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Charlottes Sonntagslieblinge (4)

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Ben White, unsplash.com

Es gibt so unendlich vieles, für das ich dankbar sein kann in meinem Leben mit Maxim und Nadeschda. Auch wenn wir gerade wieder eine Zeit haben, die mit Herausforderungen und dem schwierigen Umgang mit Veränderungen, so klein sie auch sind, gekennzeichnet ist. Umso mehr will ich mir all die positiven Kleinigkeiten in unserem Alltag ins Gedächtnis rufen, die diesen so unglaublich bereichern. Deshalb blicke ich inspiriert von  Mirjam von Perfektwir auf meine eigenen, ganz persönlichen Lieblinge dieser Woche. Hier sind sie wieder, meine drei Sonntagslieblinge:

  1. Nach einer leichten Lebensmittelvergiftung, die uns in der vergangenen Woche ereilt hat, sind wir alle wieder gesund. Das Schicksal hält doch immer wieder ein Lehrstück bereit. Wenn alles zu viel wird, dann kommt von irgendwo her ein Zeichen: „Tue langsam und mit Bedacht.“ Doch wäre mir lieber gewesen, die erzwungene Ruhe ohne Magenschmerzen und ohne Sorgen um zwei kranke Kinder zu genießen. Dennoch: Es war der richtige Hinweis zur richtigen Zeit.
  2. Ein wunderbarer Herbstspaziergang im Wald mit unzähligen Kilos an Kastanien, die wir gesammelt haben.
  3. Ein ausgiebiger Vorlesenachmittag, an dem sich Maxim, Nadeschda und ich uns auf die Couch kuscheln, Kekse essen, Erdbeertee trinken und die Kinder in meinem Schoß versunken, meinen Geschichten lauschen.

Für heute bin ich dankbar und freue mich auf die neue Woche. Habt auch Ihr einen wunderbaren Start in einen zauberhaften Herbstmontag!

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Schwierige Liebe – Über das Bindungsverhalten von Adoptivkindern

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Alex Blajan, unsplash.com

In Vorbereitung auf unsere Adoption zeigte eine Seminarleiterin uns einen Teddybären. Er hatte unzählige abgeschnitten Fäden an Armen und Beinen. „So wird ihr Kind zu ihnen kommen,“ erläuterte sie uns, „mit all seinen abgeschnittenen und gekappten Bindungen, die aus seinem früheren Leben nicht weitergingen. Seine leiblichen Eltern, möglicherweise Geschwister, Erzieherinnen im Heim, die irgendwann nicht mehr da waren, andere Kinder aus der Heimgruppe, die aus welchen Gründen auch immer irgendwann nicht mehr da waren etc. etc. etc.“ An diesen Teddybären muss ich in der letzten Zeit wieder denken.

Es steht außer Frage, dass meine Kinder ein verletztes Bindungsverhalten hatten, als sie zu uns kamen. Das brachte ihre Geschichte mit sich. Genauso wie sie kein Urvertrauen entwickeln konnten, haben sie auch nicht lernen dürfen, sich an eine verlässliche Bezugsperson zu binden. Beide zeigten Verhaltensmuster von unsicher vermeidender Bindung, wie in der Fachliteratur Bindungstypen bei Kindern klassifiziert werden, (sie demonstrieren eine Pseodunabhängigkeit, bzw. Autonomie und ein zuweilen auffälliges Kontakt- und Vermeidungsverhalten) und einer unsicheren ambivalenten Bindung (ein Schwanken zwischen klammerndem und aggressiv-ablehnendem Verhalten).

Als Maxim und Nadeschda zu uns kamen, taten wir all das, zu dem uns Adoptionsspezialisten und die Fachliteratur geraten hatten: In den ersten Wochen begaben wir uns in die Isolation. Nur wir vier waren ständig zusammen. Kontakte zu Freunden oder anderen Familienmitgliedern gab es kaum und wenn dann nur nach und nach und immer wohl dosiert bei uns Zuhause. So sollten Maxim und Nadeschda lernen, dass Richard und ich ihre wichtigsten Bezugspersonen sind, dass wir immer für sie da sind. Genauso waren Richard und ich die einzigen, die alle „intimen Alltäglichkeiten“ mit ihnen verrichteten. Nur wir wuschen sie, nur wir gaben ihnen zu essen, nur wir zogen sie an, nur wir gingen mit ihnen auf die Toilette, nur bei uns gingen sie an der Hand, nur wir brachten sie ins Bett. Erst nach Monaten ließen wir auch Dritte, wie unsere Kinderfrau oder meinen Bruder, einzelne Aufgaben der Fürsorge übernehmen. Und auch heute noch, Jahre danach ist es ein ungeschriebenes Gesetz zwischen Richard und mir, dass wir maximal an einem Abend in der Woche Maxim und Nadeschda von unserer Kinderfrau oder Daniel ins Bett bringen lassen. Die Konsequenz mit der wir das taten, schien sich auszuzahlen. Denn unsere Kinder schienen recht bald schon an uns gebunden zu sein. Lange glaubten wir, auf einem guten Weg zu sein.

Wenn ich heute in einem Seminar sitze und etwas über die Bindung von Adoptivkindern höre, muss ich manchmal müde lächeln. Da werden die vier unterschiedlichen Bindungstypen erläutert und empfohlen, genau das zu tun, was ich eben beschrieben habe. Auch den Rat, die Entwicklung des Bindungsverhaltens nachzunähren, haben wir befolgt. Wir sind mit Maxim und Nadeschda zurück in ihr Babystadium gegangen – vielleicht bei Maxim zu wenig – aber dennoch wir haben es getan. Doch dem Optimismus, dass nach wenigen Monaten oder einem Jahr, so eine stabile Bindung zwischen Adoptivkindern und -eltern entsteht, kann ich heute nicht mehr teilen.

Bindungsarbeit hört nicht auf. Auch Jahre danach noch brechen immer einmal wieder alte Wunden auf, und unsere Kinder stellen die Bindung an uns Eltern in Frage. Maxims Wutanfälle sind ein Beispiel dafür, genauso wie Phasen, in denen er den Blickkontakt meidet, mich ignoriert. Nadeschdas Verlustängste, ihr Klammern an mich, um mich dann im nächsten Moment wieder wegzuschieben, ein anderes Zeichen. Manchmal liegt es auf der Hand bei genauerer Betrachtung, warum wieder alte Verletzungen berührt wurden, wie bei meinem Zuspätkommen . Manchmal bleibt mir die Ursache auch über Wochen verborgen. Ich kann dann nur versuchen, meinen Kindern sklavisch penible Verlässlichkeit und Sicherheit zu bieten, wieder zurückzugehen in das Nachnähren früherer Zeiten. Ihnen in jeder Sekunde zu zeigen, dass ich für sie da bin, dass ich sie halte, dass ich nie aus dem Kontakt mit ihnen gehe, egal wie schwierig es vielleicht auch sein mag. Für mich ist die „Bindungsarbeit“ bei Adoptivkindern ein lebenslanger Prozess. Ich wage zu bezweifeln, dass er jemals abgeschlossen werden kann.

Auf der anderen Seite ist er für mich ein Lehrstück in absoluter bedingungsloser Liebe. Er lehrt mich Demut und Achtsamkeit. Und die dann manchmal überraschenden Liebesbekundungen meiner Kinder erfüllen mich mit großer Dankbarkeit. Wenn Maxim mir seinen Hosentasche mit Steinen ausleert und sagt: „Mama, die habe ich alle nur für Dich gesammelt. Für Dich ganz allein, meine Supermama.“ Oder wenn Nadeschda mir in der Schulmensa entgegenläuft und aus vollem Halse ruft: „Meine Mami!“ Dann muss ich wieder an den Teddy denken. Ich lächle innerlich und spüre, dass er auch mit seinen vielen abgeschnittenen Fäden langsam zur Ruhe kommt und neben den vielen losen Enden neuer Halt  mit neuen fest verknüpften Fäden wächst.

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Fehlendes Urvertrauen – Ein Erklärungsversuch für die „Fleischwurst“

Der Beitrag von Katja von „home is where the boys are“  zu „Stark fürs Leben“ hat mich schon lange beschäftigt. Katja schreibt darin über Urvertrauen und Vertrauen. Wohlmöglich hat mich deshalb auch die Situation neulich, als drei Scheiben Fleischwurst in einem Drama endeten, so getroffen. Die ganze Situation fiel auf fruchtbaren, bereits gepflügten Boden. Ich hatte Tage vorher schon gespürt, dass Maxim und ich ein Thema hatten.

Urvertrauen ist nicht angeboren. Es entsteht in den ersten zwei bis drei Lebensjahren eines Kindes. Da beginnt es zu lernen, seiner Umwelt und seinen wichtigsten Bezugspersonen zu vertrauen. Denn all seine physischen und emotionalen Bedürfnisse werden (meist) vor allem durch die Mutter gestillt. Wenn das Baby Hunger hat, wird es gefüttert. Ist ihm kalt, wird es gewärmt. Hat es Angst, wird es getröstet und behütet. Dieser Prozess des Urvertrauens ist dabei gebunden an die „zuverlässige und nur für relativ kurze Zeiträume unterbrochene Anwesenheit ganz konkreter unverwechselbarer Menschen“, so schreiben Rech-Simon und Simon in ihren „Survivaltipps für Adoptiveltern“. Mit diesem Urvertrauen entsteht eine sichere und stabile Bindung zur Mutter, das Kind ist in der Lage sich an seine Mutter zu binden.

Adoptivkinder, vor allem Adoptivkinder mit Heimerfahrung, erleben stattdessen in ihren ersten Lebensjahren bis zur Adoption ein Leben mit wechselnden Betreuern und Erzieherinnen. Essen gibt es nach einem festen Zeitplan und nicht dann, wenn das Baby oder Kleinkind Hunger hat. Direkte unmittelbare Zuwendung ist nur wenig und sehr eingeschränkt möglich. Denn schließlich leben bis zu zehn Kinder im Schnitt in solchen Heimgruppen und selten sind ausreichend Betreuerinnen da. Vor dieser Heimerfahrung waren die Lebensumstände auch alles andere als behütet und fürsorglich. Adoptivkinder haben also kein Urvertrauen entwickeln können.

Stattdessen haben sie gelernt, dass sie sich nur auf sich selbst verlassen können. Dies zeigt sich in einem ausgeprägten Drang nach Autonomie. Sich in existenzielle Abhängigkeit von anderen Menschen zu begeben, ist in der Gedankenwelt eines Adoptivkinds gefährlich und tut weh. Deshalb muss es sich seine eigene Autonomie beweisen und zwar so, dass es alles bekämpft, zu dem eine Abhängigkeit besteht. Je älter das Kind ist, desto weniger geht es dabei um die körperlichen Bedürfnisse, sondern vielmehr um das Selbstbestimmen des Verhaltens. Meist lehnen sie sich gegen jede Form von Disziplin auf.

Das Urvertrauen werden diese Kinder nicht mehr erlernen. Mit der Zeit und mit viel Geduld und Fürsorge entsteht jedoch eine stabile Bindung zwischen Adoptivkind und Adoptiveltern. In dieser Bindung gewinnt das Kind tiefes Vertrauen zu seinen Adoptiveltern. Aber in Krisenzeiten, in denen es dem Adoptivkind aufgrund unterschiedlicher Umstände nicht gut geht, brechen der Drang nach Autonomie und alte Überlebensmuster wieder hervor.

Was war also passiert, an dem Abend, als Maxim wegen drei Scheiben Fleischwurst einen lange nicht mehr in dieser Intensität aufgetretenen Tobsuchtsanfall bekam? Vorab: Wir befinden uns im Moment für Maxim gefühlt in einer „Krisenzeit“. Es war das Ende der Sommerferien und Maxim erwartete mit Schulbeginn eine neue Lehrerin. Seine alte Klassenlehrerin aus dem ersten Schuljahr war an eine andere Schule gewechselt, nicht ganz unfreiwillig, denn Elternschaft und Schule waren unzufrieden mit ihren pädagogischen Kompetenzen. Jede Veränderung bringt Unruhe in das Leben meiner Kinder. Der anstehende Lehrerwechsel verunsicherte Maxim. Der Abschied von der alten Lehrerin, auch wenn er schon mehrere Wochen zurücklag, trat mit dem Auftreten der neuen Lehrerin noch einmal bewusst zu Tage. Es war wieder ein Bindungsabbruch in seinem Leben, mit dem er nicht gut umgehen konnte. Wieder war er gezwungen, sich auf eine neue Lehrerin einzulassen. Der Schulbeginn war an diesem Abend sehr präsent, denn wir waren an dem Nachmittag in der Stadt gewesen und hatten die Schulmaterialien und neue Anziehsachen für die Schule gekauft. Es brauchte also wenig, um Maxims innere Unruhe zum Überlaufen zu bringen. Mit dem fehlenden Salz auf den Tomaten griff ich zum ersten Mal in sein vermeintlich selbstbestimmtes Verhalten ein. Denn ich entschied, dass bereits genug Salz auf den Tomaten war.  Als er dann bockig wurde und seinen Teller wegschob, und ich auch noch „sein Essen“, seine drei Scheiben Fleischwurst an Nadeschda gab, war es zu spät. Der „Trigger“, wie es in der Fachliteratur heißt, war gesetzt. Von da an nahm der Wutanfall seinen Lauf. Entgegen dem, was ich doch so viele Male gelesen hatte, versuchte ich Maxim zu beruhigen. Ich redete auf ihn ein, gebetsmühlenartig, ich versuchte ihn zu trösten. Schwerer Fehler. Denn damit ließ ich ihn ja seine Abhängigkeit von mir noch mehr spüren. Ich hätte wissen müssen, dass ich damit die Sache nur schlimmer machte. Erst als Maxims Tobsuchtsanfall das Maß des Unerträglichen bekam und ich das Bad später verließ, beruhigte er sich. Ich war aus dem „Tanz“ und dem Machtkampf ausgestiegen. Das allerdings zu spät.

Ich weiß nicht, ob Maxim irgendwann eine so feste Bindung zu mir und seinem Vater haben wird und so viel Vertrauen in sich und in uns gefunden haben wird, dass diese Tobsuchtsanfälle und die inneren Überlebenskämpfe verschwinden. Er wird sicherlich mit der Zeit lernen, sich anders zu verhalten. Und ja, wenn ich auf die vergangenen Jahre zurückblicke, so sind diese Wutanfälle entschieden weniger geworden. Wenn ich zurückdenke an unser erstes Jahr als Familie, so gab es sie da mehrmals am Tag. Mit der Zeit verschwanden sie über Wochen, manchmal sogar über Monate hinweg. Sie traten dann nur wieder in Phasen der Veränderungen und Verunsicherungen auf. So wie jetzt eben auch.

Ich als seine Mutter kann nur achtsamer mit ihm und dem, was ihn umtreibt, umgehen. Ich kann nur mein eigenes Verhalten ändern. Ich darf mich auf keinen Machtkampf mit ihm einlassen. Nicht auf ihn einreden, nicht ihn versuchen zu trösten, wenn er das ablehnt. Den Raum zu verlassen, scheint wieder einmal die beste Lösung zu sein. Das aber, ohne ihm das Gefühl zu geben, allein gelassen zu sein. Katja hat es am Ende ihres Beitrags so wunderbar gesagt: In Beziehungen, die von einem friedlichen Miteinander gekennzeichnet sind, akzeptieren wir die Grenzen des Anderen, wir geben auf einander Acht und gehen achtsam miteinander um. Das wird der vielleicht einzige Weg sein, wie Maxim mehr Vertrauen gewinnt und sein Autonomiebestreben vor allem in Zeiten der Veränderungen und Verunsicherung nachlässt.

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Fünf Minuten zu spät – die Konsequenzen

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Foto von Veri Iwanowa und mit freundlicher Unterstützung von unsplash.com

Mein Bruder Daniel lebt mittlerweile seit einem halben Jahr bei uns. Warum ist eine andere Geschichte. Er ist Teil der Familie und muss an mancher Stelle mit unterstützen. Neulich war ich mit Nadeschda nachmittags beim Friseur. Maxim war bei Freunden im Dorf. Ich hatte Daniel gebeten, wenn ich nicht rechtzeitig zurück bin, Maxim die Haustür aufzumachen, wenn er von seinen Freunden zurückkommt. Maxim hatte ich gesagt, dass, sollte ich nicht rechtzeitig vom Friseur zurück sein, Daniel ihm aufmachen würde. Nun, Maxim ging zu seinen Freunden, ich mit Nadeschda zum Friseur. Der Friseurbesuch zog sich hin. Mir war schnell klar, dass wir später als geplant nach Hause kommen würde. Ich wägte mich aber in Sicherheit, denn Daniel war ja da.

Als ich schließlich mit Nadeschda nach Hause kam, stand Maxim vor der verschlossenen Tür. Daniel hatte nicht aufgemacht. Gottseidank war mein Sohn in Begleitung der Mutter seiner zwei Freunde und nicht alleine. Dem Himmel sei Dank waren alle drei Jungs nach dem Abendessen zusammen zu uns aufgebrochen. Als sie feststellten, dass niemand die Tür aufmachte, lief einer der Freunde nach Hause zurück und holte die Mutter. Sie kam mit und wartete mit dem zweiten ihrer Söhne und meinem Sohn vor der Tür. Nach nur wenigen Minuten traf ich mit Nadeschda ein.

Alles nicht so schlimm, könnte man jetzt denken. Die drei Jungs haben das wunderbar gelöst. Sie haben Hilfe geholt und dann zusammen gewartet. Und es waren ja auch nur wenige Minuten, die Maxim vor verschlossener Tür stand. Was ist schon so tragisch daran, dass ein Achtjähriger auf dem Dorf am frühen Abend ein paar Minuten auf seine Mutter warten muss? So mag das vielleicht bei leiblichen Kindern sein, die in Urvertrauen mit ihren leiblichen Eltern aufgewachsen sind. Bei meinen Kindern ist ein Nicht-Einhalten der Absprachen eine Todsünde.

„Mama ist nicht da, wie sie gesagt hat. Und die Tür wird mir von meinem Onkel auch nicht aufgemacht, wie Mama gesagt hat. Also, kann ich mich nicht auf sie verlassen. Es stimmt nicht, was sie sagt. Und sie ist nicht für mich da, wie sie sagt.“ Das geht im Kopf meines Sohnes wohlmöglich ab. Dabei ist völlig unerheblich, dass auch Daniel sich nicht an die Absprache gehalten hat. Es geht allein um Maxims Bindung an mich. Kann er sich an eine Mutter binden, kann er einer Mutter vertrauen, deren Worte und Versprechen nicht so in der Realität eintreten?

An dem Abend ist Maxim sofort regrediert und hat sich wie ein kleines Baby verhalten. Logisch. Er musste sich zwingend vergewissern, dass ich doch für ihn da bin und ihn umsorge. Genauso folgten seitdem jeden Tag von Neuem seine Beziehungsanfragen. „Kann mich meine Mama halten und kann sie mich aushalten.“ Wutanfälle, die sich zuweilen in hysterische Tobsuchtsanfälle hineinsteigern stehen wieder an der Tagesordnung. „Steht sie zu ihrem Wort und bleibt bei mir? Oder schickt sie mich nicht doch irgendwann weg? Irgendwann muss sie doch so die Schnauze vollhaben von mir, dass sie aufgibt.“ Maxim sagt es nicht so, aber sein Verhalten zeigt es eindeutig. Mit meinem Zuspätkommen und dem Ausfall meiner Fallback-Lösung – Daniel – ist die Beziehung zwischen Maxim und mir gestört, jahrelange Bindungsarbeit ins Wanken geraten.

So manches Mal hatte ich in den vergangenen Tagen das Gefühl, wieder ganz von vorne anfangen zu müssen. Immer wieder Maxim zu zeigen, dass ich für ihn sorge, dass ich immer da bin und da sein werde, dass ich diejenige bin, die weiss, was für ihn gut ist und ihn egal, was er tut, trage, halte und aushalte. Keiner weiß, wie lange das noch anhalten wird. Auch nach Jahren kippt die hart erarbeitete Stabilität, wenn nur ein kleiner „Fehler“ passiert. Meine Kinder dulden das nicht. Sie ertragen das nicht. Sofort sind sie wieder in ihrem Überlebensmodus, fallen zurück in ihre Autonomie in dem Glauben, nur sie selbst können und müssen alleine dafür sorgen, dass sie weiter leben. – Oder wie im Falle von Maxim, gehen noch einmal zurück in ihr Babystadium, um sich über diesen Weg zu vergewissern, wie gut die Mama für ihn sorgen kann und tut. – Bei meinen Kindern müssen Absprachen zwingend eingehalten werden. Nur so erfahren sie und erleben sie jeden Tag: Es stimmt, was die Mama sagt und es ist auch genauso, wie sie gesagt hat. Nur das gibt ihnen Sicherheit und Geborgenheit. Das ist sehr anstrengend und kostet mich viel Kraft. Doch hätte ich es wissen müssen. Aber nach Jahren, in denen so vieles immer mehr „normal“ läuft, werde ich vielleicht als Adoptivmutter auch etwas „nachlässiger“. Ungeachtet dessen, dass ich mich einfach auch auf meinen Bruder verlassen habe. Das werde ich wohl in dieser Form nicht mehr tun. – Ich muss mir immer dessen bewusst sein, wir sind eben anders. Ich muss anders Mutter sein. Die Amplitudenausschläge sind höher, meine Kinder haben andere Bedürfnisses, ich muss als ihre Mutter viel bewusster durch unseren Alltag gehen, muss mich mehr disziplinieren und ich darf mir kaum Fehler erlauben. Und vor allem: Ich darf niemals zu spät kommen.

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20. Juli – Mutterliebe

Silhouette of Mother and Young Children Holding Hands at Sunset

Meine Gedanken wandern zurück zu den Tagen vor einem Jahr. Vor zwölf Monaten hatten wir in der russischen Gerichtsverhandlung Maxim und Nadeschda als unsere Kinder zugesprochen bekommen. Heute vor einem Jahr flogen wir zurück nach Deutschland, um in Windeseile die Vorbereitungen für die Ankunft unserer Kinder zu treffen. Kurze Zeit darauf holten wir unsere Kinder aus dem Kinderheim in Russland ab und begannen unser Leben als Familie.

Es ist erst ein Jahr her. Dennoch fühlt es sich so an, als lebten Maxim und Nadeschda schon so viel länger bei uns. Viel war passiert in den vergangenen zwölf Monaten, die Ereignisse, Freuden, Erfolge, Herausforderungen und auch Schicksalsschläge im großen wie im Kleinen ließen unsere gemeinsame Zeit um ein vielfaches länger erscheinen: Die vielen ersten Male aus Kindesaugen, das stetige Herannähern an eine organische Routine in unserem Alltag, Nadeschdas Zöliakie Erkrankung, Maxims Eintritt in den Kindergarten, Renates Krankheit und Tod, Maxims Sprechen, der Bruch mit meiner Familie, alte und neue Freundschaften, das Entstehen einer stabilen Eltern-Kind Beziehung. Wir vier waren einen langen Weg gegangen. Manchmal war er steinig, manchmal beflügelnd.

Wir wussten, dass wir auch nach zwölf Monaten noch nicht am Ziel waren. Unser Weg wird weitergehen, und auch in der Zukunft Hürden, Steigungen, aber vor allem glückliche Momente und unzählige erinnerungswürdige Ereignisse für uns bereit halten. Im Sinne eines Ankommens denke ich, haben wir nach diesen ersten zwölf Monaten, den richtigen Pfad gefunden, um als Familie weiter zusammenzuwachsen, unseren Kindern gute und fürsorgende Eltern zu sein, uns in unseren Rollen als Mutter und Vater weiter einzurichten und einen guten Umgang mit unserem Umfeld zu finden. Es wird noch eine Weile dauern, bis ich für mich sagen kann: „Ja, jetzt bin ich als Mutter endgültig angekommen. Ich habe das Ende meines Weges erreicht. Jetzt habe ich meinen Platz gefunden.“

Entscheidend ist jedoch, dass in mir in den vergangenen zwölf Monaten die bedingungslose Liebe für Maxim und Nadeschda gewachsen ist, die sie beide so sehr brauchen und verdienen. Ich liebe diese beiden wunderbaren Geschöpfe. Sie sind das Beste, was mir in meinem Leben passiert ist. Sie geben meinem Leben einen Sinn. Sie lassen mich ein großes Stück weit mehr zu mir finden. Sie treiben mich an meine Grenzen und lassen mich neue Seiten an mir entdecken. Vor allem haben sie mich gelehrt, dass Mutterliebe nicht aus den Genen kommt. Liebe muss nicht biologisch sein. Und während die Bilder des vergangenen Jahres in meinem Kopf vorbeiziehen, huscht ein Lächeln über mein Gesicht und ich denke bei mir: So fühlt sich Mutterliebe an! So fühlt sich Mutterglück an!

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16. Juni – In unterschiedlichen Umlaufbahnen: Vom Vatersein und Paarkonflikten

Sunrise over group of planets in space

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Anders als ich hadert Richard nicht mit seiner Vaterrolle. Diese hatte er schnell für sich definiert. Mit Liebe und Leidenschaft kümmert er sich um Maxim und Nadeschda. Er ist der Vater, von dem viele Kinder träumen. Er tobt viel mit ihnen, macht viel Blödsinn, unternimmt an den Wochenenden viel mit ihnen. Bis heute hat er es geschafft, jeden Abend zum Abendessen Zuhause zu sein, um Maxim und Nadeschda zu sehen, bevor sie schlafen gehen. Mein eigenes inneres Kind hätte gerne einen solchen Vater gehabt. Ich bin dankbar, dass meine Kinder einen Vater haben, der sich ihnen mit soviel Enthusiasmus widmet, mit ihnen spielt und dabei aus einem nicht versiegenden Vorrat an Quatsch und Blödsinn schöpft. Regeln sind bei Richard sehr dehnbar. Erziehung findet bei ihm nicht statt: „In der wenigen Zeit, die ich unsere Kinder sehe, werde ich sie nicht erziehen.“ Maxim hat das schnell verstanden: „Mama-Nein ist Nein, Papa-Nein ist Ja.“ Richard lässt sich allein von seiner Intuition leiten, hat keine Bücher über Kindesentwicklung geschweige denn über die Entwicklungen und die Herausforderungen von Adoptivkindern gelesen. Das lässt ihn unvoreingenommener und unbeschwerter sein als mich.

Manchmal fühlt er sich jedoch in seiner Rolle als sorgender Familienvater überfordert und glaubt, den Anforderungen, die ich an ihn bewusst und unbewusst stelle, nicht gerecht zu werden. Es gibt durchaus Tage, an denen er das Gefühl hat, alles falsch zu machen: Wenn das Anziehen der Kinder morgens so lange dauert, dass ich eingreife. Wenn Maxim und Nadeschda nicht richtig essen, da sie den ganzen Vormittag schon Süßigkeiten von Richard bekommen haben. Oder wenn Maxim den Tanz beim Essen probt, er lustlos in den Nudeln stochert und mein Alternativangebot an Essen ablehnt, sondern nur darauf wartet, dass ich platze, Richard ihm aber die dritte Alternative anbietet. Wenn noch die achte Runde Memory gespielt wird, obwohl wir uns längst auf den Weg zu einer Verabredung machen müssten. Wenn Richard so spät mit den Kindern nach Hause kommt, dass es für das Baden eigentlich zu spät ist. Wenn meine kritischen Blicke Überhand nehmen und ich mich gezwungen sehe, in die undankbare Rolle des Spielverderbers schlüpfen zu müssen, der die Elefantenherde zum Galopp antreiben muss. Immer dann bekommt Richard das Gefühl, alles falsch zu machen. Ob berechtigt oder unberechtigt. Nur ist diese Haltung wenig förderlich.

Meist ist diesen Situationen schon vorausgegangen, dass wir – wie so häufig – über Tage nicht richtig miteinander im Austausch standen, die wenige Zeit an den Abenden gefüllt war mit den Ereignissen des Tages der Kinder. Für Richard gab es keinen Raum und genauso wenig für mich. In mir ist das Gefühl gewachsen, dass ich von ihm nicht mehr als ganze Person gesehen werde. Er reduziert mich nur noch auf den undankbaren Teil meiner Mutterrolle. Oft nimmt er nicht wahr, wie anstrengend  der Alltag mit Maxim und Nadeschda sein kann. Genauso wenig bemerkt er, dass mein Leben mit unseren Kindern inzwischen organisch und harmonisch verläuft und einfach gefüllt ist, mit vielen schönen Momenten. Manchmal glaube ich, dass Richard immer noch viel Zeit braucht, zu verinnerlichen, dass seine Kinder nicht mit leiblichen Kindern und ihrer Entwicklung vergleichbar sind, dass wir eben keine normale Familie sind. Es war schon in der Entwicklung der Beziehung zu unseren Kindern so, dass er meist erst zeitversetzt nach mir auf neue Herausforderungen bei Maxim und Nadeschda gestoßen ist. So wird er erst später erkennen, dass wir als Familie und als Eltern anders sind und anders sein müssen.

Selten versteht Richard mein Hadern und meine häufigen Selbstzweifel als Mutter. Oft glaubt er noch, dass ich unzufrieden bin in meiner Rolle, weil mir die Bestätigung von außen fehlt, weil ich gebunden bin an unser Haus, an unser Dorf, gefangen bin in einem Mutterdasein, das ich mir anders vorgestellt habe. Manchmal glaubt er, ich wolle wieder erwerbstätig sein, meine alte Karriere weiter verfolgen. Doch an diesem Punkt bin ich nicht. Ich bin schon darüber hinaus, oder noch gar nicht dort angekommen.

Zuweilen kommt es mir vor, als flögen wir in unterschiedlichen Umlaufbahnen um unsere Kinder herum. Jeder von uns ist gefangen in seiner eigenen Welt und zu sehr beschäftigt mit seinen eigenen Themen. Allein hier hat sich schon etwas in Richards und meinem Miteinander verändert: Vor der Ankunft der Kinder hatten Richard und ich viele gemeinsame Themen und Interessen: Reisen, Oldtimer Rallyes, alte Autos, Oper, Theater, Freunde treffen, unsere Jobs, die sich sehr ähnelten. Über allem lag unser gemeinsames Ziel, uns unseren Kinderwunsch zu erfüllen. Heute ist unser Kinderwunsch erfüllt, unsere gemeinsamen Interessen waren in den Hintergrund getreten, unsere täglichen Aufgaben gingen auseinander, vor allem in der Sicht, die wir darauf hatten. Während ich mich in meiner Mutterolle fügte und damit zunehmend Abstand zur Berufswelt fand, nahm der Job Richard maßgeblich ein. Seine Vaterrolle konnte er nur an den Abenden und Wochenenden ausleben. So musste es auch sein, denn wir hatten uns bewusst dazu entschieden, dem klassischen Rollenmodell – die Mutter bleibt Zuhause und der Vater sorgt für das Einkommen der Familie – entschieden. Während ich, auch aufgrund meiner eigenen Kindheitserfahrungen, mit dem Muttersein haderte, hatte Richard schnell in seine Rolle als Vater gefunden.

In der Fürsorge und Erziehung unserer Kinder hatten wir teilweise divergierende Haltungen, die sich allein schon aus der Zeit ergaben, die wir jeweils mit Maxim und Nadeschda verbrachten. Einmal hatte ich zu Freunden auf den Kommentar hin „Es ist ziemlich eindeutig, wer von Euch beiden für die Erziehung zuständig ist.“ geantwortet: „Ja, und es hat einfach auch etwas mit Überleben zu tun. Wenn Du vierundzwanzig Stunden, sieben Tage die Woche zusammen bist, dann geht das nur mit festen Regeln.“ Zum ersten Mal hatten wir in unserer Beziehung unterschiedliche Sichtweisen. Daraus ergaben sich zwangsläufig gelegentliche Reibereien oder Meinungsverschiedenheiten. Sich jetzt hin und wieder zu reiben war im Grunde genommen in Ordnung. Genauso in Ordnung, wie es jetzt nicht anstand, gemeinsame Hobbies und Interessen zu pflegen. Wir hatten eine neue zentrale Aufgabe mit Maxim und Nadeschda bekommen, hinter der alles andere zurückstand. Schwierig wurde es, wenn uns der gemeinsame Austausch abhanden kam. Wenn ich nicht wusste, was Richard bewegte, so konnte ich natürlich auch seine Reaktionen nicht einordnen. Und genauso umgekehrt. Was wir in einem ersten Schritt brauchten, war mehr Zeit zu zweit, allein ohne unsere Kinder. Doch es fehlte uns der Mut, egoistisch an uns selbst zu denken, und die Disziplin, uns konsequent diese Zeit zu nehmen. Denn zu schnell breitete immer wieder unser Alltag mit Maxim und Nadeschda seine Arme aus und hielt uns fest umklammert.