Was sich wie eine Bilderbuchadoption liest – Julia und ihr Mann erfuhren noch vor der Geburt von dem Elternpaar, das neue Eltern für ihr ungeborenes Kind suchte, sie lernten die Eltern kennen, waren bei der Geburt dabei und konnten ihren Sohn nur wenige Stunden nach der Geburt zu sich nehmen – mündete dann doch in eine über ein Jahr währende Hängeparty, ob Joshua wirklich bei ihnen bleiben darf. Erst nach zwei Jahren war die Adoption endlich rechtskräftig abgeschlossen. Mittlerweile ist Joshua sieben Jahre alt und im vergangenen Sommer in die Schule gekommen. Auch er zeigt Zeichen und Verhaltensmuster der Anstrengungsverweigerung, die mich tief berührt haben. Besonders wichtig finde ich, dass man in Julia’s Schilderungen sehen kann, dass sich diese Verhaltensmuster schon sehr früh im Kindergartenalter zeigten. Aus dem Austausch mit Julia ist eine kleine Interviewreihe entstanden, die Ihr nun in den kommenden Wochen lesen könnt: 

Liebe Julia, wie würdest Du Deinen Sohn Joshua charakterisieren?

„Tja, wo soll ich anfangen und wo aufhören? Es gibt so viele Dinge, die ich über ihn erzählen könnte: schöne, weniger schöne, lustige, traurige, so bunt wie das Leben, so bunt und facettenreich ist unser Kind!

Was ihn aber möglicherweise am treffendsten beschreibt, das ist, dass er ein sehr feinsinniges, empfindsames Kind ist, das immer seine Antennen voll für die zwischenmenschlichen Beziehungen aufgedreht hat. Er hat ein seismographisches Gespür für Anspannung und Unsicherheiten und reagiert dementsprechend vorsichtig und zurückhaltend im Bezug auf Unbekanntes und Fremdes. Aber genauso offen, fröhlich und gelöst ist er, wenn er sich wohlfühlt und umgeben ist von Menschen, die ihm wohlgesonnen sind. Außerdem ist er ein wirklicher Ästhet und Perfektionist. Er ist schon seit frühester Kindheit sehr sprachgewandt und kann einen in Grund und Boden reden. Er ist ein guter Beobachter, und man sieht ihm oft förmlich an wie es hinter seiner Stirn fieberhaft arbeitet. Man kann mit ihm tiefgründig sprechen und nicht selten kommt er zu fast schon philosophischen Schlussfolgerungen.

Er hat ein sehr unterdurchschnittlich ausgeprägtes Selbstvertrauen, und auch unsere Beziehung, die trotzdem sie sehr innig ist, wird von ihm immer wieder, auch durch scheinbare Kleinigkeiten in Frage gestellt. Er ist sehr verletzlich durch Kritik, die bei ihm immer – oder sagen wir meistens – auf der persönlichen Ebene landet, ohne dass sie persönlich gesagt oder gemeint ist. In ungewohnten Situationen hat er Angst zu scheitern, und die größte Angst besteht darin, dass andere sehen könnten, dass er „scheitert“. Das führt dazu, dass er nicht einfach so neue Dinge ausprobiert, sondern sie eher meidet. Aber er ärgert sich sehr darüber, dass er das nicht kann. Ich glaube, es ist ihm mittlerweile sehr bewusst, dass er durch seine Ängste oft an schönen Erlebnissen gehindert wird.

Alles in allem kann ich aber sagen, dass er unser Leben jeden Tag bereichert und uns lehrt, das Leben neugierig zu betrachten und ausgetretene Pfade auch mal zu verlassen.

Wann hast Du zum ersten Mal von dem Phänomen der Anstrengungsverweigerung erfahren? 

Noch während unserer Bewerbungsphase beim Jugendamt habe ich angefangen, alle erdenklichen Informationen rund um das Thema Adoption zu sammeln und habe jedes irgendwie interessant klingende Buch darüber gelesen. In diesem Zusammenhang bin ich recht schnell bei der Problematik der sog. Anstrengungsverweigerung gelandet.

War Dir im Zuge Eurer Adoption klar, dass es so ein Phänomen gibt und dass Ihr Euch auch damit einmal auseinandersetzen müsst?

Ja, ich habe damit gerechnet, dass wir uns damit würden auseinandersetzen müssen. Denn im Gegensatz zu vielen Menschen in unserem Umfeld, die uns zwar alle unterstützt haben in unserem Vorhaben, sind wir nie davon ausgegangen, dass die Trennung von der leiblichen Mutter bei einem Kind, und sei es noch so früh und ohne sofort ersichtliche Dramatik, einfach so spur- und folgenlos an ihm vorbeigeht.

Dazu zähle ich auch das Erleben des ungeborenen Kindes, das während der Schwangerschaft schon den Stress seiner Mutter im Wortsinn am eigenen Leib erfährt. Man weiß heute, wie sich die Ausschüttung mütterlicher Stresshormone während der Schwangerschaft und die Erhöhung des Stresslevels bei einer Trennung von Mutter und Kind nach der Geburt auf das kindliche, noch unreife Gehirn auswirkt. Und dass die leibliche Mutter unseres Sohnes in der Schwangerschaft massiven Stress erlebt haben muss, sie hat vor ihrem gesamten Umfeld, außer ihrem Freund gegenüber die ungewollte Schwangerschaft und die Geburt verheimlicht, davon gehe ich aus.

Dazu kam bei uns noch die anfangs beschriebene lange Phase der Ungewissheit  und Unsicherheit bzgl. seines Verbleibs bei uns, und daher bin ich davon überzeugt, dass er das natürlich gespürt hat. Für uns war das damals schon kaum zu ertragen. Wie muss das erst für ihn gewesen sein?! Er konnte das ja gar nicht bewusst einordnen, und ich denke, genau darin liegt auch die Gefahr, dass sich eine Situation als potentiell traumatisch oder wie Frau Wiemann es lieber bezeichnet, als seelische Verletzung verfestigt.

Wann und in welcher Form hat Dein Sohn zum ersten Mal Verhaltensweisen eines Anstrengungsverweigerers gezeigt? 

Aufgefallen ist mir das schon recht früh.  Auch als mir der Begriff an sich noch nicht so geläufig war, habe ich schon gemerkt, dass es manche Situationen gab, auch als er noch sehr klein war, in denen er ein solches Verhalten gezeigt hat.

Schon im Säuglingsalter konnten wir beobachten, dass er scheinbar über gar keine Frustrationstoleranz verfügt. Er hat z. B. nie versucht, sich ein weggerollte Spielzeug wieder zu beschaffen, als er noch nicht krabbeln konnte. Er hat nicht versucht, irgendwie da wieder ran zu kommen. Er lag auf dem Bauch und hat gebrüllt und gebrüllt, als hätte er sich massiv weh getan. Er hätte auch von alleine nicht wieder aufgehört, zu brüllen. Auch nicht, wenn man ihm das Spielzeug wiedergegeben hätte. Er hat sich erst mühsam wieder beruhigt, wenn wir ihn auf den Arm genommen haben und ihn sanft gewiegt haben. Oder er hat z. B. nie eine Phase gehabt, wo er alles alleine machen wollte. In einem Alter, in dem bei anderen Kinder die Einmischung der Eltern zu einem Wutausbruch führt, weil sie es partout selbst machen wollen, was auch immer, war bei uns das Gegenteil der Fall.

Eine große Herausforderung war lange Zeit das selbstständige An- und Ausziehen. Und damit meine ich nicht, dass er das nicht gekonnt hätte. Ich hatte sehr stark den Eindruck, dass er regelrecht Angst davor hatte, uns zu zeigen, dass er bestimmte Dinge schon alleine konnte, weil er dann damit rechnen musste, dass er die Zuwendung, die er für diese Dinge in Form unseres Tuns dann nicht mehr erhalten würde. Er hat sich dann regelmäßig auf dem Boden liegend in Rage geschrien, wenn ich doch von ihm verlangt habe, dass er wenigstens einige Handgriffe dazu tun sollte.  Im Kindergarten wurde das dann recht schnell zu einem Problem. Erläuternd hinzufügen möchte ich, dass er mit ca. 2 1/4 Jahren in die Kita gekommen ist und dann mit 3 Jahren in den der Kita angeschlossenen Kindergarten gewechselt hat. In der Kita war alles noch sehr behütet, aber ab dem Kindergarten wurden von ihm dann bestimmte Dinge erwartet, die er eigenständig erledigen sollte. Darunter fiel u.a. das Aus- und Anziehen. Jetzt stehe ich nicht auf dem Standpunkt, dass ein Kind sich mit 3 Jahren immer und auf jeden Fall selbst an- und ausziehen können muss. Aber er hätte es gekonnt, er hat sich nur total verweigert. Die Erzieherinnen haben Gottseidank sehr einfühlsam reagiert. Besonders seine Bezugserzieherin hat sich in ganz besonderer Art und Weise seiner angenommen. Wir haben in dieser Zeit viele Elterngespräche geführt und es hat sich sozusagen als schicksalhaft gefügt, dass seine Erzieherin sich just auf dem Gebiet Pädagogik für Pflege- und Adoptivkinder weitergebildet hatte. Das nahm uns eine große Last von den Schultern. Es hat natürlich nicht alle Probleme gelöst, aber für unseren Sohn war das eine große Hilfe und er konnte sich in seinem Tempo entwickeln, ohne, dass er in irgendeine „Verhaltensauffällig-Schublade“ gesteckt worden wäre.

Woran hast Du fest gemacht, dass es sich hier um ein anstrengungsvermeidendes Verhalten handelt?

Das habe ich tatsächlich daraus geschlossen, dass sich bestimmte Verhaltensmuster 1 zu 1 mit Schilderungen von Beispielen für anstrengungsvermeidendes Verhalten gedeckt haben. Hätte ich von dem Phänomen nichts gewusst, hätte ich mir das wahrscheinlich nicht erklären können.

Umso wichtiger finde ich die gezielte und rechtzeitige Aufklärung über solche und andere Phänomene schon im Rahmen der Vorbereitung auf die Aufnahme eines fremden Kindes in die eigene Familie. Dafür halte ich es für unerlässlich, dass die Mitarbeiter der Jugendämter in diesem Bereich gut geschult und fortgebildet sind und werden.

Mehr von Julia und ihrem Sohn Joshua erfahrt Ihr in der kommenden Woche!

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„Sometimes the strength of motherhood is greater than natural laws.“ (Barbara Kingsolver)

iStock_000015941675_LargeAus dem Leben unsere Adoptivfamilie

Vor einigen Jahren haben mein Mann und ich in einem aufreibenden Adoptionsprozess zwei Kinder aus Russland adoptiert. Neben unserem Alltag als Adoptivfamilie schreibe ich hier über Themen, die Adoptionsfamilien begegnen und mich als Adoptivmutter bewegen.

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1000 Fragen an mich selbst #15 – ein letztes Mal…

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Vielleicht für ein letztes Mal werde ich an dieser so wunderbaren Blogparade von Johanna von Pinkepank teilnehmen. Das Innehalten tut gut, doch fehlt mir dafür im Moment die Zeit. Schon in der vergangenen Woche habe ich es nicht geschafft, mich „pünktlich“ meinen Antworten zu widmen. Hinterherzuhängen bereitet mir kein gutes Gefühl. Und ich sollte mir keine zusätzlichen schlechten Gefühle bereiten bei Dingen, die mir eigentlich Spass machen sollten. Zudem bewegen mich andere Themen für meinen Blog, und auch dafür fehlt mir die Zeit. So muss ich Prioritäten setzen. Schließlich kommt auch ein wenig hinzu, dass manchmal die Fragen doch sehr persönlich sind. Gut für eine innere Reflexion, aber nicht geeignet, sie in das weltweite Orbit des Internets zu schicken. Vielleicht mache ich weiter mit, im Stillen für mich. Doch das weiß ich noch nicht. Somit hier erst einmal meine vorerst letzten Antworten zu den 20 Fragen, die dann die ersten 300 Antworten auf „1000 Fragen an mich selbst“ voll machen.

281:  Malst du oft den Teufel an die Wand? Mein Mann sagt ja, ich glaube eher nein.

282: Was schiebst du zu häufig auf? Sport machen und laufen gehen.

283: Sind Tiere genau so wichtig wie Menschen? Auf der einen Seite schon, es sind genauso würdevolle Lebewesen, die es gilt zu achten. Doch müsste ich mich in einer Krisensituation entscheiden, wäre der Mensch mir wichtiger.

284: Bist du dir deiner selbst bewusst? Ja, manchmal sogar zu sehr.

285: Was war ein unvergesslicher Tag für dich? Der Tag, an dem ich Mutter wurde, und wir Maxim und Nadeschda aus dem Kinderheim in Russland abgeholt haben.

286: Was wagst du dir nicht einzugestehen? Wenn ich mir selbst eingesehen würde, von dem ich nicht wüsste, was es sein könnte, so würde ich es bestimmt hier nicht teilen.

287: Bei welcher Filmszene musst du weinen? Meist sind es Filmszenen, die mich persönlich berühren, weil sie mich an Begebenheiten in meinem eigenen Leben erinnern. So gab es einige Szenen im Film „Wunschkinder“ , in denen mir die Tränen kamen, da die Geschichte so sehr der unseren ähnelt. Aber auch erst vor kurzem, als wir mit Maxim und Nadeschda in „Jim Knopf“ waren, habe ich eine Träne verdrückt, als sie Jim Knopf aus dem Paket auspacken.

288: Welche gute Idee hattest du zuletzt? Nach meiner Ausbildung nicht gleich eine volle neue Stelle anzunehmen, sondern vielleicht auch die Zeit zu nutzen, ein neues Buch zu schreiben. Ob die Idee tatsächlich gut ist, wird sich zeigen.

289: Welche Geschichte würdest du gerne mit der ganzen Welt teilen? Mmmh, da muss ich erst einmal drüber nachdenken….

290: Verzeihst du anderen Menschen leicht? Das hatten wir doch schon mal…(Frage 69)

291: Was hast du früher in einer Beziehung getan, tust es heute aber nicht mehr? Jogginghosen bügeln.

292: Was hoffst du, nie mehr zu erleben? Auch die Frage kommt mir irgendwie bekannt vor. Ich habe jetzt aber keine Lust 280 Antworten noch einmal zu durchsuchen. 😉 Im Moment würde ich sagen, dass ich weder die Fürsorge für eine bösartige Mutter noch den Erbstreit mit meiner Stiefmutter noch einmal erleben möchte.

293: Gilt für dich das Motto „Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß“? Ja, inzwischen schon. Manchmal ist es besser, weniger zu wissen. Das liegt aber auch daran, dass ich im schulischen Umfeld zum Beispiel eher zu viel weiß und mitbekomme. Da würde ich manches gerne nicht wissen.

294: Wie wichtig ist bei deinen Entscheidungen die Meinung anderer? Das kommt darauf an. Sicherlich ist mir die Meinung meines Mannes und enger Freunde und Freundinnen wichtig. Oft ist es eine Bestätigung meiner eigene inneren Stimme, die in bestimmten Situationen vielleicht noch etwas unsicher ist. Doch bei allen anderen entfernteren Aussenstehenden ist mir die Meinung eher unwichtig.

295: Bist du ein Zukunftsträumer oder ein Vergangenheitsträumer? Nur für die Zukunft wage ich zu träumen, was in der Vergangenheit war, kann ich eh nicht mehr ändern.

296: Nimmst du eine Konfrontation leicht an? Nein, ich gehe ihnen lieber aus dem Weg, oder finde für mich alleine eine Lösung.

297: In welchen Punkten unterscheidest du dich von deiner Mutter? Ich hoffe, in allen.

298: Wo bist du am liebsten? Gerade im Moment mit meinen Kindern in unserem Garten. Doch mein liebster Ort ist die Bank am See am Haus meiner Ersatzmutter in den USA.

299: Wirst du vom anderen Geschlecht genug beachtet? Das kommt darauf an…

300: Was ist dein Lieblingsdessert? Käse. Und am liebsten Schweizer Käse. Die können das meiner Meinung nach besser als die Franzosen…

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Ist Jim Knopf ein Anstrengungsverweigerer?

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Photo by Veri Ivanowa on unsplash.com

Ihr alle kennt doch sicherlich Michael Endes wunderbare Buch „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“? Das haben wir gerade wieder gelesen. Natürlich bewegt die Geschichte meine Kinder, denn Jim ist ja ein Waisenjunge, der als kleines Baby per Paket auf Lummerland landet und dann von Frau Waas großgezogen wird. Als Lummerland zu klein wird, weil Jim zu groß, verlassen Lukas und Jim über Nacht die Insel und brechen zu großen Abenteuern auf. Nachdem sie die mandalanische Prinzessin Li Si aus den Fängen des Drachen Frau Mahlzahn gerettet haben, kommt es auf der Heimfahrt nach Mandala zu einem kleinen spannenden Dialog zwischen Jim und ihr. Li Si ist ganz überrascht, dass Jim, obwohl älter als sie, noch nicht lesen und schreiben kann. Jim laviert sich so ein wenig raus, obwohl ihm die Situation unangenehm ist. Unterm Strich beharrt Jim, darauf, dass er diese Fähigkeiten ja nicht braucht, er käme auch wunderbar ohne zurecht.

Als ich diese Szene nun neulich abends erneut Maxim und Nadeschda vorlas, musste ich ein wenig schmunzeln und an meine beiden kleinen Anstrengungsverweigerer denken. Als Maxim anfing in der ersten Klasse mit Schreiben, sagte er einmal zu mir: „Mama, warum muss ich das lernen? Ich kenne doch die Buchstaben auf der Tastatur. Das reicht doch. Dann tippe ich eben Briefe….“ – Wenn ich dies so schreibe, muss ich unfreiwillig an den Fortschritt der Technik seitdem denken, denn inzwischen müsste er noch nicht einmal mehr die Buchstaben kennen, sondern könnte alles diktieren. Ich kann einer höheren Macht danken, dass die gängigen Spracherkennungsprogramme nun doch noch nicht so gut funktionieren, dass meine Kinder auf die Idee kämen, nun gar nicht mehr schreiben lernen zu müssen.

Doch eine ähnliches Gespräch, wie es zwischen Jim und Li Si im Buch stattfand, hatten Maxim und ich dann doch in den vergangenen Tagen. Maxim lernt jetzt in der dritten Klasse gerade noch einmal richtig die Uhr – mechanisch und digital – lesen. Maxim fällt das sehr schwer. Ja, schon längt hätte er die Uhr lernen müssen, aber da es eben in unserem Alltag so ist, dass ich die Kinder überall hinfahren und abholen muss, wozu. Es war einfach nie die Notwendigkeit da, dass Maxim die Uhr lesen können musste. Auch wenn er mittlerweile mit seinen Freunden im Dorf alleine auf den Spielplatz geht. Da gibt es eine Kirchturmglocke, die schlägt. Und so waren die Abmachungen: „Wenn die Glocke fünfmal schlägt, kommst Du nach Hause.“ Das hat bisher immer wunderbar funktioniert. Nun haben wir uns also durch die Uhr gequält. Und so langsam geht es auch, jeden Tag eine wenig besser. Aber auch, weil wir eben jeden Tag üben. Und jeden Tag unserer guten Freundin der „Anstrengungsverweigerung“ mal für einen kurzen Moment, mal für eine ganze Weile „Guten Tag“ sagen.

Am vergangenen Wochenende war Maxim dann mit einem guten Freund verabredet. Schon zwanzig Minuten vor der Zeit war mein Sohn fertig angezogen, gefrühstückt und bereit für den Ausflug. In freudiger Erwartung kam er alle 30 Sekunden in die Küche, um zu fragen: „Mama, wie lange noch? Wann kommt denn der Karl?“ Als ich ihm sagte: „Schau auf die Uhr am Backofen und rechne es Dir aus.“ antwortete mein Sohn: „Nee, das kann ich nicht und ich brauche das auch nicht.“ Ich antwortete nur: „Okay, dann wirst Du eben nicht wissen, wie lange Du noch warten musst.“ Aber ich dachte bei mir: „Ja, irgendwie hat mein Sohn zumindest im Moment in seinem Leben recht, so behütet und umsorgt er wird, braucht er sich nicht um eine Uhrzeit kümmern. Das ist mit Sicherheit für die Zukunft nicht tragfähig, und genauso wie das Lesen und Schreiben ist das Lesen der Uhr eine Kulturfähigkeit, die er einfach irgendwann lernen muss, um im Leben zu bestehen.“ Und so lernen wir nun fleißig die Uhr. Auch wenn uns manchmal die „Anstrengungsverweigerung“ dabei im Wege steht.

Jim Knopf ist mit Sicherheit kein Anstrengungsverweigerer. Er lernt ja dann auch irgendwann Lesen und Schreiben mit Prinzessin Li Si. Doch ich fand die Verbindung von seiner Geschichte als Adoptivkind, die ihn auf seiner Reise ja auch einholt, und sein vehementes Ablehnen von Lesen und Schreiben können einfach sehr treffend für unsere immer wiederkehrende Situation.

Nehmt dies als Auftakt zu meiner versprochen Reihe an Beiträgen zum Thema „Anstrengungsverweigerung“ in den kommenden Wochen.