Wenn Adoptiveltern nicht sehen, dass ihr Kind Hilfe braucht
Nachdem ich mich vor zwei Wochen über die fehlende Unterstützung von Adoptivfamilien ausgelassen habe, möchte ich heute auch die Kehrseite der Medaille adressieren:
Wer ein Kind adoptiert und dies gar aus dem Ausland, ist sich meistens der Tatsache bewusst, dass diese Kinder körperliche Beeinträchtigungen haben können. Schielen, Kiefergaumenspalte, sprachliche Entwicklungsverzögerungen, Leistenbruch, Hörschäden. Das bringt ihre Lebensgeschichte bis zur Adoption mit, und je nach Herkunftsland sind diese körperlichen „Defizite“ auch die Chance, warum diese Kinder nicht im Land selbst sondern international zur Adoption freigegeben werden. Auf all diese körperlichen Beeinträchtigungen werden zukünftige Adoptiveltern vorbereitet. Ich kenne keine Adoptivfamilie, die nicht die kritische Frage „Halten Sie körperlichen Beeinträchtigungen bei ihrem Adoptivkind für zumutbar?“ beantworten musste. Und sie alle haben sie mit „ja“ beantwortet. Schließlich haben wir in Deutschland ein modernes Gesundheitssystem, das körperliche „Mängel“ beheben kann. Oft haben Adoptivfamilien Glück. Die meisten Adoptivkinder vor allem aus dem Ausland sind physisch kerngesund. Adoptivkinder mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen sind eher in der Minderheit. Wird ein Adoptivkind mit körperlichen Beeinträchtigungen in die Familie aufgenommen, kümmern sich alle Eltern um das Heilen und Gesundwerden.
Ein Leistenbruch oder eine Gaumenspalte lassen sich operieren und damit reparieren. Das meist mit dem richtigen Arzt auch schnell und nachhaltig. Doch tragen Adoptivkinder, die früh von ihren leiblichen Eltern verlassen wurden und die lange Zeit ihrer ersten Lebensjahren in Heimen aufgewachsen sind, noch ganz andere Verletzungen von dieser Lebensgeschichte. Durch die Trennung von der leiblichen Mutter ist ihr Urvertrauen zerstört worden, das Leben im Heim mit wechselndem und nicht immer fürsorglichem Pflegepersonal hat häufig Bindungsstörungen in vielfältiger Form verursacht. Die Seelen dieser Kinder sind meist tief verletzt. Dies ist meiner Meinung nach bei der Mehrzahl dieser Kinder so. Diese Wunden aber sind selten sichtbar. Und im Vorfeld einer Adoption wird auf diese psychischen Beeinträchtigungen kaum oder nur verhalten offensiv hingewiesen. Erst wenn die Kinder ein paar Wochen, Monate in ihren Adoptivfamilien leben, kommen diese psychischen Wunden zum Vorschein. Zunächst sind die Kinder noch in einer Anpassungsphase, in der sie alles tun, um ja ihren Adoptiveltern zu gefallen, damit sie nicht ein erneutes Mal abgegeben werden. Doch spätestens nach einem halben Jahr lassen sie die Hüllen fallen. „Selten hält es ein Kind länger als ein halbes Jahr durch, seine seelischen Wunden und sein Trauma zu verbergen.“ sagte einmal unsere Betreuerin vom Jugendamt zu mir. Dann zeigt sich das Trauma des Weggeben-worden-Seins in seiner ganzen Massivität: Wutanfälle, aggressives Verhalten, Zerstörungsdrang gegen sich selbst oder gegen andere, Distanzlosigkeit oder totale Ablehnung von körperlicher Zuneigung der Adoptiveltern, sich in den Schlaf schaukeln, Hyperaktivität, Konzentrations- und Lernschwierigkeiten, Essstörungen, um nur einige zu nennen.
Die meisten Adoptivfamilien setzen sich mit diesen Herausforderungen auseinander, lesen Ratgeber, lassen sich von Erziehungsspezialisten beraten, stellen ihren Lebenswandel um, suchen sich, wenn sie es alleine nicht mehr schaffen, die professionelle Hilfe von Therapeuten und Ärzten. Damit beginnt ein langsamer Heilungsprozess, an dessen Ende das Adoptivkind seine seelischen Wunden verarbeitet, eine stabile Bindung zu seinen Adoptiveltern aufbauen kann, ein gesundes Selbstgefühl entwickelt und sich sicher und geborgen fühlt. Das ist meist harte Arbeit, für das Kind und seine Adoptivfamilie, und immer ein jahrelanger Prozess mit vielen Rückschlägen, der unzählige Opfer verlangt. Doch am Ende wird die Gewissheit siegen, ein Kind in ein gesundes und beständiges Leben hineingeführt zu haben.
Zu meinem Bedauern gibt es aber auch immer wieder Adoptivfamilien, die die seelischen Wunden ihrer Kinder nicht sehen oder auch nicht sehen wollen. Ich bin mit einzelnen Fällen konfrontiert worden, in denen die Auswirkungen der psychischen Verletzungen einfach nicht wahrgenommen werden, klein geredet werden. „Er schuckelt sich eben immer noch in den Schlaf.“ sagt da eine Adoptivmutter. Das noch mehrere Jahre nach der Adoption. Aber ansonsten ist alles wunderbar und das Leben des Jungen geht unverändert weiter. Schule, dreimal die Woche Fussballtraining, Klavierunterricht, Schwimmen, jeden Abend zwei Stunden Hausaufgaben, danach zwei Stunden spielen auf dem IPad, bis der Schlaf ihn irgendwann übermannt. Die Eltern arbeiten beide Vollzeit mit vielen Abwesenheiten, das Au Pair-Mädchen übernimmt die Kinderbetreuung. In einem anderen Fall zeigt die Adoptivtochter ein unkontrolliertes aggressives Verhalten, wenn sie mit anderen Kinder zusammen spielen soll. Auch sie lebt mittlerweile seit mehreren Jahren in ihrer Adoptivfamilie. Wie aus dem Nichts schubst, tritt, beisst sie, schlägt um sich. Freunde hat sie keine. „Ja, ich weiss, manchmal ist sie im Moment schwierig. Ich weiss auch nicht, woher das kommt. Aber im Kindergarten läuft doch alles gut.“ Und auch hier wird weitergemacht, wie bisher. Die stummen Schreie der Kinder nach Hilfe werden nicht gehört. Sie werden zugedeckt unter dem Mantel der überdurchschnittlichen Entwicklung der Kinder – er kann schon Fahrradfahren, sie hat schon ihren Freischwimmer, sie ist in der Schule sehr ehrgeizig, er spielt fantastisch Klavier.
Mir tut es um diese Kinder so unendlich leid. Es könnte ihnen mit einem anderen ruhigeren Alltag und professioneller Hilfe so viel besser gehen. Aber therapeutische Hilfe mag ja oft auch als Zeichen von Schwäche gesehen werden. Vor allem aber ist es unbequem. Ich muss ja dann auch als Familie mein Leben vielleicht ändern. Auch ich habe mich lange der Illusion hingegeben, mit meinen beiden Adoptivkindern ein „normales“ Leben zu führen. Doch auch bei uns traten seelischen Wunden deutlicher auf, als wir das erahnen konnten. Auch ich habe erst versucht, diese Schwierigkeiten alleine zu lösen, bin aber schnell an meine Grenzen gestoßen. Ich habe mir professionelle Hilfe geholt, für die ich heute sehr dankbar bin. Denn auch ich als Adoptivmutter bin mit den Therapien meiner Kinder gewachsen. Die Heilung meiner Kinder erleben zu dürfen, ist mehr als ein Geschenk. Um so mehr bin ich fassungslos, wenn ich von diesen problematischen „Fällen“ höre oder sie erlebe, in denen die Adoptiveltern einfach ihre Augen verschließen. Das ist naiv. Denn in einem späteren Alter, meist in der Pubertät passiert genau das mit diesen Kindern, was die Fachliteratur immer als „Horrorszenarien“ schildert: Sie lügen, stehlen, schlagen und prügeln sich, zerstören vor Wut die Einrichtung im Haus der Eltern, etc. Es sind diese Kinder, die die Literatur als „hochproblematisch“ bezeichnet. Doch soweit muss es meiner Meinung nach nicht kommen. Eltern können ihren Kindern helfen, frühzeitig. Doch dafür müssten sie Abschied nehmen von der Illusion, dass Adoptivfamilien ganz „normale“ Familien sind.