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#BestofElternblogs Februar 2017

Anja von der Kellerbande ruft regelmäßig zum 1. des Monats zu den besten Beiträgen der Elternblogs auf. Diesmal mache ich wieder mit und es war spannend, wieder in die eigenen Statistiken zu schauen. Die meisten Kommentare und Likes bekamen andere Beiträge, doch mein meist geklickter Beitrag im Januar war „Die blauen Augen hat sie nicht von Ihnen!“ , in dem es um den Umgang mit dem unbekannten Erbe meiner Kinder geht. Habt lieben Dank für Euer Lesen, Klicken, Teilhaben,….

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„Die blauen Augen hat sie nicht von Ihnen!“

Vom Umgang mit dem unbekannten Erbe meiner Kinder

Vor einigen Monaten hatte Tante Tex beim „Story Samstag“ zum Thema „Erbe“ aufgerufen. Ich hatte teilgenommen mit einer Kurzgeschichte, die einmal nichts mit meinen Kinder und unserer Adoptionsgeschichte zu tun gehabt hatte. Dennoch hat mich seitdem das „Erbe“ auch mit Blick auf meine Kinder nicht mehr losgelassen. Ein Gespräch mit zwei Adoptivmüttern in der vergangenen Woche hat mich nun motiviert, noch einmal das Erbe meiner Kinder aufzugreifen.

Young manager

Mit freundlicher Unterstützung von Fotolia

Gemütlich saßen wir drei Mütter am Frühstückstisch. Unsere Kinder spielten. Lange hatte wir uns nicht gesehen und so plauderten wir munter über dies und das, was sich so alles in unseren Leben in den vergangenen Monaten ereignet hatte. So erzählte die eine: „Mir ist neulich etwas passiert: Im Kindergarten spielen die Kinder jetzt ein Theaterstück. Und A. ist ganz engagiert mit dabei. Als A.’s Erzieherin mir begeistert einmal mittags davon erzählte, antwortete ich ihr freudestrahlend: Ja, das Theatergen liegt wohl in unserer Familie. Das hat sie von mir. – Im nächsten Moment fasst ich mir an den Kopf, und dachte nur, was war das jetzt für ein Spruch von Dir! Die wissen doch, dass wir A. adoptiert haben.“ Von dort wanderte unser Gespräch zu der Entwicklung unserer Kinder. Wie wir als Adoptiveltern vielleicht andere Erwartungen an die späteren „Karrieren“ unserer Kinder haben, wie wir bewusst die Ansprüche zurückschrauben, das Glück und die Gesundheit unserer Kinder im Vordergrund stellen und weniger die Förderung zum späteren Top-Manager. Dieselbe Mutter sagte: „Ja, vielleicht gehen wir damit anders um, weil wir wissen, dass unsere Kinder eben nicht unser Erbgut mitbekommen haben. Nur weil ich Abitur habe und studiert habe, kann ich das von A. ja nicht zwangsläufig erwarten. Ich will nur, dass es ihr gut geht, sie muss ja nicht Karriere machen und es „besser“ machen als ich.“ Daraufhin antwortet die andere Adoptivmutter (scherzhaft): „Nun ja, gerade weil unsere Kinder nicht unsere Gene tragen, können sie es „besser“ machen als wir.“

Szenenwechsel zu Nadeschdas Schule: Von Anfang an, seitdem Maxim und Nadeschda bei uns waren, bin ich mit Kommentaren aus unserem sozialen Umfeld wie: „Von wem hat Nadeschda denn diese tollen blauen Augen? Von Dir nicht. Dann wohl von ihrem Vater.“ von Müttern, die nichts von der Adoption wussten, oder auch von Menschen, die unsere Adoptionsgeschichte kennen: „ Die beiden sehen Euch so ähnlich. Wenn man nicht wüsste, dass Ihr sie adoptiert habt, könnte man meinen, es seien Eure leiblichen Kinder.“ konfrontiert. Meist nehme ich diese Kommentare, ohne näher darauf einzugehen, mal mehr mal weniger wohlwollend zur Kenntnis. Im Herbst hatte ich mit Daniel zusammen ein neues Erlebnis. Zusammen holten wir Nadeschda mittags von der Schule ab. Als wir eintrafen, half der Substitutslehrer gerade den Kindern beim Anziehen der Matschhosen. Ich stellte ihm Daniel vor. „Das habe ich mir gleich gedacht.“ sagte der Substitutslehrer. „Diese Ähnlichkeit ist verblüffend.“ Ich stutzte, denn Daniel und mich konnte er nicht meinen. Denn wir sehen grundverschieden aus und bringen im Äußeren jeden möglichen Kontrast mit (dunkles Haar vrs. helles Haar, braune Augen vrs. stahlblaue Augen, Pfannkuchengesicht vrs. Charakterkopf, etc.). Im zweiten Moment ahnte ich, worauf der Lehrer hinaus wollte. Er meinte die Ähnlichkeit zwischen Nadeschda und meinem Bruder. Nadeschdas Klassenlehrerin kam dazu, begrüßte meinen Bruder und löste meine Verwunderung mit den Worten: „Ja, das ist mir auch schon aufgefallen. Welch karmische Fügung, oder?“ Und es stimmt, die Ähnlichkeit zwischen Nadeschda und meinem Bruder ist durchaus frappierend. Vielleicht war es tatsächlich eine Fügung des Schicksals. Hinzukommt, und das findet sich hier und da auch in der Fachliteratur, dass Adoptivkinder tatsächlich mit den Jahren vor allem durch Mimik und Gestik immer mehr ihren Adoptiveltern ähneln und sie somit in Auftreten und Aussehen immer mehr ihren Adoptiveltern folgen. Bei Maxim und Richard lässt sich das genauso beobachten: Nicht nur Haarschnitt und Kleidungsstil, sondern Gesichtsausdruck, Verhaltensmuster, gewissen Redewendungen, etc.

In der Wissenschaft streitet man sich, wie viel tatsächlich Kinder geprägt sind durch das genetische Erbgut oder durch das familiäre und soziale Umfeld, in dem sie aufwachsen. Eine Adoptionsberaterin sagte zu mir einmal: „Als Adoptiveltern muss man ohnehin den Glauben haben, dass 95 Prozent der Entwicklung eines Kindes von seiner sozialen Prägung beeinflusst werden. Sonst darf man nicht adoptieren.“ Ich empfand die Äußerung als drastisch und rigoros. Dennoch in gewisser Weise folge ich ihr. Weniger aus der Überzeugung heraus, dass ich die genetische Prägung meiner Kinder verändern kann, als viel mehr aufgrund des Unwissen über die genetische Herkunft meiner Kinder. Wir wissen zwar einiges über die soziale Herkunft und die Lebensumstände von Maxim und Nadeschda, bevor sie zu uns kamen, aber kaum etwas über die familiären Gene und Wurzeln, die sie in sich tragen. Oft halte ich es auch für müssig, darüber nachzudenken. Überlegungen, wie sie „unsere bunte Oma“ manchmal bei ihrer Enkelin, die aus einer Samenspende entstanden ist, anstellt: „Oh, ihr Spendenvater galt als hochgewachsen, sehr intelligent und sportlich. Das sieht man bei ihr jetzt schon.“ sind mir fremd. Ob die genetische Abstammung meiner Kinder einmal ihre Zukunft bestimmen wird, halte ich für Spekulation. Ob Maxim und Nadeschda später aufgrund ihrer genetischen Prägung einen anderen Lebensweg und eine andere Karriere gehen werden, als Richard und ich ihnen vorleben, wird man schwer nachweisen können. Uns ist nur wichtig, dass sie glücklich sein werden, in der Lage sind, allein auf eigene Beinen zu stehen und für sich selbst sorgen können werden, egal, ob als Bäcker, Schreiner, Schauspieler oder Top-Manager.

In nur einem Punkt wünschte ich, mehr über die erbliche Prägung meiner Kinder zu wissen: Irgendwann werden Maxim und Nadeschda in ihrer Identitätsbildung nach ihrer Herkunft fragen. Sie werden sich nicht damit zufrieden geben, dass sie bestimmte äußerliche Merkmale von ihren russischen Eltern sicherlich geerbt haben. Sie werden wissen wollen, welche Charaktereigenschaften sie vielleicht von ihnen mitbekommen haben, welche Talente und Begabungen. Um so mehr über ihre russische Mutter und ihren russischen Vater zu erfahren, um so für sich die Frage zu beantworten: „ Was waren meine russischen Eltern, die mir das Leben geschenkt haben, für Menschen?“ Hier können wir nur Mutmaßen und werden unsere Kinder lehren müssen, mit einem teilweise unbekannten Erbe zu leben.

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Der Sekretär – Meine Geschichte zum „Story-Samstag“

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Will Fuller, unsplash.com

Allerheiligen ist heute. Wie Katja von home is where the boys are heute morgen in ihrem berührenden Beitrag über die Auseinandersetzung mit dem Tod in der Kindheit geschrieben hat, es ist jetzt auch die Zeit, in der wir den Von-uns-Geschiedenen gedenken, dies in vielfältiger Weise und uns Abschied und Tod immer wieder begegnen. So wie es auch Sonja von Die verlorenen Schuhe gepostet hat: „Herbstzeit – Abschiedszeit“. Ihr Beitrag hat mich in den letzten Tagen noch sehr bewegt, und mich auch an den Tod meines Vaters erinnert.

storysamstag_0Den Stein ins Rollen hat aber Tante Tex gebracht, die regelmäßig zum „Story-Samstag“ aufruft. Das aktuelle Thema „Erbe“ hat mich sehr beschäftigt und so mache ich dieses Mal mit einer Kurzgeschichte mit, die so gar nichts mit meinen Kindern und unserer Adoption zu tun hat. Und doch ist es auch ein Teil von mir, denn neben meinem Leben mit meinen wunderbaren Kindern gilt es manchmal andere Themen zu verarbeiten, so wie den Tod meines Vaters und den sich daran anschließenden Erbstreit. Fiktionale Kurzgeschichten sind dabei eine heilsame Therapie.

Der Sekretär

Monatelang moderte der alte Sekretär im Keller des Anwalts meiner Stiefmutter vor sich hin. Jetzt steht er hier. Der Sekretär. In meinem Wohnzimmer. Heute morgen lieferte ihn die Spedition vereinbarungsgemäß ab. Pünktlich. Sorgsam verpackt in zehn Quadratmetern Plastikfolie. Dieser alte Schiffsschreibtisch gehört mir. Ich habe hart für ihn gekämpft. Der Anwalt ist in diesem Kampf gestorben, seine Nerven waren zu schwach.

Musste das alles sein? Musste ich mich auf diesen Kampf um dieses eine einzige Möbelstück einlassen? War der Sekretär es wert, all die Pamphlete, die Lügen und Falschaussagen, die kriminellen Energien, die einen Anwalt haben seinen Berufsstand aufs Spiel setzen und mich mit kleinen Ganoven anbändeln lassen? Warum versteckte der Anwalt, der meine Stiefmutter in unserem Erbstreit vertreten hatte, den Schiffssekretär in seinem Keller? Dass der Schreibtisch dort stand, war ein Unterschlagen von Nachlassgegenständen. Dessen musste sich der Anwalt bewusst gewesen sein. Doch unterschätzte er mich und meinen Kampfgeist. Ich wollte dieses Möbel haben, koste es was es wolle. Es war für mich unerträglich, dass meine Stiefmutter ihn für sich beanspruchte. Für keinen Preis dieser Welt hätte ich ihr den Sekretär überlassen. Für keinen. Am Ende habe ich gesiegt. Aber musste der Streit so eskalieren? Irgendwann geriet alles aus den Fugen, ich verlor die Kontrolle. Ich wurde zum Spielball meiner Gefühle. Der Anwalt war nur der Handlanger seiner Gespielin, meiner Stiefmutter. Seinen Tod habe ich nicht gewollt. Es sollte doch nur eine Warnung sein. Aber dann ging der Streit einen Schritt zu weit. Schaffe ich es, jetzt auszusteigen und den Kampf zu beenden? Wie lange wird das Verlangen nach Wiedergutmachung noch in mir zehren? Wiedergutmachung? Kann es sie überhaupt geben? Das hieße ja, alles wieder gut zu machen, wegzuwischen, ungeschehen machen. Narben verheilen, aber sichtbar bleiben sie ewig.

Mein Urgroßvater hatte den Sekretär von seiner letzten  Seefahrt Ende des 19. Jahrhunderts mitgebracht. In unserer Familie erzählte man sich, dass er in Handelsgeschäfte mit Indien involviert war. Als Dank für seine Arbeit durfte er den Schreibtisch, an dem er auf den langen Überfahrten vom Mittelmeer bis an die indische Küste gearbeitet, Tagebücher und Briefe geschrieben hatte, nach seiner letzten Reise behalten. Der Sekretär war ein zierlicher Tisch, zu filigran für einen stattlichen Mann, der mein Urgroßvater gewesen war, aus dunklem Nussbaumholz gefertigt. Vermutlich stammte der Tisch ursprünglich aus der viktorianischen Zeit. Zumindest waren die vielen Schnörkel, aufwendigen Schnitzereien und vielen Schubkästchen und Kistchen ein Indiz dafür. Doch so genau konnte ich mich nicht mehr erinnern. Die Jahre haben einen dumpfen Schleier über meine Erinnerung gelegt. Deutlich vor Augen habe ich nur noch die herausziehbare mit grünem Leder bezogene Schreibplatte und den schräg gewölbten Deckel, der häufig vor meinen Kinderaugen verschlossen wurde, da der Inhalt des Sekretärs nicht für mich bestimmt war. Hinter dem Deckel befand sich eine Anordnung von echten und vorgetäuschten Schubladen. Vier Schubfächer befanden sich auf jeder Seite des Sekretärkorpus. Eines von ihnen – das unterste auf der rechten Seite – konnte man nur öffnen, wenn man einen Mechanismus in der darüberliegenden Schublade drückte. Sehr gut versteckt und im Grunde nur für kleine Kinderhände zu betätigten. Wie sein Vater wollte auch mein Großvater zur See fahren und strebte zunächst eine Karriere bei der Marine an. Wegen eines Herzfehlers durfte er allerdings seinen Dienst nie bei der Marine aufnehmen. Ihm blieb nur die stille Sehnsucht nach der Weite des Meeres, die er mit dem Bau von Schiffsmodellen auslebte. Und er sollte einmal den Schiffssekretär erben. Doch soweit kam es nicht. Eine habgierige Tante riss sich den Sekretär kurzerhand unter den Nagel. Mein Erbauseinandersetzung mit meiner Stiefmutter war also nicht die erste in der Familie. Der Tisch schien eine besondere Faszination auf die Frauen, die mit unserer Familie in Berührung kamen, auszuüben und kriminelle Begehrlichkeiten zu wecken. Mein Großvater litt Zeit seines Lebens unter dieser Ungerechtigkeit. Sollte der Sekretär doch nach dem Willen meines Urgroßvaters immer an das älteste Kind weitergegeben werden. Leider erlebte er nicht mehr, wie mein eigener Vater nach dem Tod der Tante den Sekretär bei einem Antiquitätenhändler ausfindig machte und für die Familie zurück erwarb. Von da an stand er bei uns zuhause im Arbeitszimmer meines Vaters. Als Kind faszinierten mich die Vielzahl an Fächern, Schublädchen und Geheimverstecken. Es hatte etwas Mystisches. Als Kind glaubte ich, mein Vater sei ein Agent, der geheime Dokumente und Informationen in den Niederungen des Sekretärs vor dem Feind versteckte. Gelegentlich durfte ich seine Komplizin sein. Bevor wir in den Urlaub fuhren, bat er mich, mit meinen zierlichen Händen die geheime Schublade zu öffnen. Hier versteckte mein Vater für die Zeit unserer Abwesenheit Schmuck und lieb gewonnene Erinnerungsstücke vor möglichen Dieben. Heute lächle ich über diese naive Vorstellung von Sicherheit. Als kleines Mädchen fand ich das aufregend.

Trotz des dicken Folienmantels kann ich erkennen, dass der Sekretär so zierlich ist, wie ich ihn dunkel in Erinnerung habe. Dennoch wirkt mein Wohnzimmer auf einmal so eng, so unangenehm voll. Ich brauche Luft und Platz zum atmen. Möbel und andere Dinge wirken auf mich wie Fesseln, die mich an einen Ort ketten. Ballast, den ich nicht brauche. Ich besitze lieber weniger Dinge und mehr Freiheit. Freiheit, schnell wieder an einen anderen Ort ziehen zu können, die Flucht zu ergreifen, wenn es mir wieder zu viel wird. Mir ist wohler, wenn ich weiss, dass ich meine Habe in maximal zehn Kisten verpacken kann, einen halben Tag Arbeit, um alles zu verstauen, mehr nicht. Das kompakte Paket, unter dem sich der alte Schiffsschreibtisch verbirgt, strömt eine Präsenz aus, die erdrückt. Es ist, als rückten die Möbel enger zusammen, als wäre auf einmal der gesamte Raum von dem antiquen Sekretär erfüllt. Seit gefühlten Stunden sitze ich auf meinem Sofa und starre das verpackte Möbel, um das ich so lange gekämpft habe an.

Hatte sich die Anstrengung gelohnt? War der Sekretär es wert gewesen, mich so in der vergangenen Wochen und Monaten aufzureiben? Ich sitze wie ein Kaninchen vor der Schlange. Wer zuerst zuckt, ist tot. Absurd, denn der Schreibtisch wird nicht zucken. Er ist nur ein Möbel, aus altem Holz, wie es scheint, noch heile und erhalten und nicht wie ich befürchtet, fein säuberlich zu Brennholz zerkleinert. Was wird sich mir offenbaren, wenn ich diese Unmengen an Folie abreiße? In meinem Wohnzimmer liegt ein schwerer modriger Geruch. Liegt es am Wetter? Für einen Herbsttag liegt wenig Bewegung in der Luft. Ist es der modrige Geruch der feuchten Algen am Strand, der zu meiner Wohnung hinüberweht? Oder winden sich faulige Kellergerüche langsam durch die vielen Schichten Folie? Dünstet der Sekretär seinen Monatelangen letzten Aufenthaltsort aus? Ist es der letzte Versuch meiner Stiefmutter, sich mit aller Macht in mein Leben zu drängen? Als sollte der modrig feuchte Gestank in jede Ritze meiner Wohnung ziehen, dort hartnäckig verharren und mich noch lange Zeit an sie erinnern. Als wollte sie ein letztes Mal sagen: „Und Du wirst mich nicht loswerden. Vor mir kannst Du nicht weglaufen.“

Eilig reisse ich alle Fenster auf. Wind ist aufgekommen und weht frisch und kräftig durch die Büsche in meinem Garten. Hastig greife ich nach Messer und Schere und beginne, die dichte Folie Schicht um Schicht von dem Sekretär zu schneiden. Vorsichtig, behutsam, professionell, pathologisch. Als würde ich die Hautschichten einer Leiche nach und nach abtragen. Mit jedem Meter durchsichtigem Plastik weicht die Fäule aus dem Paket und wird sanft von der frischen Meeresluft hinausgetragen. Nach wenigen Minuten habe ich den alten Schreibtisch aus seinem Kunststoffgewand befreit. Ein letztes Mal weht diesmal eine starker Windstoß durch meine Wohnung und nimmt den modrige Geruch mit sich nach draußen. Dann steht er vor mir, der Sekretär. Ich halte inne, betrachte den Schreibtisch. Zentimeter um Zentimeter scanne ich ihn ab und vergleiche die Bilder mit denen meiner Kindheitserinnerungen. Der Sekretär ist zierlich, das dunkle Nussbaumholz weisst ein paar mehr Gebrauchspuren auf, als ich ihn erinnerte. An der ein oder anderen Stelle hat das Holz Kratzer, bei ein paar Schnörkeln sind Eckchen abgeplatzt, in den aufwendigen Schnitzereien hat sich der Dreck vergangener Jahrzehnte niedergelassen. Das Grün der Leder-Schreibplatte ist ausgeblichen. Wie er da so vor mir steht, kommt er mir vor wie eine in die Jahre gekommene alte Dame, die sich in Scham vor mir ausgezogen hat und ihr Körper mir verlegen ihre Lebensgeschichte erzählt. Nüchtern denke ich „Eine Dusche würde Dir ganz gut tun.“ Ich hole Lappen und Möbelpolitur, eine Eimer mit warmen Wasser und mache mich ans Werk. Erst alles vorsichtig abwaschen, den Staub der vergangenen Jahre herunternehmen, um anschließend das schrumpelige faltige Holz mit Politur einzucremen. So verbringen wir eine Weile zusammen, das alte Möbel und ich. Das mechanische Reinigen bringt mir ein Stück innere Ruhe, die kreisenden Bewegungen mit dem Lappen in der Hand auf dem Holz entspannen mich.

Als ich mein Werk vollendet habe, blicke ich den Sekretär schon versöhnlicher an. Ich setze mich auf mein Sofa, betrachte ihn mit ein wenig Abstand und denke: “Wo stelle ich Dich denn nun hin?“ Mein Blick wandert im Wohnzimmer umher. Nach ein paar Momenten nehme ich das Möbel und schiebe es vorsichtig hinüber zu meinem Schreibtisch. In dieser Ecke des Raums kann ich am besten Schreiben. Sie bietet den weitesten Blick auf das Meer. Ich schiebe meinen Schreibtisch zur Seite und bewege den Sekretär behutsam daneben. Ich ziehe einen Stuhl herbei und setze mich zum ersten Mal an das lang ersehnte Möbel. Wir nehmen nach so vielen Jahren zum ersten Mal wieder Kontakt miteinander auf. Behutsam streiche ich über das Holz und das Leder der Schreibplatte. Wie warm er sich auf einmal anfühlt, wie weich. Vorsichtig hebe ich den Schreibdeckel und sehe die vielen Schubladen. Ein Lächeln wandert über mein Gesicht. Wie oft hatte mein Vater an diesem Sekretär gesessen, etwas gesucht und immer an den falschen Schubfächern gezogen. Als ob er sich auch nach alle den Jahren nicht merken konnte, welches die echten und welches die vorgetäuschten Schubladen waren. Meine Hände und Augen wandern weiter auf dem weichen Holz entlang, nach unten. Ich entdecke wieder die Schubfächer an den Seiten. Das war mir in meinem pathologischen Reinigungsmodus gar nicht aufgefallen. Vier Schubfächer auf jeder Seite des Sekretärkorpus. Während meine Hände an den Seiten hinuntergleiten und jeden Griff und jeden Spalt zur nächsten Lade wahrnehmen, schlägt mein Herz wieder schneller. Ein Kribbeln steigt aus meiner Magengegend nach oben und breitet sich im gesamten Körper aus. Mein Atem geht nur noch stoßweise. Schon ist es mit der inneren Ruhe schon wieder vorbei. Ich ziehe die letzte Schublade unten heraus, schiebe meine Hand hinein. Es tut weh und ich muss meine Finger ganz eng zusammenpressen. Doch ich finde den Mechanismus, das Metall fühlt sich kalt an. Ich drücke ihn und das Geheimfach darüber springt auf. Hastig ziehe ich meine Finger aus der unteren Schublade heraus. Es ist, als hätte mich etwas gebissen, als hätte etwas nach meinen Fingern geschnappt. Es ist der Inhalt des Geheimfachs, der mich zurückschrecken lässt. Laut höre ich mein Herz schlagen, meine Hände zittern, kalter Schweiß lässt sie feucht werden. Durch den Duft der Möbelpolitur schlingt sich eine Note von Moder, von altem Papier zu meiner Nase. Ich fühle mich wie Pandora, die die Büchse mit allem Übel der Menschheit entgegen dem Geheiß des Zeus öffnete. Vor mir breitet sich das Erbe meines Vaters aus.