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Selbstbewusste erwachsene Adoptivkinder…

Sherrie Eldridge begeistert und erleuchtet seit beinahe Jahrzehnten vor allem die amerikanische Adoptionsszene mit ihren unterschiedlichen Büchern zu „20 Things…“, „20 Things Adoptited Kids Wish Their Parents Knew“ oder auch „20 Things Adoptive Parents Need to succeed“. Auch in ihrem Blog greift sie diese Themen aus ihren Büchern immer wieder auf. Und bei einem ihren letzten Beiträge stieß ich auf diese zwei jungen erwachsenen (adoptierten) Herren, die über YouTube vloggen, und im Moment die amerikanische Adoptionsszene „rocken“. Oder um mit Sherrys Worten zu sprechen: „Two Korean adoptees who take the world of Adoption by storm….“

Als ich diesen Beitrag sah, habe ich bei allem, was sie schonungslos sagten und kommentierten „Ja!“ sagen müssen. Vor allem aber wünsche ich mir seitdem so sehr, dass meine Kinder auch irgendwann dieses Selbstbewusstsein und diese Gelassenheit und diese Abgeklärtheit, aber auch den Humor haben, wie diese beiden sie an den Tag legen…Einfach großartig und bewundernswert! Aber schaut selbst:

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„Aber mit Deinen Emotionen bist Du allein…“ – Gedanken zur Wurzelsuche meiner (Adoptiv-)Kinder

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Photo by Yulia Gambold on unsplash.com

Bevor ich mit Maxim nach Moskau flog, war eine liebe Freundin zu Besuch. Zunächst fragte sie: „Und bist Du aufgeregt?“ Ich antwortete zögerlich. Sie setzte nach, oder fasste vielmehr das zusammen, was mir seit Tagen durch Kopf und Bauch ging: „Aber mit Deinen Emotionen bist Du allein….“ Ja, genauso war es, und es war eine Achterbahn der Gefühle, die erst in Moskau endete. 

Auch wenn diese Reise mit Maxim für ein paar Tage nach Moskau auf der einen Seite ein erster Schritt in Richtung „Wurzelsuche“ war, so war es doch hauptsächlich eine kleine „Kulturreise“. Wir besuchten kein Kinderheim, wir kehrten nicht zu alten Plätzen, an denen vor etlichen Jahren wichtige Entscheidungen getroffen wurden, zurück. Wir schauten uns „bloß“ ein wenig Moskau an, tauchten ein in diese unermeßlich große russische Metropole, erlebten ein wenig Russland. Weniger das „typische“, das wirkliche  Russland, das uns in anderen Städten begegnen würde. Dennoch war diese Reise dann doch im Vorfeld mit vielen Emotionen verbunden gewesen. 

Da brachen auf einmal alte Erinnerungen auf, an unsere erste Einreise nach Russland, an die Tage, an denen wir Maxim und Nadeschda zum ersten Mal im Kinderheim begegneten, an unser Gerichtsverfahren, an all die Stempel, die wir sammeln mussten, an die Angst bei der Ausreise in dieser so furchtbar überfüllten Abflughalle, in dieser fast unerträglichen Hitze, die Angst, dass unser Familienplan doch noch einmal scheitern könnte. Nicht zuletzt auch durch mein „gesundheitliches Problem“, dass der eine Arzt neulich ja nicht lösen konnte, und der einzige Arzt hier im Umfeld, der es vielleicht lösen kann, derjenige ist, der mich bei meinen Fehlgeburten operiert hat, wurde wieder die Erinnerung an die Bitternis und den Schmerz über die eigene Kinderlosigkeit wach. Und dann waren da die Gedanken an die Sorgen, ob es mir gelingen würde, meine Kinder, die mir anvertraut wurden, wirklich gut ins Leben zu begleiten. Ja, manchmal ist das Leben mit ihren niemals endenden Bedürfnissen, mit immer neuen Herausforderungen anstrengend. Es kostet Kraft und Energie, die ich vielleicht manchmal gar nicht ausreichend habe. Manchmal fühle ich mich so, wie die wunderbare Sherrie Eldridge es einmal wieder in einem so ehrlichen Post über die Wut in Adoptivkindern geschrieben hat, den ich hier gerne mit Euch teilen möchte. Am meisten hat mich ein Satz berührt, in dem sie von den Adoptivmüttern spricht: „They’re in a war they never chose, in a place they don’t belong, and in an ocean that is life-defying.“ Ja, ich habe diesen „Krieg“ niemals gewollt. Vielleicht ist das Wort auch zu heftig. Es ist ein Kampf, aber kein Krieg, auf den ich mich niemals wirklich vorbereitet fühlte. Auch wenn uns die Bedürfnisse von Adoptivkindern hinreichend im Vorfeld der Adoption geschildert wurden, und ich so viel vorher gelesen hatte, aber wirklich ermessen, was das heißt und was es bedeutet, und wie es sich eben anfühlt, das passiert erst, wenn man tatsächlich drinsteckt, im wahren Leben mit zwei Adoptivkindern. 

So war ich nun auch mit meinen Ängsten und Sorgen vor der Russlandreise alleine. Aber dann gibt es eben doch Freunde, die das irgendwie erahnen und vermuten. Das tat gut. Und am Ende waren die Tage in Moskau mit Maxim mehr als versöhnlich. Viele Ängste lösten sich in Wohlgefallen auf. Angefangen von der Einreise über das Nichtkennen der russischen Sprache und dem sich Zurechtfinden in einer 18 Millionen-Metropole und das sich Bewegen in einer Stadt, die alles andere als sicher gilt bis hin zur Ausreise. Meist ist es heilsam, die Ängste zu konfrontieren und durch sie hindurch zu gehen. Die Einreise war eher unspektakulär, nach kaum 30 Minuten nach Verlassen des Flugzeuges, waren wir eingereist, hielten unsere Koffer in der Hand und standen unserem Fahrer zum Hotel gegenüber. Nach einem Tag hatte ich die russischen Buchstaben wieder alle parat, erinnerte Wörter und begann mich nicht mehr so fremd zu fühlen in dieser unermesslich großen Metropole Moskau. Auch in ihr hat sich seit unserem letzten Aufenthalt sehr viel getan. Erst dachte ich, es wäre meine verklärte Erinnerung. Aber dem war nur bedingt so. Denn mittlerweile hatte das Land auch eine Fussball-WM hinter sich, in dessen Vorfeld sehr viel Geld investiert wurde, um die Austragungsorte schön und sicher zu machen. Und das auch mit Erfolg. Die Innenstadt von Moskau ist heutet so unglaublich sauber und schön. Und eben sicher. Oder zumindest wird das Gefühl von Sicherheit erfolgreich vermittelt. Ja, es gibt viel Sicherheitspersonal und eine hohe Polizeipräsenz, dennoch fühlte ich mich nicht überwacht, sondern eben „beschützt“. Maxim und ich fanden uns gut zurecht, genossen unsere Zeit, nahmen die vielen Eindrücke auf, waren fasziniert und überwältigt. Mit den Tagen kamen wir immer besser zurecht, fanden unsere Wege durch die Stadt, entwickelten immer mehr Entdeckergeist. Gerne wären wir länger geblieben. Doch es war gut, so wie es war. Bei unserem nächsten Besuch werden wir mutiger sein, noch mehr auf eigene Faust erkunden, jetzt wo wir ein erste kleines Gefühl für diese Stadt haben. 

Viel Angst ist gewichen in diesen Tagen, nicht nur vor dieser unberechenbaren 18 Millionen Metropole Moskau, auch vor diesem so unermesslich großen und faszinierenden Land Russland und letztlich auch vor der Suche nach den Wurzeln meiner Kinder…. vielleicht war deshalb auch der Besuch in der Christ-Erlöser-Kathedrale so erhebend und befreiend….

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„Was ist echte Stärke für Dich?“ – Blogparade

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Photo by Benjamin Manley on unsplash.com

Die tapfere Sunnybee vom Mutter-Sohn-Blog hat mich zur Blogparade „Was ist echte Stärke für Dich?“ eingeladen. Und der folge ich natürlich gerne. Das Thema ist eine Steilvorlage für mich gerade, hatte ich doch erst in der vergangenen Woche ein Gespräch mit der ehemaligen Klassenlehrerin meiner Kinder, als sie beide in der behüteteren Vorklasse waren. Da ging es unter anderem genau um dieses Thema. Nicht um meine Stärken, sondern um die meiner Kinder, und darum, genau diese immer wieder in den Fokus aller Betrachter und Beteiligten zu stellen. Somit widme ich diesen Beitrag den Stärken meiner Kinder!

Dass ich als ihre Mutter stark bin und es jeden Tag von neuem sein muss, ist unbenommen. Ja, den Alltag hier wuppen. Geschenkt. Das muss jede Mutter, egal ob alleinerziehend, oder mit einem Mann, der zumindest mal für das Familieneinkommen sorgt. Ja, die ganze Familienarbeit, auch geschenkt. Dass man als Mutter auch von zwei förderbedürftigen Kindern auch stark sein muss, was die Zusammenarbeit mit der Schule angeht, ist auch irgendwie klar. Zumindest habe ich viel darüber geschrieben. Dass man da ziemlich auf Zack sein muss, was Förderung und Unterstützung angeht, geht damit irgendwie einher. Ja, das sind alles ein Zeichen von Stärke. Deutliche Zeichen von Stärke. – Vor allem wenn es Mütter wie zum Beispiel Lydia sind. Das ist wirklich sehr beeindruckend, wie sie ihr Familienleben im Griff hat und immer wieder einen Weg findet, das Unmögliche möglich zu machen. Und sich durch nichts und niemanden beirren lässt. Das ist nicht nur Stärke, sondern für mich ein Zeichen von wahrer Größe. –

Wirkliche Stärke? In meinen Augen zeigen diese vor allem meine Kinder. Jeden Tag von Neuem.  Maxim und Nadeschda sind Überlebende. Überlebende einer frühen Kindheit, die von Armut und Verlust geprägt war. Verlust ihrer russischen Mutter, Armut in jeglicher Hinsicht, vor allem aber Armut an Liebe und Zuneigung, Armut an Beachtung ihrer Bedürfnisse, Armut an Geborgenheit und Fürsorge. Was sie aushalten mussten, wäre selbst für einen Erwachsenen nur schwer zu ertragen. Aber sie haben gekämpft, jeden Tag von Neuem und haben das Trauma überlebt. Dann kamen wir, als vermeintliche Retter, wie mancher denken mag. Aber wir muteten Maxim und Nadeschda zu, wieder ihre ihnen vertraut gewordene Umgebung zu verlassen, in ein fremdes Land zu gehen, in dem sie weder die Sprache noch die kulturellen Alltäglichkeiten kannten. Mit zwei Menschen, die zwar bereit waren, alles für diese zwei Kinder zu tun, aber die ihnen doch fremd waren. Auch das haben sie geschafft. Sie waren so stark und mutig, sich auf eine neue Umgebung und neue Bezugspersonen einzulassen. Sie haben eine neue Sprache gelernt, sie haben sich auf ihre neue Umgebung eingelassen und für sich erobert. Nach mittlerweile Jahren haben sie immer mehr ihre Ängste überwunden und gelernt, eine tiefe Bildung zu uns als ihre „neuen“ Eltern aufzubauen. Wie stark und mutig muss man sein, um nach all den seelischen Verletzungen ein neues Vertrauen aufzubauen? Trotz all der Widrigkeiten haben Maxim und Nadeschda die Kraft gehabt, ihr kleines Leben in die Hand zu nehmen, sich zu entwickeln, weiter zu lernen und zu wachsen. Unvergessen sind für mich die Momente, in denen Nadeschda einfach irgendwann aufstand und lief oder Maxim endlich nach Monaten sein erstes Wort sprach. Unvergessen sind die Wochen und Monate, in denen es Maxim nicht gut ging im Kindergarten, er sich aber da durch kämpfte, oder Nadeschda stark regredierte aber dann doch ihre Entwicklung wieder aufholte und sich nach dem Himmel streckte.

Auch heute noch beweisen sie wieder jeden Tag von neuem eine unglaubliche Stärke. Jeden Tag kämpfen beide unermüdlich gegen den inneren Schweinehund der Anstrengungsverweigerung. Sie bewältigen ihren Alltag in der Schule, obwohl der Alarm im Kopf beide quält. Immer wieder und immer wieder. Aber sie geben nicht auf! Sie lassen sich nicht unterkriegen. Und jeder noch so kleine Fortschritt ist ein großer Sieg! Maxim und Nadeschda sind so tapfere Kämpfer. Ihr Wille, sich das Leben zu erobern, trotz aller Widrigkeiten, die ihnen das Schicksal mitgeben hat, ist ungebrochen. Dass sie sich so gegen alle Widerstände des Lebens durchsetzen, ist für mich echte Stärke.

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Herkunft (reloaded): Sie spielten ihr eigenes Schicksal…

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Photo by Marco Bianchetti on unsplash.com

Im Frühsommer arbeitete ich für eine Theaterproduktion an der Schule, mit der 8. Klasse. Alle Kinder waren mitten in der Pubertät und sehr mit ihrem eigenen inneren emotionalen und seelischen Umbau beschäftigt. Zwei Jugendliche sind mir nachhaltig in Erinnerung geblieben, denn das Engagement mit dem sie ihre Rollen ausfüllten, zeigte zuweilen eine ganz besondere Art der Besessenheit.

Wir spielten „Oliver Twist“. Für diejenigen, die die Handlung des Klassikers von Charles Dickens nicht vor Augen haben: Eine junge schwangere Frau bricht erschöpft und völlig  ermattet in einer regnerischen Nacht vor einem Waisenhaus zusammen. Sie bringt noch ein Kind, Oliver, zur Welt und stirbt. Oliver Twist lebt fortan in einem Waisenhaus, bis er mit zehn Jahren in die Lehre bei einem Bestatter gehen soll. Von dort flieht er nach London und wird von einer Bande Kleinganoven aufgenommen. Bei seinem ersten eigenen Diebstahl begegnet er dem reichen Mr. Brownlow, der, wie sich später nach vielen Irrungen und Wirkungen herausstellt, Olivers Großvater ist.

Das Mädchen, das die Agnes, Olivers Mutter, spielte, fiel mir zunächst auf, weil sie zunächst so eine ganz fixe Idee von ihrem Kleid hatte. Zunächst tat ich das als „kleinen Mädchen Traum“ ab und ließ sie gewähren. Alle anderen sahen eher ihre Kostüme aus einer kritischen Distanz. Es war fast eher peinlich, so alten „Fummel“ anzuziehen. Auch als sie dann über mehrere Tage mit immer wieder neuen Ideen kam, wie man denn den schwangeren Bauch ausstopfen könnte, wurde ich noch nicht hellhörig. Bei den Proben war sie oft unkonzentriert und wenig bei der Sache. Lediglich der Schrei, den sie in der Geburtsszene ausstoßen musste, saß. Um so überraschter war ich, als „Agnes“ bei den eigentlichen Aufführungen dann ihre Rolle herzergreifend spielte. Wenn sie den Saal hinunter ging zur Bühne – auf dem Weg zum Waisenhaus, spürte man förmlich den Schmerz dieser Welt, der auf ihren Schultern lastete.

Genauso bewegte mich die Darstellung des Mr. Brownlow. Der Junge, der ihn spielte, war mir schon im Unterricht in der 8. Klasse aufgefallen. Nicht weil er nun der Cleverste war, aber er war so über aus bemüht und engagiert, bei mir, weniger bei seinem Klassenlehrer. Wenn ich ihn schon morgens auf dem Parkplatz traf, suchte er immer den Kontakt zu mir, als wollte er mir irgendetwas ganz anderes mitteilen. Die Fürsorge, mit der er als Mr. Brownlow sich um den Waisenjungen Oliver kümmerte, war bemerkenswert. Und in der Schlussszene, in der der Großvater seinen verlorenen Enkel in die Arme schließt, schien es, als würde der Schüler hier einen ganz tiefen eigenen inneren Wunsch zum Ausdruck bringen.

Vor ein paar Tagen nun schaute ich mir die Bilder der Aufführung noch einmal mit einer Kollegin an. Bei einem Foto der schmerzverzerrten Agnes bemerkte ich noch einmal, wie bewundernswert ich ihr Spiel fand. Unser Gespräch driftete zu den beiden Schülern. Als ich feststellte, dass der Schüler, der Mr. Brownlow spielte, so anders sei als sein Bruder, den ich aktuell im Unterricht habe, sagte sie: „Nun ja, die beiden haben ja auch nicht die gleichen Eltern.“ Ich schien wohl zu stutzen, obwohl mir die Antwort klar war, denn sie ergänzte: „Die beiden Jungen sind adoptiert. Und ich meine die „Agnes“ auch.“

Da war mir klar, warum diese beiden Schüler so in ihren Rollen auf der Bühne versunken waren: Sie spielten ihr eigenes Schicksal…

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Auf der Suche nach den „Herzwurzeln“ – Biografiearbeit ist so individuell wie jedes Adoptivkind

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Photo by Annie Spratt on unsplash.com

Zweimal im Jahr organisiere ich Treffen für Adoptivfamilien. Ich finde das wichtig, diesen Familien eine Möglichkeit zu geben, sich in einem ungezwungenen Rahmen auszutauschen. Meist haben wir an diesen Treffen auch immer wieder einen kleinen Seminarteil zu Adoptionsrelevanten Themen für die Eltern. Sei es über die Zusammenarbeit mit der Schule oder die „Anstrengungsverweigerung“ und der Umgang mit dieser oder über den Umgang mit Wut und Frustration. Eine Adoptivmutter, die regelmäßig zu diesen Treffen kommt, stresst nun seit Jahren das Thema „Biografiearbeit“.  Das wäre so wichtig, und wir Eltern müssten unbedingt daran arbeiten, und die Kinder auch. So ein ganzes Wochenende mit ganz intensiver Biografiearbeit in der großen Runde, natürlich Eltern und Kinder aus unterschiedlichen Perspektiven. Ich habe das immer wohlwollend zur Kenntnis genommen, aber irgendwie traute ich mich nicht dadran. Irgendwie gab es für mich immer wieder einen Störfaktor. Und nun weiß ich auch warum….

Ohne Zweifel Biografiearbeit ist ungeheuerlich wichtig! Adoptivkinder wollen und sollen irgendwann ihren Wurzeln nachspüren, ihre Geschichte und ihre Herkunft kennen, verstehen und einen eigenen Umgang damit finden. Zu schmerzhaft sind die Wunden, die die Trennung von der leiblichen Mutter gerissen haben und zu omnipräsent die Folgen daraus. Ungeachtet der weiteren Lebensgeschichte, wie vielleicht ein Leben in einem Kinderheim oder die kulturelle Entwurzelung durch die Adoption. In der Euphorie der Adoption geht schnell verloren, was ein Kind auch mit seinem neuen Leben in einem anderen Land alles verliert. Ein Bild hat sich in mein Gedächtnis unlösbar eingebrannt: bei einem der Kinderheimbesuche in unserem Adoptionsprozess sahen wir Maxim, wie er mit seiner Gruppe zu einem Spaziergang aufbrach. Deutlich war zu sehen, wie wohl er sich da fühlte. Glücklich winkte er uns damals von der anderen Straßenseite zu. In diesem Augenblick wurde mir zum ersten Mal bewusst, was wir ihm auch alles mit der Adoption nahmen.

Dass Adoptiveltern sich auch intensiv damit auseinandersetzen müssen, wie Biografiearbeit heilsam eingebracht wird, ist genauso unbenommen. Entscheidend ist, das erforderliche Maß an Sensibilität zu haben, offen mit dem Thema umzugehen, sich selbst mit der Rolle der Adoptivmutter auseinandergesetzt und einen friedvollen und demütigen Umgang mit der leiblichen Mutter gefunden zu haben. Neben ein paar praktischen Werkzeugen, wie man gemeinsam mit seinem Adoptivkind, sich über seine Herkunft und seine Wurzeln und den damit verbundenen Gefühlen auseinandersetzen kann. Vor allem Irmela Wiemann hat hier im Deutschsprachigen Raum Großartiges geleistet. Ihre Ratgeber sind mehr als hilfreich und in meinen Augen Pflichtlektüre für alle Adoptiveltern. Lange habe ich ein passendes Kinderbuch zur Herkunfts- und Wurzelsuche vermisst. Auch das hat Irmela Wiemann gemeinsam mit Schirin Homeier mit „Herzwurzeln“ veröffentlicht.

Jannik ist Pflegekind und lebt erst seid ein paar Wochen bei seiner Pflegefamilie. In seiner Klasse lernt er Ayana kennen, die als Baby von ihren Eltern aus Äthiopien adoptiert wurde. Jannik versucht, in seiner Pflegefamilie anzukommen, aber immer wieder wird er von seiner „Blitzwut“, mit Trauer und Schmerz um die Tatsache, dass er nicht mehr mit seiner Mutter und seinen Geschwistern zusammenleben darf, eingeholt. Ayana ist auf der Suche nach ihren äthiopischen Wurzeln. Auch sie kämpft immer wieder mit Wut und Verzweiflung. Als die Bemühungen ihrer Eltern wieder einmal nicht fruchten, ergreift sie selbst die Initiative und schickt ihren Papagei mit einem Brief an ihre leibliche Mutter nach Äthiopien. In ihrem gemeinsamen Leid freunden sich Ayana und Jannik an und finden beide nach einem langen Weg ihre „Herzwurzeln“ in sich und in ihren Familien. Der Geschichte haben Schiri Homeier und Irmela Wiemann erstmals einen Ratgeberteil für Kinder angefügt, in dem nicht nur die Fachbegriffe aus dem Adoptions- und Pflegewesen kindgerecht erklärt werden, sondern genauso die Konzepte und unterschiedlichen Formen von Elternschaft und Familie. Mit wunderbaren Illustrationen gibt sie den Kindern Hilfestellungen für den Umgang mit diffusen Gefühlen wie etwa der „Blitzwut“ oder der Angst vor weiteren Verletzungen, die eingesperrt ist im „Herz mit den zwei Kammern“. Ergänzt wird das Buch um einen weiteren Ratgeberteil für Erwachsene, in dem Herkunftseltern, Adoptiveltern, aber auch Fachpersonal angesprochen werden.

In den Sommerferien habe ich es nun zum zweiten Mal gelesen. In der Hoffnung, dass vor allem auch Maxim vielleicht darauf anspringt. Tat er aber nicht. Obwohl wir, als er kleiner war, schon immer mal das ein oder andere Kinderbuch, in dem das Thema Adoption kindgerecht dargestellt wird, gelesen haben. Obwohl das Thema „Herkunft“ gerade wieder in den vergangenen Wochen wieder sehr präsent ist.

Maxim ist im „Russlandfieber“. Er will russisch lernen, er liest Geschichten über Moskau, er erkämpft sich selbst im Moment das russische Alphabet Buchstabe für Buchstabe. Und am liebsten will er schon morgen nach Moskau fliegen. Kaum kann er es erwarten, dass endlich sein russischer Pass neu ausgestellt ist. Nadeschda hingegen zeigt entweder gar kein Interesse oder vehemente Ablehnung: „Mama, ich will keinen russischen Pass. Der ist nur für die Babys, die daher kommen. Ich brauche das nicht. Und ich will das nicht. Und wenn ich Nein sage, dann heißt das auch Nein. Verstanden?“ Was beiden gemein ist, dass sie keinerlei Regung zeigen, nach ihrer russischen Mutter zu suchen. Maxim will seine russischen Wurzeln kennenlernen, versinnbildlicht mit dem Roten Platz in Moskau. Da will er hin. Aus den Büchern hier zuhause hat er inzwischen nahezu jedes Denkmal und Gebäude, das sich um den Roten Platz formiert, verinnerlicht. Doch weder seine Geburtsstadt, noch das Kinderheim, oder seine biologischen Wurzeln scheinen ihn zu interessieren. Doch bei näherer Betrachtung spürt er, dass er an diese Wunden nicht ran will. Das schafft er noch nicht. Mit seiner doppelten Elternschaft will er sich noch nicht auseinandersetzen. Auch Nadeschda hat das für sich wieder ganz weit unten in ihrem Inneren vergraben, nachdem es im vergangenen Herbst einmal für kurze Zeit aufflammte, aber von außen an sie herangetragen. Und ihre Reaktion damals war deutlich, dass sie sich damit nicht auseinandersetzen wollte.

Da wurde mir noch einmal bewusst, dass Biografiearbeit und das Auseinandersetzen mit der Herkunft ein sehr individueller Prozess ist. Es geht eben nicht nur darum, einen Ratgeber zu lesen, ein Seminar zu besuchen, um dann anschließend ein „Lebensbuch“ mit seinem Adoptivkind zu basteln, ein Bild der leiblichen Mutter zu malen und ihr einen Brief zu schreiben und dann irgendwann, wenn das Kind es wünscht, in sein Herkunftsland zu reisen und möglicherweise die leibliche Mutter zu suchen. Das ist alles wichtig! Und Adoptiveltern brauchen die professionelle Unterstützung und die Impulse, die eben vor allem Irmela Wiemann setzt. Doch danach ist es in meinen Augen ein sehr individueller Prozess, wie die Biografiearbeit zuhause in der Familie gestaltet wird. Sie muss meiner Meinung nach so individuell sein, wie die Lebensgeschichte eines jeden Adoptivkindes und auch so individuell und einzigartig, wie der Umgang des Kindes mit seiner Geschichte ist. Das sehe ich bei meinen eigenen Kindern. Sie haben dieselbe russische Mutter, sie teilen einen Großteil der Geschichte, auch bevor sie zu uns kamen. Aber beide haben einen ganz eigenen Umgang damit. Einen Umgang, der mich eben nicht die Ratschläge wie „Projekte“, wie die Fachliteratur sie vorschlägt, Checklistenartig bei meinen Kindern abarbeiten lässt.

Wie individuell jedes Adoptivkind mit seiner Geschichte umgeht, sehe ich auch in unserem Freundes- und Bekanntenkreis. Manche Adoptivkinder möchten unbedingt zurück in das Kinderheim fahren, aus dem sie kommen. Andere lehnen ihren russischen Namen ab mit der Begründung, sie haben an ihn keine schönen Erinnerungen. Entscheidend ist am Ende, dass wir als Eltern unseren Kindern die Offenheit deutlich zeigen, dass sie mit uns Adoptiveltern über ihre Herkunft und ihre Geschichte sprechen können, dass sie aber das Tempo und den Weg und auch den Inhalt bestimmen. Denn vor allem ist es ihre ganz persönliche Geschichte mit ihren ganz persönlichen traurigen Gefühlen. Einfühlsam und in meinen Augen auch nur ganz privat im Kreise der Familie sollte es den Raum geben, wo unsere Adoptivkinder sich mit ihrer Geschichte auseinandersetzen dürfen, wann und wie sie wollen. Und so, wie es für sie heilsam und gut ist.

 

Informationen zu „Herzwurzeln“:

„Herzwurzeln“

Schirin Homeier und Irmela Wiemann

Mabuse-Verlag GmbH, Frankfurt a.M. 2016

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Charlotte’s Sonntagslieblinge (86)

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Photo by Sanah Savanna on unsplash.com

Ach, so eine Woche mit einem Feiertag hat doch etwas herrliches! Kurz einmal im Alltagstrott innehalten, eine Tag ohne Termine und Pläne verbringen. Das hat schon etwas. Ich freue mich darauf, dass uns der Mai noch ein paar weiterer solcher Wochen mit einem Feiertag bescheren wird. Und es ist gut, dass ich für dieses Jahr beschlossen habe, dass wir auch die anderen langen Wochenenden nicht dazu nutzen, wie wir es in der Vergangenheit getan haben, um wegzufahren, sondern einfach die Ruhe Zuhause genießen. Dennoch waren die drei übrigen Tage der Woche arbeitsreich und am Wochenende musste ich wieder die Schulbank drücken. Doch ein Ende ist absehbar. Noch zwei Wochenendseminare und dann ist es endlich geschafft. So bin ich heute für diese drei Sonntagslieblinge dankbar:

  1. Hatte ich Euch schon erzählt, dass mein Sohn sich nun freiwillig morgens den Wecker auf sechs Uhr stellt, um genug Zeit zu haben, vor der Schule noch zu lesen oder zu spielen? Ja, in der Tat! Er selbst kam auf die Idee, als ihm klar wurde, dass er nicht lange schlafen und dann trotzdem noch vor der Schule lesen oder spielen kann. Nun steht er schon seit ein paar Wochen früh auf und macht sich dann ohne irgendeine Ermahnung oder Erinnerung von selbst rechtzeitig fertig. Seitdem ist unser morgendliches Leben um so ein Vielfaches entspannter.
  2. Nadeschda beschäftigt einmal wieder ihre Herkunft. Abends vor dem Schlafengehen kommen ihr immer mal wieder „alte“ Themen in den Sinn. Die müssen dann raus und geklärt werden. So auch in dieser Woche: „Mama, warum glaubt die Marie, dass Du nicht meine echte Mama bist?“ Als ich Nadeschda erneut erklärte, dass ich genauso ihre echte Mutter bin wie ihre russische Mutter, seufzte mein kleines Mädchen aus tiefstem Herzen, legte ihr Ärmchen um mich und sagte: „Da bin ich aber froh.“
  3. Auch meine zweite Seminararbeit ist nun so gut wie fertig. Noch einmal Korrekturlesen und dann kann auch diese in den Druck. Es ist so ein befreiendes Gefühl, dass sich meine Ausbildung nun wirklich bald dem Ende zuneigt.

Habt noch einen wunderbaren Sonntag und einen wohlbehaltenen Start in die Woche!