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Herkunft und Heimat (2) – Vom Umgang meiner Kinder mit ihrer Herkunft

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Mit freundlicher Unterstützung von pixabay

Neulich stand Nadeschda vor der großen Weltkarte im Spielzimmer. Geschäftig ordnete sie die Flaggen zu einzelnen Ländern zu, die sie schon mit uns bereist hatte. Nach der schweizer, deutschen, französischen und amerikanischen Flagge hielt sie inne und fragte mich: „Und, Mama, welche Fahne ist noch wichtig?“ Ich antwortete: “Russland vielleicht? Denn da bist Du ja geboren.“ Vehement entgegnete daraufhin meine Tochter: „Nee, Mama, nee! Ich bin in Amerika geboren. Und da, da konnten sie sich um mich als Baby nicht kümmern und dann bin ich zu meiner deutschen Mama gekommen.“ „Und wer ist Deine deutsche Mama?“ Nadeschda guckt mich leicht genervt an: “Die ist doch im Himmel!“ Spätestens jetzt habe ich das Bedürfnis einzugreifen und weniger das geografische Fachwissen meiner kleinen Tochter aufzufrischen, als noch einmal ihre Lebensgeschichte ihr in Erinnerung zu bringen. „Nein, Nadeschda, Deine deutsche Mama bin ich. Aber Du bist in Russland geboren, genauso wie Maxim auch. Deine russische Mama konnte sich nicht mehr richtig um Euch kümmern und hat um Hilfe gebeten, neue Eltern für Euch zu suchen, die Euch ein Zuhause geben können, in dem ihr gut und sicher versorgt seid. Da haben sie den Papa und mich angerufen und wir sind nach Russland geflogen, um Euch kennenzulernen. Und nachdem der Richter geprüft hat, ob das auch alles in Ordnung ist, durften wir Euch zu uns nehmen.“ „Warum musste das der Richter prüfen?“ „Na, weil es Deiner russischen Mutter und auch dem Richter sehr sehr wichtig, war, dass ihr wirklich gute Eltern bekommt.“ Nadeschda kommentiert nur noch mit einem „Okay.“ Sie beginnt auf einem Bein zu hüpfen und beendet das Gespräch mit den Worten: „Mama, ich muss das jetzt üben.“

Herkunft und Heimat  beschäftigen langsam auch meine Tochter. Nadeschda ist noch an den Anfängen der bewussten Auseinandersetzung mit ihrer Lebensgeschichte. Doch es arbeitet in ihr, wie sie es auch in ihren Gedanken zur Wiedergeburt  zum Ausdruck brachte. Lange hat sie all das verdrängt, beharrlich daran festgehalten, dass sie ja im Gegensatz zu Maxim in meinem Bauch war. Selbst wenn sie mit einem trockenen Kommentar meines Sohnes konfrontiert wurde „Nein, waren wir nicht. Das weisst Du doch. Wir waren im Bauch unserer russischen Mama.“ und sich daraufhin immer eine kindliche Nein-Doch-Diskussion entfachte, bis ich intervenierte. Maxim hat seine Herkunft für sich für den Moment klar gestellt. Er ist in Russland geboren. Er hat zwei Mamas, eine in Deutschland und eine in Russland. Und die russische Mama ist für ihn im Himmel. Dass sie sich nicht mehr richtig um ihn und Nadeschda kümmern konnte, das will er nicht wissen. Das kann er nicht ertragen. Für ihn ist sie im Himmel. Damit kann er leben.

nesting-doll-697651_1280Auch seine russische Herkunft beginnt Maxim allmählich zu begreifen. Immer schon haben wir gelegentlich russisch gekocht und an Weihnachten gibt es immer ein russisches Gericht in unserem festlichen Menü. Wir lesen russische Märchen und Erzählungen vor. Wir feiern das russische Lichterfest. Ein Schulfreund von Maxim ist russischer Abstammung. In der Schule kokettiert Maxim damit, dass er in Russland geboren ist und dass ich Russisch spreche. Weiter geht er allerdings nicht. Manchmal habe ich das Gefühl, dass es ihn amüsiert, sein Gegenüber in der Ahnungslosigkeit versinken zu lassen, wenn er dann nicht weiter auf seine Lebensgeschichte eingeht. Manchmal weiss ich, dass er mehr zu erzählen nicht ertragen könnte. Das wäre zu viel von sich Preis zu geben. – Doch allmählich zeigt er zunehmend Interesse an Russland. Er möchte russisch (wieder) lernen. Er möchte mit uns nach Russland fahren. Seine russische Mutter will er (noch) nicht suchen – die ist ja für ihn im Himmel -. Aber er möchte das Kinderheim sehen und besuchen, in dem er gelebt hat. Bei ihm beginnt nun so etwas wie die Suche nach einer Heimat und konkretes Interesse an seiner Herkunft nimmt zu.

Nadeschda hingegen ist noch an dem Punkt, an dem sie ihre Lebensgeschichte losgelöst von einem geografischen Bezug für sich verarbeiten und so annehmen lernen muss, dass es für sie ertragbar ist. Nicht von Beginn an bei uns gewesen zu sein und stattdessen von ihrer russischen Mutter schmerzlich getrennt worden zu sein, ist im Bewussten für sie kaum zu verkraften. Es gehrt nach wie vor die tiefe Verletzung des Weggegeben worden zu seins in ihr. Auch wenn wir genau diesen Punkt ihrer Lebensgeschichte manchmal versuchen, weniger hart darzustellen, so spürt sie genau das, diese brutale Härte des Verlustes. Und am Ende muss ich sagen: Sie hat so recht und ihr Schmerz ist so berechtigt. Auch wenn es tausende von Gründen gegeben hat, warum ihre russische Mutter neue Eltern hat suchen lassen, ändert das nichts an der Tatsache, dass meine Tochter weggeben wurde. Das muss Nadeschda erst verarbeiten. Und dann wird sie sich vielleicht mehr mit ihrer Herkunft und ihren Wurzeln beschäftigen.