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Lydia’s Blogparade: „Was darf man Kindern zutrauen?“

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Photo by Michal Janek on unsplash.com

Die liebe Lydia, deren Blog ich sehr gerne lese, weil sie mir die Welt aus einer ganz anderen Perspektive nahe bringt und damit für mich so vieles Selbstverständliche oft in ein anderes Licht rückt, hat zur Blogparade „Was darf man Kindern zutrauen?“ aufgerufen. Gerne mache ich mit und folge Lydias Aufruf. 

Mit Sicherheit motiviert es mich auch mitzumachen, da ich aufgrund der Lebensgeschichte meiner Kinder eine andere Sichtweise vertrete als viele andere Mütter. Denn meine Kinder haben eine harte und schmerzhafte Lebensgeschichte in ihren ersten Lebensjahren erfahren müssen. Sie lebten eben nicht wohlbehütet und umsorgt auf, sondern waren mehr oder weniger wahrscheinlich von Geburt an auf sich selbst gestellt. So können wir heute nur vermuten. Denn all dies spielte sich ab, bevor wir Maxim und Nadeschda im Alter von fast drei und bald zwei Jahren adoptierten. Mittlerweile sind unsere Kinder „groß“ mit zehn und bald neun Jahren. Aber die Wunden der Frühtraumatisierung hallen bis heute nach. Und somit wachsen sie bei uns eben nicht auf wie „normale“ Kinder, sondern sind durchaus im gemeine Sprachjargon überbehütet. Gerne mache ich mich dabei in Diskussionen um Helikoptermütter unbeliebt. Ich bin eine Helikoptermutter aus Überzeugung. Denn das ist es, was meine Kinder bis heute brauchen. 

Was kann ich meinen Kindern zutrauen? – Theoretisch ganz schön viel. So bitter es klingt, ich könnte heute tot umfallen, und meine Kinder würden irgendwie klar kommen. Denn es ist eine Situation, die sie früh in ihrem Leben gelernt haben. Gerade mein Sohn, der ein ausgeprägtes Autonomieverhalten an den Tag legt, wenn man ihn lässt, würde wahrscheinlich – oberflächlich betrachtet – gut zurecht kommen. Er könnte gut Verantwortung übernehmen, würde sich (zu) viel aufbürden, würde es dennoch schaffen. Aber es täte ihm nicht gut, und es tut ihm auch nicht gut, wenn es denn mal in Ausnahmesituationen gefordert ist. Danach folgen heute noch tagelang die Beziehungsanfragen: „Hält mich die Mama? Hält sie mich aus?“ – Und meine Tochter? Sie war fünf Monate alt, als sie von ihrer russischen Mutter getrennt wurde. Bis heute müssen wir so unglaublich viel nachnähren. Seit bald mehr als einem Jahr schläft sie (wieder) bei Richard und mir in unserem Bett, und es ist fast ein Ritual, dass sie nach dem Vorlesen dort zwischen meine Beine krabbelt und in meinem Schritt verharrt. Als würde sie sich innerlichst wünschen, in meinen Bauch zu kriechen, in dem sie (leider) niemals war. Dieses Kind muss so viel umsorgt werden. Noch heute – und Nadeschda wird bald neun Jahre alt – braucht sie jedes Kleinkindhafte Umsorgen, vom Anziehen über das Schultasche packen und dann an der Hand in die Schule laufen bis zum pünktlichen Abholen – oder ein da sein, weil ich ja im Hort arbeite – und einem begleiteten Arbeiten für die Schule. Nur so schafft sie gut ihren Alltag und ihr Leben. Dennoch weiß ich, dass sie all diese Dinge des alltäglichen Lebens auch alleine bewältigen kann. Natürlich kann sie sich alleine anziehen. Natürlich kann sie sich ihr Frühstück selbst zubereiten. – An guten Tagen erwische ich sie oft am Kühlschrank, wo sie sich selbst ihren Jogurt herausholt, oder sie steht am Toaster und wartet auf ihr Brot, um es sich dann selbst zu schmieren. Dann huscht ihr verschmitztes und spitzbübisches Lächeln über ihr Gesicht, als wolle sie mir sagen: „Mama, ich kann das alles. Aber ich will meistens nicht. Ich brauche es noch, dass Du das alles für mich machst.“

Was kann ich also meinen Kinder zutrauen? Dem einen tut die Autonomie nicht gut, die andere braucht noch so viel Mutterliebe und -fürsorge, dass es mir so oft scheint, es wäre ein Fass ohne Boden. Denn nur mit all dieser Fürsorge haben meine Kinder eine Chance zu heilen: Ihr Trauma zu überwinden, den Schmerz und die Trauer, die Wut des Verlassenseins aus der frühesten Kindheit zu verarbeiten und irgendwann einmal anders damit umzugehen.

Also traue ich meinen Kindern mit Blick auf eine Alltagskompetenz erst einmal wenig zu. Denn ich weiß, dass es am besten ist, wenn sie sich um nichts kümmern müssen und „Mama“ einfach da ist. Nur so fühlen sie sich behütet, sicher und umsorgt. Nur so können sie wachsen und sich entwickeln. Dennoch weiß ich, dass ich genauso die Pflicht und die Aufgabe habe, meine Kinder auf das Leben vorzubereiten und sie dahin zu bringen, dass sie tatsächlich einmal in der Lage sind, ihren Alltag alleine zu bewältigen. Und das ist der schmale Grat auf dem wir uns bewegen. 

Ich erinnere ich mich an eine Situation vor ein paar Jahren mittlerweile. Maxim war zum Geburtstag eingeladen bei einem Freund im Ort – seinem bis heute ersten und seelenverwandten Freund noch aus Kindergartenzeiten. Nadeschda war krank und lag schlafend auf dem Sofa, als es für Maxim Zeit war zu gehen bzw. es Zeit war, dass ich ihn zu seinem Freund bringe. Ich war im ersten Moment etwas ratlos, wollte Nadeschda nicht aufwecken, aber auf der anderen Seite musste Maxim ja zu diesem Geburtstag. Da sagte mein Sohn: „Mama, ich kann doch auch alleine zu Karl laufen.“ Wie Recht er hatte! Es war ja wirklich nur die Straße rauf. So machten wir das dann auch. Und es war gut. Denn es war auch ein Stück weit eine gesunde Eigenverantwortung, die Maxim sich in diesem Moment selbst gewählt hatte.   

So versuchen wir seitdem, in kleinen wohlgewählten Dosen, unsere Kinder an Verantwortung in ihrem Alltag heranzuführen. Pflichten und Aufgaben im Haushalt zu übernehmen, selbstständig an Dinge zu denken und diese auch zu erledigen. – Erschwerend kommt allerdings hinzu, dass wir auf dem Land leben und meine Kinder nicht die örtliche Schule besuchen. So ist unser Leben ohnehin davon dominiert, dass ich eh meine Kinder überall hinbringen muss. (Öffentliche Verkehrsmittel fallen qua schlechter Infrastruktur aus.) Wir fahren sie zur Schule, wir holen sie dort ab, wir bringen sie zu ihren Freunden, wir fahren zu den Freizeitaktivitäten, die eben alle auch nicht in unserem Ort sind. Diese Form der Unselbstständigkeit haben wir uns sozusagen eingekauft, als wir uns für die Waldorfschule entschieden haben, die mittlerweile unser Lebensmittelpunkt ist. – Nach den Jahren des vollständigen Umsorgtseins ist das nicht immer einfach. Gerade hier im Skiurlaub gab es eine riesen Diskussion, warum denn nun beide Kinder ihre Koffer selbst auspacken sollten und ihre Anziehsachen in den Schrank räumen sollten. Es ist und wird eine Gratwanderung bleiben. 

Aber am Ende muss ich für meine Kinder feststellen: Zutrauen darf man ihnen eine Menge. Doch ich muss jedes Mal wieder abspüren, ob ihnen das jetzt gut tut oder nicht. Manchmal könnte ich mehr loslassen und ihnen mehr zutrauen. Oft brauchen sie aber immer noch einmal das Quäntchen mehr „Mama“ und Fürsorge als andere Kinder.  

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Mehr im Einklang mit meinen Adoptivkindern (2) – Maxim

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Annie Spratt, unsplash.com

Wieder mehr im Einklang mit meinen Kindern zu sein, ist mein Thema in dieser Woche. Wie schon in meinem Post zu Nadeschda geschildert, hat mich dabei ein Artikel einer amerikanischen Adoptivmutter zu „Attuning to Family Harmony“ inspiriert. Alex Chase stellt ins Zentrum ihrer Ausführungen die Aussage, dass Adoptivkinder über ihr Verhalten sagen, was sie ertragen können und was nicht.

Von Beginn an hatte Maxim Schwierigkeiten mit Nähe, mit körperlicher Nähe, mit emotionaler Nähe. Solange er nicht selbst über sie entscheiden kann, ist Nähe für ihn schwer zu ertragen. Vor allem von mir, seiner Mutter. Manchmal erscheint es mir, als wäre ich, seine Mama, für ihn eine bedrohliche Person in seinem Leben. In meiner Gegenwart ist er zuweilen angespannt und angestrengt. Mehr als mit anderen Menschen. Der Blickkontakt fällt ihm schwer und ebenso körperlich Nähe und Zuneigung. Das zeigt sich vor allem in Situationen des Übergangs, wie beim Verabschieden morgens in der Schule oder beim Abholen nach der Schule. Oder wenn wir lange vertraut zusammen vorgelesen haben, zieht er sich unvermittelt wieder zurück. Genauso kann er häufig nicht mit Lob und Freude über etwas, was er erfolgreich bewältigt hat, umgehen. Ich spüre förmlich, wie ihm dann alles zu viel wird. Er kann mit dieser Nähe nicht umgehen, sie macht ihm Angst.

Führe ich mir das, was ich zum Urvertrauen geschrieben habe, wieder vor Augen, ist sein Verhalten nachvollziehbar. Denn für Maxim ist es schmerzhaft, sich in eine existenzielle Abhängigkeit zu begeben. So war seine frühe Erfahrung, folgt man Rech-Simon und Simon in ihren „Survivaltipps für Adoptiveltern“ im übertragenen Sinne: „Ich begab mich in eine Abhängigkeit von meiner leiblichen Mutter. Und aus dieser Abhängigkeit folgte eine schmerzhafte Trennung.“ Um diesen Schmerz zu verhindern, hält er auf Gedeih und Verderb an seiner (gefühlten) Autonomie fest und bekämpft jede drohende Abhängigkeit. Natürlich ist die Abhängigkeit von mir, seiner Mama, am größten. Deshalb nimmt er sie im übertragenen Sinne auch als Bedrohung war.

Bis heute fällt es mir schwer, das zu akzeptieren. Er ist eben nicht das Kind, das mich überschwänglich auf dem Schulhof begrüßt und mir um den Hals fällt, der mich immer und immer wieder mit Liebkosungen überhäuft. Er kuschelt wenig. Er ist wenig anhänglich. Mit der Zeit habe ich gelernt, ihn zu lassen. Er braucht Raum, um meine Fürsorge und Zuneigung anzunehmen. Nur wenn er diesen Freiraum hat, kann er selbst seinem eigenen Bedürfnis nach Nähe nachspüren und für sich einfordern. Ja, je mehr ich ihn loslasse, um so mehr Nähe ist zwischen uns. Seine freigewählte Nähe! Und dann ist es doch so, dass er nach einem Nachmittag, an dem er mit mir genau diesen Freiraum erlebt hat, abends auf einmal kommt und auf meinem Schoß sitzen möchte oder mich einfach von hinten fest umarmt.