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Wenn bei meinem Kindern der Alarm im Kopf losgeht…

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Mit freundlicher Unterstützung von Fotolia

Maxim sitzt am Tisch und macht Rechenhausaufgaben. Die ersten zwei Aufgaben gehen noch leicht von der Hand. Bei der dritten muss er etwas nachdenken. Er verstummt. Ich wiederhole die Aufgabe für ihn. Er erstarrt. Gefühlte Minuten passiert gar nichts. Dann wandert sein Bleistift in den Mund. Mit dem Radiergummi malt er auf seiner Tischunterlage. Dann guckt er mich wie durch einen Schleier an und sagt einfach irgendeine Zahl, die fernab von der eigentlichen Rechenaufgabe ist. Ich schaue ihn überrascht an und sage: „Mmmh, bist Du Dir sicher? Rechne nochmal nach.“ Maxim wiederholt die falsche Zahl. Ich wiederhole die Aufgabe und helfe ihm mit einem Bild. Doch Maxim hört mich schon nicht mehr. Er nimmt seinen Stift in die Faust und streicht die Aufgabe wutentbrannt durch. In der Folge wird er irgendwann den Stift und das Heft durchs Zimmer schleudern, ich werde nicht mehr ganz so verständnisvoll sein, und irgendwann wird er anfangen zu brüllen und zu toben, was irgendwann in ein verzweifeltes Weinen und Schluchzen übergeht. Ich werde ihn trösten, ihm gut zureden und nach einer halben Stunde oder auch Stunde wird er sich beruhigen und sagen: „Mama, ich habe solche Kopfschmerzen.“

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Danke an Pixabay

Nadeschda kommt wutschnaubend aus der Schule. Sie piesackt ihren Bruder und lässt nicht von ihm ab. Mich schnauzt sie nur an, wenn ich sie etwas frage. Mit geballten Fäusten stampft sie in ihr Zimmer. Sie flucht weiter, wirft ein paar Dinge durch die Gegend. Wenn ich sie frage, was los ist, stellt sie sich vor mir auf und brüllt: „Mama, ich bin wütend.“ Ja, das merke ich. Auf meine Frage, warum, kommt ein „Sag ich Dir nicht.“ Okay, ich lasse sie eine Weile in Ruhe, doch ihre Stimmung bessert sich nicht. Als unsere Übzeit beginnen soll, ist sie immer noch grantig und motzt. Erst beim Händewaschen entlädt sich die gesamte Wut und Traurigkeit. Erst schreit sie lauthals, dann weint sie bitterlich. Unter Tränen erzählt sie, dass ihre Freundin in der Schule sie im Gesicht gekniffen hat. „Ich gehe da nie mehr hin, Mama. Die Schule soll abgerissen werden.“ Schluchzend sitzt sie dann auf meinem Schoß.

Wir verbringen einen friedlichen Nachmittag im Garten. Die Kinder plantschen vergnügt in unserem Schwimmbecken, wir genießen die sommerliche Sonne, lachen viel, das Spiel ist entspannt. Plötzlich ziehen Gewitterwolken auf. Doch ein Donnern ist noch nicht zu hören. Die Kinder kommen aus dem Wasser, Maxim rutscht auf der Leiter ein wenig ab und verletzt sich leicht am kleinen Zeh. Ist er meist hart im Nehmen, steigert er sich schnell in ein hysterisches Weinen. Er zittert. Er hat Angst. Ich wickele ihn in ein Handtuch und tröste ihn. Doch plötzlich stimmt Nadeschda aus heiterem Himmel in das Weinen ihres Bruders mit ein. Sie zittert wie Espenlaub. Die Panik, die ihren Körper durchzieht, ist offensichtlich. Auch sie wickele ich in ein Handtuch und setze sie zu mir auf den Schoß. Jedes Kind auf ein Bein und halte sie ganz fest. Nach einer Weile haben sie sich so weit beruhigt, dass wir ins Haus gehen können. Doch auch dort halte, wärme und beruhige sie noch eine Stunde, bis ihre Angst verflogen ist. – Das Gewitter zog an unserem Ort vorbei, mehr als ein paar Regentropfen kam nicht herunter.

Seitdem ich Sherrie Eldridges Beitrag zu „The Game Changer…“ gelesen habe, gehen mir so viele Situationen nicht mehr aus dem Kopf, in denen bei meinen Kindern der „Alarm“ losgeht. Frust bei den Hausaufgaben, Wut und Trauer über eine Gemeinheit einer Freundin in der Schule, ein harmloses Gewitter. Die Palette der Auslöser ist vielfältig und unüberschaubar. Und erst jetzt, wenn ich darüber nachdenke, wird mir bewusst, mit wie vielen unterschiedlichen Ausprägungen sich das zeigt. Denn nicht immer sind es Wutanfälle oder offensichtliche Angstmomente. Eine von Nadeschdas Lehrerinnen sagte neulich erst zu mir: „Ich spüre immer noch diese Anspannung in ihr.“ Und Maxim’s Klassenlehrerin schilderte uns in einem Elterngespräch: „ Er ist ja ein Junge, der alles immer besonders gut machen möchte.“ Ich war mir bewusst, dass die Schule anstrengend für Nadeschda ist. Stets bemüht, dort allen Anforderungen gerecht zu werden. Darauf führte ich auch die Anspannung zunächst zurück. Doch das ist nur ein Teil der „Wahrheit“. Wenn ich mir wieder das Bild des Rauchmelders vor Augen führe, wird mir klar, warum Nadeschdas Körper in der Schule immer in einem Zustand der Anspannung ist. Sie ist dort in ständiger Habacht-Stellung, als müsse sie aufpassen, wann das nächste Mal der Rauchalarm in ihrem Kopf losgeht. Genauso bei Maxim. Er versucht, in dem er sich so bemüht, alles gut und richtig zu machen, zu vermeiden, dass der Alarm ausgelöst wird. So versucht er Kontrolle über das Geschehen in der Schule zu bewahren. Dass das für ihn anstrengend ist, ist nachvollziehbar. Erst Zuhause bei den Hausaufgaben entlädt sich dann der Druck mit aller Macht. Und kaum verwunderlich, dass er am Ende eines jeden Ausbruchs über Kopfschmerzen klagt.

Ich weiß, dass unsere Kinder mit der Zeit einen anderen Umgang mit ihrem Rauchmelder im Kopf finden werden und auch schon gefunden haben. Immerhin gibt es viele Zeiten, in denen sie sich besser entspannen können, in denen sie gelöst und angstfrei durch ihr Leben gehen. Doch es braucht noch mehr als Zeit und Geduld, dass sie auch in der Schule ihre permanente Anspannung etwas ablegen können. Ich weiß allerdings noch nicht was. Ich für mich habe nur erkannt, dass vor allem Maxims Wutausbrüche bei den Hausaufgaben zu einem Teil Anzeichen einer Leistungsverweigerung und Reaktionen auf einen vermeintlichen Leistungsdruck sind. Häufig ist es aber zu einem anderen Teil der Alarm in seinem Kopf, der alle Sicherungen durchbrennen läßt. Möge mir dieses Bild beim nächsten Mal gegenwärtig sein….

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Wie fühlt sich ein Kind mit einer desorganisierten Bindungsstörung…

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Mit freundlicher Unterstützung von Pixabay

Wieder lese ich viel über Leistungsverweigerung und Bindungsstörungen. Das hat zum einem etwas mit meiner Ausbildung zu tun. Zum anderen hallt aber auch der „Angriff auf das Urvertrauen“  immer noch nach.

Vor ein paar Tagen hat erneut Sherrie Eldridge einen knackigen Post zu ihrer eigenen Bindungsstörung veröffentlicht:

The Game Changer for My Attachment Disorder

Stellt Euch einfach nur vor, Ihr werdet Mitten in der Nacht von einem Rauchmelder geweckt. Wie geht es Euch dann? … Genau. Und so fühlen sich Adoptivkinder jeden Tag. Jeden Tag! Jede Stunde, die sie wach sind, und auch jede Stunde, wenn sie schlafen. Sie leben, so Sherrie Eldridge, mit einem permanent warnenden Rauchmelder in ihrem Kopf.

Ich fand dieses Bild so treffend und es erklärt so vieles. Auch im Leben meiner Kinder…

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Wie sich ein Baby fühlt, dass nach der Geburt seine Mutter vermisst…

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„(…) Was there something wrong with me?

Was I ugly? Too little?

Is that why she suddenly whisked me off to a dimly-lit room where pleading and plaintiff cries hovered over me, like smog in LA? (…) “

Unter dem Titel „My Set-Up for Reactive Attachment Disorder“ hat Sherrie Eldridge einen aktuellen Beitrag veröffentlicht, in dem sie die Gefühle eines Neugeborenen beschreibt, dass von seiner Mutter unmittelbar nach der Geburt getrennt wird und zur Adoption freigegeben ist.

Reactive Attachment Disorder, so heißt die Bindungsstörung, die entstehen kann, wenn Säuglinge sofort nach der Geburt von ihrer Mutter getrennt werden. Diese Bindungsstörung hat mich schon oft umgetrieben. Nicht zuletzt, da wir selbst mit unseren Kindern, auf jede Fall bei Maxim, in einer gewissen Form davon konfrontiert sind. Nicht zuletzt deshalb hat mich auch das Buch von Tina Traster „Rescuing Julia Twice“ so bewegt.

Sherrie Eldridge, selbst Adoptierte und eine führende Beraterin in der amerikanischen „Adoptionsszene“ und in der Adoptionsliteratur hat nun einen Blogbeitrag zu den Anfängen von Reactive Attachment Disorder veröffentlicht, bei dem mir beim Lesen einfach die Spucke wegblieb und die Tränen kamen:

My Set-Up for Reactive Attachment Disorder

Aber lest selbst. Stellt Euch vor, wie es leiblichen Kindern bei der Geburt geht. Und dann wisst Ihr, was gerade den Kindern, die bereits unmittelbar nach der Geburt von ihrer Mutter zurückgelassen wurden, fehlt. Ich denke, treffender kann man das nicht beschreiben. Auch wenn es noch so hart ist, es ist wahrscheinlich die Wahrheit. Denn die Autorin hat es selbst erlebt.

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Schwierige Liebe – Über das Bindungsverhalten von Adoptivkindern

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Alex Blajan, unsplash.com

In Vorbereitung auf unsere Adoption zeigte eine Seminarleiterin uns einen Teddybären. Er hatte unzählige abgeschnitten Fäden an Armen und Beinen. „So wird ihr Kind zu ihnen kommen,“ erläuterte sie uns, „mit all seinen abgeschnittenen und gekappten Bindungen, die aus seinem früheren Leben nicht weitergingen. Seine leiblichen Eltern, möglicherweise Geschwister, Erzieherinnen im Heim, die irgendwann nicht mehr da waren, andere Kinder aus der Heimgruppe, die aus welchen Gründen auch immer irgendwann nicht mehr da waren etc. etc. etc.“ An diesen Teddybären muss ich in der letzten Zeit wieder denken.

Es steht außer Frage, dass meine Kinder ein verletztes Bindungsverhalten hatten, als sie zu uns kamen. Das brachte ihre Geschichte mit sich. Genauso wie sie kein Urvertrauen entwickeln konnten, haben sie auch nicht lernen dürfen, sich an eine verlässliche Bezugsperson zu binden. Beide zeigten Verhaltensmuster von unsicher vermeidender Bindung, wie in der Fachliteratur Bindungstypen bei Kindern klassifiziert werden, (sie demonstrieren eine Pseodunabhängigkeit, bzw. Autonomie und ein zuweilen auffälliges Kontakt- und Vermeidungsverhalten) und einer unsicheren ambivalenten Bindung (ein Schwanken zwischen klammerndem und aggressiv-ablehnendem Verhalten).

Als Maxim und Nadeschda zu uns kamen, taten wir all das, zu dem uns Adoptionsspezialisten und die Fachliteratur geraten hatten: In den ersten Wochen begaben wir uns in die Isolation. Nur wir vier waren ständig zusammen. Kontakte zu Freunden oder anderen Familienmitgliedern gab es kaum und wenn dann nur nach und nach und immer wohl dosiert bei uns Zuhause. So sollten Maxim und Nadeschda lernen, dass Richard und ich ihre wichtigsten Bezugspersonen sind, dass wir immer für sie da sind. Genauso waren Richard und ich die einzigen, die alle „intimen Alltäglichkeiten“ mit ihnen verrichteten. Nur wir wuschen sie, nur wir gaben ihnen zu essen, nur wir zogen sie an, nur wir gingen mit ihnen auf die Toilette, nur bei uns gingen sie an der Hand, nur wir brachten sie ins Bett. Erst nach Monaten ließen wir auch Dritte, wie unsere Kinderfrau oder meinen Bruder, einzelne Aufgaben der Fürsorge übernehmen. Und auch heute noch, Jahre danach ist es ein ungeschriebenes Gesetz zwischen Richard und mir, dass wir maximal an einem Abend in der Woche Maxim und Nadeschda von unserer Kinderfrau oder Daniel ins Bett bringen lassen. Die Konsequenz mit der wir das taten, schien sich auszuzahlen. Denn unsere Kinder schienen recht bald schon an uns gebunden zu sein. Lange glaubten wir, auf einem guten Weg zu sein.

Wenn ich heute in einem Seminar sitze und etwas über die Bindung von Adoptivkindern höre, muss ich manchmal müde lächeln. Da werden die vier unterschiedlichen Bindungstypen erläutert und empfohlen, genau das zu tun, was ich eben beschrieben habe. Auch den Rat, die Entwicklung des Bindungsverhaltens nachzunähren, haben wir befolgt. Wir sind mit Maxim und Nadeschda zurück in ihr Babystadium gegangen – vielleicht bei Maxim zu wenig – aber dennoch wir haben es getan. Doch dem Optimismus, dass nach wenigen Monaten oder einem Jahr, so eine stabile Bindung zwischen Adoptivkindern und -eltern entsteht, kann ich heute nicht mehr teilen.

Bindungsarbeit hört nicht auf. Auch Jahre danach noch brechen immer einmal wieder alte Wunden auf, und unsere Kinder stellen die Bindung an uns Eltern in Frage. Maxims Wutanfälle sind ein Beispiel dafür, genauso wie Phasen, in denen er den Blickkontakt meidet, mich ignoriert. Nadeschdas Verlustängste, ihr Klammern an mich, um mich dann im nächsten Moment wieder wegzuschieben, ein anderes Zeichen. Manchmal liegt es auf der Hand bei genauerer Betrachtung, warum wieder alte Verletzungen berührt wurden, wie bei meinem Zuspätkommen . Manchmal bleibt mir die Ursache auch über Wochen verborgen. Ich kann dann nur versuchen, meinen Kindern sklavisch penible Verlässlichkeit und Sicherheit zu bieten, wieder zurückzugehen in das Nachnähren früherer Zeiten. Ihnen in jeder Sekunde zu zeigen, dass ich für sie da bin, dass ich sie halte, dass ich nie aus dem Kontakt mit ihnen gehe, egal wie schwierig es vielleicht auch sein mag. Für mich ist die „Bindungsarbeit“ bei Adoptivkindern ein lebenslanger Prozess. Ich wage zu bezweifeln, dass er jemals abgeschlossen werden kann.

Auf der anderen Seite ist er für mich ein Lehrstück in absoluter bedingungsloser Liebe. Er lehrt mich Demut und Achtsamkeit. Und die dann manchmal überraschenden Liebesbekundungen meiner Kinder erfüllen mich mit großer Dankbarkeit. Wenn Maxim mir seinen Hosentasche mit Steinen ausleert und sagt: „Mama, die habe ich alle nur für Dich gesammelt. Für Dich ganz allein, meine Supermama.“ Oder wenn Nadeschda mir in der Schulmensa entgegenläuft und aus vollem Halse ruft: „Meine Mami!“ Dann muss ich wieder an den Teddy denken. Ich lächle innerlich und spüre, dass er auch mit seinen vielen abgeschnittenen Fäden langsam zur Ruhe kommt und neben den vielen losen Enden neuer Halt  mit neuen fest verknüpften Fäden wächst.