
Mit freundlicher Unterstützung von Fotolia
Neulich sprach ich mit einer bekannten Adoptivmutter über „Biografiearbeit“ mit unseren Adoptivkindern. Unsere Kinder werden älter und größer, und das Thema der Herkunft spielt immer öfter eine Rolle. Meistens im Alter zwischen acht und zehn Jahren, wenn der nächstes Identitätsschub kommt und eine stärkere Abgrenzung im Kind vom eigenen Ich zur äußeren Umwelt sich entwicklet, stellt sich das Kind die Frage nach der biologischen Familie und dem, was wirklich Familie ist. Darauf müssen Adoptivfamilien vorbereitet sein. Dabei geht es nicht nur darum, dass wir Geld sparen für einen Flug und eine Reise in das Herkunftsland unserer Kinder, sondern dass wir Antworten auf ihre Fragen haben.
Wer ist meine leibliche Mutter? Warum hat sie mich abgegeben? Warum bin ich nicht aus Deinem Bauch gekommen? Wo lebt sie heute? Lebt sie überhaupt noch? Wie war mein Leben im Kinderheim? Warum habt gerade Ihr mich adoptiert? – Das könnten mögliche Fragen sein. Es geht aber auch darum, welches Bild von „Familie“ wir unseren Kindern transportieren. Dass das Entstehen unserer Familie eine andere war, als bei vielen Familien, die sich im sozialen Umfeld meiner Kinder bewegen, ist die eine Geschichte. Doch wie sieht ihre Familie nun heute aus? Die Mischung aus ihrer biologischen und ihrer sozialen Familie, in der aber auch nicht alles Eitelsonnenschein ist und wenig mit dem Klischee der harmonischen „Rama“- Familie zu tun hat. Das Gespräch mit der Bekannten ließ mich nachdenken. Denn, wenn ich meine Kinder begleiten möchte, einen gesunden Umgang mit ihrer Herkunftsgeschichte und heutigen Familie zu finden, so muss ich selbst noch einmal in meine eigene Biografie zurückgehen und einen Umgang mit meiner eigenen Familie und dem, was daraus für meine Kinder wird, finden.
Wenn Maxim über seine Familie spricht, dann hat diese fünf Mitglieder: Er, Nadeschda, Mama, Papa und Onkel Daniel. Der russische Teil seiner Herkunftsfamilie spielt für ihn im Alltag (noch) keine dominante Rolle. Es sind eher im Moment seine kulturellen Wurzeln , die ihn interessieren. Seine russische Mutter ist in seiner momentanen Wahrnehmung gestorben, sie lebt für ihn im Himmel. Alles andere schiebt er noch ganz weit von sich, ganz zu Schweigen von der Frage, ob wir seine russische Mutter irgendwann einmal suchen werden. Sicherlich würde ich mich mit Maxim, wenn er alt genug ist, auf diese Suche machen. Ich für meinen Teil habe inzwischen eine klare Haltung gegenüber der russischen Mutter und sehe dem – zumindest im Moment – gelassen entgegen. Spannend ist hingegen die Frage nach den Geschwistern, die Maxim und Nadeschda noch in Russland haben. Sollen wir diese jetzt schon suchen? Dank Internet und sozialen Medien dürfte dies nicht schwierig sein. Und ich kenne immer mehr Adoptivfamilien, die beginnen, Kontakte zu den leiblichen Geschwistern zu knüpfen. Doch Maxim und Nadeschda haben noch nicht einmal realisiert, dass sie tatsächlich noch zwei Geschwister in Russland haben. Diese weitere Familie findet nicht statt.
Vielleicht – und hier komme ich dann zu der Auseinandersetzung mit meiner eigenen Biografie – findet bei meinen Kindern diese „erweiterte Familie“ nicht statt, weil sie bei Richard und bei mir auch nicht stattfindet. Denn auch unsere biologischen Herkunftsfamilien sind so viel größer als der harte Kern, den Maxim als seine Familie wahrnimmt. Schon allein, dass im Grunde zu unserer Familie auch noch eine Omi – meine Mutter, die sich immer seltener blicken lässt -, gehört, ist ihm nicht bewusst. Bei näherer Betrachtung kaum verwunderlich, wenn ich mir mein eigenes gespaltenes Verhältnis zu ihr ansehe. Unsere Familie war aber mal viel größer. Oder sollte ich sagen, sie könnte so viel größer sein, würden nicht Neid und Missgunst auf der einen Seite regieren, und ein Mangel an sozialer Empathie auf der anderen Seite herrschen. Denn zu meiner Stiefmutter und meinen Halbgeschwistern habe ich keinen Kontakt mehr. Nachdem wir uns in der Auseinandersetzung um das Erbe meines Vaters endgültig zerfleischt haben, ist jegliche Basis für einen weiteren Kontakt geschwunden. Vielleicht war es aber auch nur, dass wir ohnehin nie eine gemeinsame Basis hatten, und der Kontaktabbruch nur die logische Konsequenz war, als mein Vater nicht mehr als Bindeglied da war. Nur weil wir ein paar Gene mit einander teilen, müssen wir nicht befreundet sein. Jedoch entbehren meine Kinder damit ein paar weitere Onkels und Tanten. Ähnlich auf Richards Seite der Familie: Auch zu seinem Bruder und dessen Familie gibt es keinen Kontakt mehr. Auch hier trennten sich die Wege gänzlich, nachdem meine Schwiegermutter gestorben war. So haben meine Kinder Cousins und Cousinen, von deren Existenz sie nichts wissen.
Manchmal finde ich das schade. Wir werden irgendwann für die Schule mit unseren Kindern einen Stammbaum malen müssen, in dem es viele leere und unbekannte Stellen gibt. Auf der einen Seite macht mich das traurig, denn immer noch trauere ich dem bunten harmonischen Familienbild aus der Margarine-Werbung nach. Doch auf der anderen Seite weiss ich, dass dieses harmonische Familienbild ein Mythos ist. So würde es bei uns nie sein. Wie gesagt, gemeinsame Gene sind nicht die Garantie für ein friedliches und freundschaftliches Miteinander. Muss ich also meinen Kindern diesen Zwang antun? Nein. Dennoch bleibt die Frage, ob ich ihnen nicht den Weg offenhalten kann, ihre spätere Familie so für sich zu definieren, wie sie es für richtig halten und für sich brauchen werden. Dies gilt sowohl für ihre russische Familie als auch für ihre deutsche Familie.