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20. März – Innehalten (Teil 1) – Loslassen

Auch wenn der Brief an meinen Vater wie ein Befreiungsschlag wirkte, so hält meine Anspannung an. Vielleicht ist es auch einfach alles zu viel: Maxim und Nadeschda, die jeden Tag unheimlich viel Energie und Kraft kosten, Renate, die nun, da sie wieder Zuhause ist, auch ihre Ansprache braucht, die Sorge um den Beginn ihrer Chemotherapie, die Nachwirkungen der Absage meines Vaters zur Taufe, neben der Organisation unseres Alltags, Maxims Sprachtherapie, der Vorbereitungen zur Taufe im April und der Suche nach einer Kinderfrau.

Jetzt, wenn sich die Abendstille über unser Haus legt, Maxim und Nadeschda ruhig schlafen, im Nachbarhaus Tatjana Renate zu Bett gebracht hat und der Tag sich dem Ende zuneigt, komme ich ein wenig zu mir. Ich werde mir bewusst, dass unser Leben im Moment sich in einem Ausnahmezustand befindet. Immer noch, selbst wenn Renate mit guten Prognosen aus dem Krankenhaus entlassen worden und bei Tatjana in guten Händen ist. Allein das reicht schon, um nicht mehr von einem unbeschwerten Alltag zu sprechen. Meinen Vater loslassen, der sich weiterhin in Schweigen hüllt, lässt sich leicht sagen. Es wird dauern, bis mir das wirklich gelingt. Maxim und Nadeschda verlangen genauso jeden Tag sehr viel Aufmerksamkeit. Jedes Kind fordert auf seine Art. Nadeschda ist sehr anhänglich, braucht sehr viel Zuwendung. Maxim macht es mir mit seinen Launen nicht leicht. Jeder Tag ist ein Drahtseilakt, ob und wie ich beiden Kindern gerecht werden kann, ob es mir gelingt, sie ohne Tränen und Auseinandersetzungen durch unseren Tagesablauf zu manövrieren, ob ich meine Gereiztheit unter Kontrolle habe und innere Ruhe walten lassen kann. Sicherlich kommen hier mehrere Faktoren zusammen. Die Kinder erleben die momentane Situation als unsicher und instabil. Sie spüren, dass ich nicht voll und ganz bei ihnen bin, Richard und ich ihnen nicht die ganze Kraft und Aufmerksamkeit schenken. Bei mir ist, ungeachtet der äußeren Belastungen, nach acht Monaten, die Maxim und Nadeschda nun bei uns sind und die gefüllt waren mit Herausforderungen, auf die wir nicht vorbereitet sein konnten, der Akku leer. Mein ganzes Leben hat sich in den vergangenen acht Monaten fast ausschließlich um unsere beiden Kinder gedreht. Ihre Kraft und Energie haben sie aus mir gezogen, um hier anzukommen. Ich habe zu wenig getan, um meine innere Balance aufrechtzuerhalten. Jetzt fühle ich mich leer und ausgelaugt. Letztendlich sind Maxim und Nadeschda meine eigene innere Projektionsfläche. Sie spüren meine Gereiztheit und innere Müdigkeit und reagieren darauf. Mit ihrem Verhalten halten sie mir den Spiegel vor. Wie Nadeschda wünsche ich mir Unterstützung und Zuneigung. Irgendjemand, der einfach einmal anerkennt, wie anstrengend und aufreibend unser Leben zur Zeit ist. Tief in mir drin ist das eigene Kind in dieser Krise berührt, das selbst Sicherheit und Stabilität, Halt sucht. Wie Maxim bin ich wütend, frustriert und hilflos. Ich suche bedingungslose Unterstützung. Aber ich fühle mich allein gelassen und bin maßlos enttäuscht.

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20. Januar – Urlaubsvorbereitungen

Heue nachmittag packten wir gemeinsam unsere Koffer für den nun anstehenden Skiurlaub in der Schweiz. Da es das erste Mal war, dass wir seit unserer Abholreise aus Russland Koffer packten, band ich beide Kinder bewusst in das Packen mit ein. Sie sollten mitbekommen, dass wir alle zusammen in den Urlaub fuhren. Sie sollten erfahren, dass Kofferpacken nichts mit dem Abbruch eines Lebensabschnitts zu tun hatte. Gemeinsam kennzeichneten wir jeden Koffer. Das ist Maxims Koffer, das ist Nadeschdas Koffer, das ist Mamas Koffer und das ist Papas Koffer. Ich spürte eine gewisse Nervosität bei beiden Kindern, doch sie hatte weniger den Beigeschmack von „Müssen wir hier wieder weg?“ – was meine große Sorge gewesen war -, sondern viel mehr von Vorfreude auf das, was uns in der kommenden Woche erwarten würde.

Richard und ich waren in den vergangenen acht Jahren immer im Januar um diese Zeit zum Skifahren in die Schweiz gereist, immer in dasselbe Skigebiet. Wir hatten diese Skiurlaube immer genossen, denn selten konnten wir uns bei anderen Aktivitäten so gut erholen, wie beim Skifahren. Mit Maxim und Nadeschda wollten wir an diesem Urlaub festhalten. Diesmal hatte sich Daniel kurzfristig entschlossen, für ein paar Tage mit in die Schweiz nachzukommen. So würden Richard und ich jeweils einen Begleiter beim Skifahren haben. Vielleicht gelang es uns sogar, einmal gemeinsam eine Talfahrt zu wagen. Wir freuten uns.

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03. August – Die Faszination des Alltäglichen

Unser neuer Alltag, der von unseren beiden Kindern dominiert wird, überwältigt mich so sehr – Entschleunigung hin oder her -, dass ich unser Glück noch gar nicht fassen und begreifen kann. Es erscheint mir so unwirklich, dass nun unser Leben als Familie begonnen hat. Wenn Nadeschda morgens in meinem Arm liegt und ihre Milch trinkt, überkommt mich manchmal dieses Gefühl: „Ja, es ist wirklich wahr. Unsere Kinder werden nun bei uns bleiben, und niemand kann sie uns jemals wieder nehmen.“ Meistens fühlt es aber wie ein Traum an, aus dem wir irgendwann wieder aufwachen müssen. Dann wiederum gibt es Momente, in denen sich ein Gefühl breitmacht, als wäre es immer schon so gewesen, als wären Maxim und Nadeschda immer schon bei uns gewesen. Und nur das Adoptionsabenteuer in Russland war ein Traum, aus dem wir jetzt aufgewacht sind. Wie lange diese Gefühle wohl anhalten werden? Wann werden wir zum ersten Mal spüren, dass wir angekommen sind? Wann werden unsere Kinder angekommen sein?

Von Waschmaschinen und Lichtschaltern

Auch nach einer Woche ist für Maxim und Nadeschda alles neu und unglaublich spannend. Selbst die kleinsten Dinge des Alltags, die für Richard und mich so selbstverständlich sind. Wäschewaschen ist eine Sensation für die Kinder. Maxim und Nadeschda sitzen minutenlang vor der laufenden Waschmaschine und beobachten die sich drehende Wäsche. Wenn neues Wasser in die Waschtrommel fließt, entlockt es Nadeschda wahre Begeisterungsausrufe. Maxim hält immer wieder sein Ohr an den Trockner, denn er kann gar nicht glauben, dass sich darin etwas tut und die Wäsche im Anschluss trocken ist. Genauso sind Lichtschalter faszinierend. Maxim muss immer wieder das Licht an und aus machen, immer wieder und immer wieder. An, aus, an, aus, an, aus….

Lebensmittel und Spielzeug

Gestern war Richard kurz alleine Lebensmittel einkaufen, denn noch wollen wir unsere Kinder nicht der Reizüberflutung eines Supermarkts aussetzen. Allein die zwei vollen Einkaufstaschen waren nach Richards Rückkehr wahre Wundertüten. Mit angespannter Hektik packte Maxim alles aus und breitete es auf dem Fussboden aus. Jedes einzelne Teil musste angeschaut, angefasst und beschnuppert werden. Die Fülle schien ihn sichtlich zu überwältigen. Ähnlich verhält er sich bei dem Spielzeug in seinem Zimmer. Er hat schnell seinen Entdeckerdrang gefunden und untersucht jeden Morgen das Spielzeug in seinem Zimmer. Dennoch stellen wir fest, dass er oft nicht weiß, was er mit den Sachen anfangen soll und so das Interesse schnell wieder verliert. Im Grunde ist Spielzeug unwichtig. Heute kamen die Kindersitze, die wir noch in Russland im Hotel bestellt hatten. Das größte für Maxim und Nadeschda war der riesige Pappkarton, in dem Richard sie dann durch die Wohnung zog, oder worin sie sich versteckten. Richtig aufgekratzt waren sie danach und strahlten über beide Ohren.

Spaziergänge am Nachmittag

Auf der anderen Seite ist es faszinierend zu beobachten, wie sich Maxim langsam seine neue Heimat erschließt. Wir machen jeden Nachmittag den gleichen Spaziergang: 500 Meter die Straße runter bis zum Feld, am Feld entlang an den Pferden und Kühen vorbei bis zu den Hühnerställen und wieder zurück. In den ersten Tagen ist Maxim stur auf dem Weg geblieben, ganz nah am Kinderwagen. Am vierten Tag fing er an, bei den Tieren stehen zu bleiben und diese aus sicherer Distanz zu beobachten. Zwei weitere Tage später löste er seine Hand vom Kinderwagen und ging rechts und links des Weges ins Gras, um auch die Pflanzen am Wegesrand zu untersuchen. Heute ist er zum ersten Mal mit dem Dreirad vorneweg gefahren, erst nach 50 Metern blieb er stehen und wartete auf uns.