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Charlotte’s Sonntagslieblinge (86)

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Photo by Sanah Savanna on unsplash.com

Ach, so eine Woche mit einem Feiertag hat doch etwas herrliches! Kurz einmal im Alltagstrott innehalten, eine Tag ohne Termine und Pläne verbringen. Das hat schon etwas. Ich freue mich darauf, dass uns der Mai noch ein paar weiterer solcher Wochen mit einem Feiertag bescheren wird. Und es ist gut, dass ich für dieses Jahr beschlossen habe, dass wir auch die anderen langen Wochenenden nicht dazu nutzen, wie wir es in der Vergangenheit getan haben, um wegzufahren, sondern einfach die Ruhe Zuhause genießen. Dennoch waren die drei übrigen Tage der Woche arbeitsreich und am Wochenende musste ich wieder die Schulbank drücken. Doch ein Ende ist absehbar. Noch zwei Wochenendseminare und dann ist es endlich geschafft. So bin ich heute für diese drei Sonntagslieblinge dankbar:

  1. Hatte ich Euch schon erzählt, dass mein Sohn sich nun freiwillig morgens den Wecker auf sechs Uhr stellt, um genug Zeit zu haben, vor der Schule noch zu lesen oder zu spielen? Ja, in der Tat! Er selbst kam auf die Idee, als ihm klar wurde, dass er nicht lange schlafen und dann trotzdem noch vor der Schule lesen oder spielen kann. Nun steht er schon seit ein paar Wochen früh auf und macht sich dann ohne irgendeine Ermahnung oder Erinnerung von selbst rechtzeitig fertig. Seitdem ist unser morgendliches Leben um so ein Vielfaches entspannter.
  2. Nadeschda beschäftigt einmal wieder ihre Herkunft. Abends vor dem Schlafengehen kommen ihr immer mal wieder „alte“ Themen in den Sinn. Die müssen dann raus und geklärt werden. So auch in dieser Woche: „Mama, warum glaubt die Marie, dass Du nicht meine echte Mama bist?“ Als ich Nadeschda erneut erklärte, dass ich genauso ihre echte Mutter bin wie ihre russische Mutter, seufzte mein kleines Mädchen aus tiefstem Herzen, legte ihr Ärmchen um mich und sagte: „Da bin ich aber froh.“
  3. Auch meine zweite Seminararbeit ist nun so gut wie fertig. Noch einmal Korrekturlesen und dann kann auch diese in den Druck. Es ist so ein befreiendes Gefühl, dass sich meine Ausbildung nun wirklich bald dem Ende zuneigt.

Habt noch einen wunderbaren Sonntag und einen wohlbehaltenen Start in die Woche!

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Biografiearbeit – Über disharmonische Familienkonstellationen

Kinderzeichnung - Familie

Mit freundlicher Unterstützung von Fotolia

Neulich sprach ich mit einer bekannten Adoptivmutter über „Biografiearbeit“ mit unseren Adoptivkindern. Unsere Kinder werden älter und größer, und das Thema der Herkunft spielt immer öfter eine Rolle. Meistens im Alter zwischen acht und zehn Jahren, wenn der nächstes Identitätsschub kommt und eine stärkere Abgrenzung im Kind vom eigenen Ich zur äußeren Umwelt sich entwicklet, stellt sich das Kind die Frage nach der biologischen Familie und dem, was wirklich Familie ist. Darauf müssen Adoptivfamilien vorbereitet sein. Dabei geht es nicht nur darum, dass wir Geld sparen für einen Flug und eine Reise in das Herkunftsland unserer Kinder, sondern dass wir Antworten auf ihre Fragen haben.

Wer ist meine leibliche Mutter? Warum hat sie mich abgegeben? Warum bin ich nicht aus Deinem Bauch gekommen? Wo lebt sie heute? Lebt sie überhaupt noch? Wie war mein Leben im Kinderheim? Warum habt gerade Ihr mich adoptiert? – Das könnten mögliche Fragen sein. Es geht aber auch darum, welches Bild von „Familie“ wir unseren Kindern transportieren. Dass das Entstehen unserer Familie eine andere war, als bei vielen Familien, die sich im sozialen Umfeld meiner Kinder bewegen, ist die eine Geschichte. Doch wie sieht ihre Familie nun heute aus? Die Mischung aus ihrer biologischen und ihrer sozialen Familie, in der aber auch nicht alles Eitelsonnenschein ist und wenig mit dem Klischee der harmonischen „Rama“- Familie zu tun hat. Das Gespräch mit der Bekannten ließ mich nachdenken. Denn, wenn ich meine Kinder begleiten möchte, einen gesunden Umgang mit ihrer Herkunftsgeschichte und heutigen Familie zu finden, so muss ich selbst noch einmal in meine eigene Biografie zurückgehen und einen Umgang mit meiner eigenen Familie und dem, was daraus für meine Kinder wird, finden.

Wenn Maxim über seine Familie spricht, dann hat diese fünf Mitglieder: Er, Nadeschda, Mama, Papa und Onkel Daniel. Der russische Teil seiner Herkunftsfamilie spielt für ihn im Alltag (noch) keine dominante Rolle. Es sind eher im Moment seine kulturellen Wurzeln , die ihn interessieren. Seine russische Mutter ist in seiner momentanen Wahrnehmung gestorben, sie lebt für ihn im Himmel. Alles andere schiebt er noch ganz weit von sich, ganz zu Schweigen von der Frage, ob wir seine russische Mutter irgendwann einmal suchen werden. Sicherlich würde ich mich mit Maxim, wenn er alt genug ist, auf diese Suche machen. Ich für meinen Teil habe inzwischen eine klare Haltung gegenüber der russischen Mutter und sehe dem – zumindest im Moment – gelassen entgegen. Spannend ist hingegen die Frage nach den Geschwistern, die Maxim und Nadeschda noch in Russland haben. Sollen wir diese jetzt schon suchen? Dank Internet und sozialen Medien dürfte dies nicht schwierig sein. Und ich kenne immer mehr Adoptivfamilien, die beginnen, Kontakte zu den leiblichen Geschwistern zu knüpfen. Doch Maxim und Nadeschda haben noch nicht einmal realisiert, dass sie tatsächlich noch zwei Geschwister in Russland haben. Diese weitere Familie findet nicht statt.

Vielleicht – und hier komme ich dann zu der Auseinandersetzung mit meiner eigenen Biografie – findet bei meinen Kindern diese „erweiterte Familie“ nicht statt, weil sie bei Richard und bei mir auch nicht stattfindet. Denn auch unsere biologischen Herkunftsfamilien sind so viel größer als der harte Kern, den Maxim als seine Familie wahrnimmt. Schon allein, dass im Grunde zu unserer Familie auch noch eine Omi – meine Mutter, die sich immer seltener blicken lässt -, gehört, ist ihm nicht bewusst. Bei näherer Betrachtung kaum verwunderlich, wenn ich mir mein eigenes gespaltenes Verhältnis zu ihr ansehe. Unsere Familie war aber mal viel größer. Oder sollte ich sagen, sie könnte so viel größer sein, würden nicht Neid und Missgunst auf der einen Seite regieren, und ein Mangel an sozialer Empathie auf der anderen Seite herrschen. Denn zu meiner Stiefmutter und meinen Halbgeschwistern habe ich keinen Kontakt mehr. Nachdem wir uns in der Auseinandersetzung um das Erbe meines Vaters endgültig zerfleischt haben, ist jegliche Basis für einen weiteren Kontakt geschwunden. Vielleicht war es aber auch nur, dass wir ohnehin nie eine gemeinsame Basis hatten, und der Kontaktabbruch nur die logische Konsequenz war, als mein Vater nicht mehr als Bindeglied da war. Nur weil wir ein paar Gene mit einander teilen, müssen wir nicht befreundet sein. Jedoch entbehren meine Kinder damit ein paar weitere Onkels und Tanten. Ähnlich auf Richards Seite der Familie: Auch zu seinem Bruder und dessen Familie gibt es keinen Kontakt mehr. Auch hier trennten sich die Wege gänzlich, nachdem meine Schwiegermutter gestorben war. So haben meine Kinder Cousins und Cousinen, von deren Existenz sie nichts wissen.

Manchmal finde ich das schade. Wir werden irgendwann für die Schule mit unseren Kindern einen Stammbaum malen müssen, in dem es viele leere und unbekannte Stellen gibt. Auf der einen Seite macht mich das traurig, denn immer noch trauere ich dem bunten harmonischen Familienbild aus der Margarine-Werbung nach. Doch auf der anderen Seite weiss ich, dass dieses harmonische Familienbild ein Mythos ist. So würde es bei uns nie sein. Wie gesagt, gemeinsame Gene sind nicht die Garantie für ein friedliches und freundschaftliches Miteinander. Muss ich also meinen Kindern diesen Zwang antun? Nein. Dennoch bleibt die Frage, ob ich ihnen nicht den Weg offenhalten kann, ihre spätere Familie so für sich zu definieren, wie sie es für richtig halten und für sich brauchen werden. Dies gilt sowohl für ihre russische Familie als auch für ihre deutsche Familie.

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Die andere Seite der Herkunft – Über meine drei Mütter

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Danke an unsplash.com

In Summe habe ich drei Mütter: Eine biologische Mutter, eine Stiefmutter und eine amerikanische „Ersatzmutter“. Alle drei haben in mir Spuren hinterlassen. Wie sehr sie mich geprägt und beeinflusst haben, das habe ich erst vollständig realisiert, seitdem ich selbst Mutter bin. Dass ich mit Leib und Seele Mutter bin, und dabei es manchmal auch übertreibe und „Helikoptermutter aus Überzeugung“ bin, mag nicht nur mit der Lebensgeschichte meiner Kinder und den Bedürfnissen, die sich daraus ergeben, zu tun haben, sondern auch in den Vorbildern, die ich in meiner Kindheit und Jugend bis ins Erwachsenenalter erleben durfte, begründet sein.

Katja von homeiswheretheboysare hat im vergangenen Jahr einen bewegenden Post zu „Regretting Motherhood“  geschrieben. Immer wieder waberte ein darauf bezogener Post durch meinen Kopf. Dann verwarf ich ihn wieder. Doch nachdem Sylvi von momsfavoritesandmore sich dem Thema in einer wunderbaren Weise angenommen hat (und dabei tatsächlich eine Frau, die ihre Mutterschaft bereut, für ein Interview gefunden hat), nehme ich diesen Ball noch einmal auf. Diesmal als Betroffene, als Kind, das von zwei Frauen ins Leben begleitet wurde, die meiner Meinung nach ihre Mutterschaften immer bereut haben, und das dann in der späten Jugend das Glück hatte, noch einmal eine Mutter zu erleben, die ihre Mutterrolle angenommen hat.

Meine Mutter ist ein schwieriger Charakter. Neben vielen Persönlichkeitsbezogenen Schwierigkeiten, bin ich davon überzeugt, dass auch sie zu den Müttern gehört, die ihre Mutterschaft bereuen. Nicht umsonst sprach mir Katjas Beitrag zu „Regretting Motherhood“, vor allem ihre Aspekte zur Traumarisierung der Kinder, so aus der Seele. Nicht nur wegen meiner eigenen Kinder. – Meine Kinder wurden von einer Frau geboren, die zumindest nicht Mutter sein konnte. Sonst hätte sie Maxim und Nadeschda nicht abgegeben. Meine Kinder haben diese Erfahrung gemacht, abgegeben zu werden, aus welchen Gründen auch immer. Noch immer fällt es mir schwer, der Geschichte zu glauben, dass sie ihre Kinder aus Liebe abgegeben hat. Ja, vielleicht auch. Doch vielmehr war es eine Notwendigkeit aus den Umständen heraus. Dennoch bleibt bei den Kindern das Gefühl zurück, nicht gewollt zu sein, egal wie. Noch immer hallt des Nicht-gewollt sein. – Nein, auch ich bin sicherlich nicht aus tiefstem Herzen gewollt gewesen. Ihr ganzes Leben lang hat meine Mutter meinen Vater und meinen Bruder und mich für ihr Unglück und ihr „verfuschtes“ Leben verantwortlich gemacht. Sie hat damals Kinder bekommen, weil man das eben so machte, weil es dazu gehörte, weil es von einer Frau erwartet wurde. Die Frage nach einem anderen Weg stellte sich gar nicht. Geschweige denn, dass meine Mutter den Mut dazu gehabt hätte. Verantwortung zu übernehmen gehört bis heute nicht zu ihren Stärken. Sicherlich bemühte sie sich mehr recht als schlecht, uns Kinder zu versorgen, aber maßgeblich war mein Elternhaus von emotionaler Kälte und Desinteresse dominiert. Wir Kinder hatten zu funktionieren, unsere Leistung zu bringen und uns einzufügen, in die Regeln und gesellschaftlichen Konventionen, die herrschten. Empathie, Wärme und Fürsorge aus einem mütterlichen Grundbedürfnis heraus gab es nicht. Auch heute sucht sie nur gelegentlich den Kontakt zu ihren Enkeln. Und auch das wiederum nur, weil man das so von ihr erwartet. Ein wirkliches Interesse und das Bemühen sich mit ihren Enkeln ernsthaft auseinanderzusetzen hat sie nicht. Es hat mich Jahre der Therapie gekostet, alte Glaubenssätze, die vor allem meine Mutter mir mit ins Lebensbuch geschrieben hat, abzulegen und mit neuen zu ersetzen. Und erst in der Konfrontation mit ihrem Verhalten gegenüber meinen eigenen Kindern habe ich gelernt, loszulassen. Lange habe ich noch geglaubt, es wäre auch wieder meine Verantwortung, dass meine Mutter ein gutes Verhältnis zu ihren Enkeln hat. Ist es aber nicht. Es ist allein ihre Verantwortung.

Wie wenig sie das Bild einer Mutter erfüllt, führte mir mein Sohn vor Augen. Da war Maxim fünf. Wieder einmal war meine Mutter zu Besuch bei uns gewesen, der mehr oder weniger angespannt verlief. Ich glaube mich zu erinnern, dass ich mich auch mit ihr wieder gestritten habe und laut wurde. Abends blickte ich mit Maxim und Nadeschda auf den Tag zurück. Selbstkritisch muss ich so etwas gesagt haben wie: „Ja, es war nicht gut, dass ich die Omi angebrüllt habe, denn sie ist ja meine Mutter.“ Mein Sohn blickte mich irritiert an und antwortete: “Wie, die Omi ist Deine Mama?? Sie ist gar nicht so wie eine Mama.“

Die Geschichte zu meiner Stiefmutter ist schnell erzählt. Bösartig kann ich sagen, dass mein Vater in dem Moment sich von meiner Mutter trennte, als er jemanden neues, junges gefunden hatte, der ihm seine Hemden bügelte. Nach mehr als zwanzig Jahren Ehe verließ er seine erste Frau und begann eine neue Beziehung. Meine Stiefmutter griff zu dem Mittel, dass vielen Frauen seit Jahrhunderten benutzen, um einen Mann vermeintlich langfristig an sich zu binden: Sie wurde schnell schwanger. Das nicht nur einmal, sondern gleich dreimal. Ihre eigenen Kinder mussten genauso nur gesellschaftliche Konventionen erfüllen. Empathie und Fürsorge vermisste ich als beteiligter Betrachter. Mein Bruder und ich, als ihre Stiefkinder, waren nur lästiges Beiwerk. Oder gar Konkurrenz. Zum Glück war ich da schon so alt, dass ich nicht mehr Zuhause lebte. Doch Besuche bei meinem Vater waren eine Qual. Die Anwesenheit dieser Frau bereitete mir physische Schmerzen.

Ich hatte das große Glück, als Jugendliche in den USA für einige Zeit bei einer Familie zu leben, die mich annahm wie ihre eigene Tochter. Wäre ich damals nicht schon zu alt gewesen, hätten meine Gastmutter und mein Gastvater mich sicherlich adoptiert. Richard fasst es immer so schön zusammen: „Ich habe drei Schwiegermütter. Und die, die am weitesten weg lebt, ist mir eigentlich die liebste.“ In der Zeit bei ihnen begegnete mir auf einmal wirkliches Interesse an mir und meinem Leben, Empathie und Fürsorge. Die Sicherheit und Geborgenheit eines „Zuhauses“. Meine Gastmutter kümmerte sich mit mir um die Schule, sie fuhr mich zu Freunden, sie nähte mir ein Kleid für den Abschlussball, sie ergriff Partei für mich, als ich Schwierigkeiten mit der Austauschorganisation hatte, sie hatte immer ein offenes Ohr für meine Sorgen und genauso Freuden in meinem amerikanischen Alltag. Ich erinnere mich, wie ich einmal viel zu spät nachts nach Hause kam. Sie saß auf der Treppe und wartete auf mich. Natürlich war sie sauer. Aber nicht weil ich mich nicht an die Regeln gehalten hatte, sondern weil sie sich Sorgen gemacht hatte. Ich bekam eine Woche Stubenarrest. Doch als ich zu einem Date eingeladen wurde, lockerte sie den Stubenarrest für diesen einen Tag. – Seit meiner Zeit dort hielten wir den Kontakt aufrecht und immer wieder bin ich in regelmäßigen Abständen zu meiner amerikanischen Familie für mehrere Wochen oder Monate zurückgekehrt. Heute verbringen wir meist einen Familienurlaub im Jahr zusammen. Dort habe ich ein Stück „Zuhause“ gefunden. Weniger aus der Heimatverbundenheit zu diesem Ort, sondern vielmehr, weil ich dort gelernt habe, was es heißt: “Du wirst geliebt für das, was Du bist und nicht für das, was Du tust.“

Ich hoffe, dass ich meinen eigenen Kindern genau das mitgeben kann. Ich als ihre Mutter liebe sie für die Persönlichkeiten, für die Menschen, die sie sind – so wunderbar, tapfer, mutig und einzigartig. Eines werde ich in meinem Leben nicht bereuen: Die Mutter von Maxim und Nadeschda sein zu dürfen. Ich bin dankbar, dass das Schicksal mir diese zwei Kinder gebracht hat, ja geschenkt hat! Selbst wenn das Leben mit ihnen viele Herausforderungen bereit hält, die ich nicht erwartet hätte, und es durchaus auch Momente gab, in denen ich gedacht habe, dass es leichter wäre, so bin ich dankbar für all das, was mich meine Kinder gelehrt haben, und was sie mich sicherlich noch lehren werden. Letztlich haben sie mir auch geholfen, mein eigenes Trauma des Nicht-gewollt-seins, zu überwinden. Sie haben mir den Weg zu einem eigenen Muttersein gewiesen und die verletzende Vergangenheit da zu lassen, wo sie hingehört, in die Vergangenheit.

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Kinderphilosophie: Nadeschda’s Idee von Wiedergeburt

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Danke an unsplash.com

Nadeschda beschäftigt sich in den letzten Monaten immer wieder einmal damit, was sie denn werden will, wenn sie groß ist. Hoch im Kurs ist im Moment der Wunsch, „Tierärztin“ zu werden. Denn am liebsten will sie dabei helfen, wenn Kälbchen, Fohlen oder auch „Babyschweine“ auf die Welt kommen. Der Berufswunsch passt irgendwie gut, denn Maxim will Bauer werden, nach wie vor. Dieser Wunsch hält schon lange an. So glaubt er, den ganzen Tag auf einem Traktor durch die Gegend rasen zu können.

Meist folgt nach Nadeschda’s gedankenversunkenen Überlegungen „Mama, ich glaube, ich will Tierärztin werden.“ ein nachdenkliches „Aber da seid Ihr, der Papa und Du, ja schon tot. Ihr wartet dann auf der Sternenwiese, dass Ihr als Babys wieder auf die Welt kommen dürft.“ Vor ein paar Tagen fuhr sie dann weiter fort: „Mama, und wenn ich irgendwann mal tot bin, dann seid Ihr ja schon wieder als Babys auf die Welt gekommen. Und dann werdet Ihr wieder groß. Und wenn ich dann als Baby wieder von der Sternenwiese auf die Welt komme, holt Ihr mich dann wieder im Kinderheim ab?“

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Filmrezension: „Die Reise meines Lebens – Ruby sucht nach ihrer Mutter“

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Christopher Burns, unsplash.com

Am Dienstag zeigte das ZDF in seiner 37 Grad-Reihe „Reise meines Lebens – Ruby sucht ihre Mutter“ . Die 17jährige Ruby wurde im Alter von drei Jahren von ihren Eltern in Nepal adoptiert. Seitdem lebt sie im Hunsrück und steht kurz vor dem Abitur. Seit sie neun Jahre alt ist, beschäftigt sie die Suche nach ihrer leiblichen Mutter. Unerwartet erhält sie eines Tages eine E-Mail ihrer nepalesischen Schwester. Ruby beschließt, ohne ihre Eltern, aber mit ihrem Freund für zwei Wochen nach Nepal zu reisen, um ihre leibliche Familie kennenzulernen. Vor der Abreise sagt Ruby in einem Interview auf die Frage, was ihr Wunsch an diese Reise ist: „Ich suche mich!“

Die Reise wird tatsächlich zu einer Reise zu sich selbst. Wohlwollend und glücklich nimmt ihre nepalesische Familie Ruby und ihren Freund auf, zwei Wochen erleben sie gemeinsam den nepalesischen Alltag. Trotz Sprachbarrieren kommen sich Mutter und Tochter jeden Tag ein Stück näher, ohne Groll und Wut über das Vergangene. Nach und nach erfährt Ruby die genauen Umstände ihrer Adoption, genauso wie auch ihr tatsächliches Geburtsdatum. Man spürt als Zuschauer förmlich, wie sich im Verlauf der Reise eine Lücke in Ruby schließt. Am Ende ist es für Ruby keine Entscheidung des Entweder-Oder, sondern des Sowohl als auch. Nepal gehört zu ihr, genauso wie Deutschland, ihre Adoptiveltern sind ihre Eltern, genauso wie ihre nepalesische Mutter ihre Mutter ist und ihre nepalesischen Geschwister Teil ihrer Familie sind. Am Ende des Films sagt Ruby: „Ich habe das letzte Puzzlestück in meiner Biografie gefunden. (…) Es war das Wichtigste, was jemals in meinem Leben passiert ist, und ich möchte im nächsten Jahr zusammen mit meinen Eltern nach Nepal.“

Auch hier ist wieder eine feinfühlige Reportage über ein sensibles Adoptionsthema gelungen. Man spürt, dass die Filmemacherin Tina Radke-Gerlach selbst Adoptionserfahren ist und mit ihrer eigenen Adoptivtochter durch genau diese Wurzelsuche gegangen ist. Vor allem gelingt es ihr, den Mut und das Selbstbewusstsein, das Ruby entwickelt hat und mit dem sie an ihre Wurzelsuche geht, deutlich herauszuarbeiten. Da ist ein gefestigtes Mädchen, dass sich, wie sie ja selbst sagt, auf die Suche nach einem Stück nach sich selbst begibt. Sehr bewusst entscheidet sie auch, diese Reise ohne ihre Adoptiveltern anzutreten, die ihr diesen Wunsch auch gewähren. Am Ende ist es eine glückliche und erfüllende Wurzelsuche, in der Ruby’s Sehnsucht gestillt wird und ihr Wunsch in Erfüllung geht. Sie findet den fehlenden Teil ihres Selbst und kann die Lücken in ihrer Biografie schließen. Ja, reich beschenkt kehrt sie nach Deutschland zurück.

Doch nicht immer oder wahrscheinlich eher selten fallen die Wurzelsuchen von Adoptierten so glücklich und erfüllend aus. Es gibt genügend Beispiele in der Fachliteratur, wo die Suche nach der leiblichen Mutter weniger erfüllend ausfällt. Und auch ich weiß, dass im Falle meiner Kinder die Suche nach ihren Wurzeln ein abenteuerliches Unterfangen werden kann. Das hängt zum einen mit den Umständen der Adoption zusammen, zum anderen mit dem Land aus dem sie stammen. Wir werden uns dieser Wurzelsuche irgendwann stellen müssen und wollen dies auch. Wie Ruby beginnt Maxim immer häufiger von Russland zu sprechen. Noch ist für ihn seine russische Mutter im Himmel und er hat kein Bedürfnis nach ihr zu suchen. Doch er möchte in seine Geburtsstadt reisen und das Kinderheim besuchen, in dem er gelebt hat. Diesen Wunsch äußert er bereits jetzt.

Auch wenn ich mir bewusst bin, dass die Suche nach ihrer Herkunft für meine Kinder nicht zu so einem glücklichen Ende führt, so macht die Reportage „Die Reise meines Lebens“ mir Mut. Eine Konfrontation mit ihren Wurzeln wird meine Kinder auf jeden Fall bestärken und selbstbewusster machen, als sie es eh schon sind. Egal wie die Suche ausgehen wird, sie werden – wie Ruby – in sich „vollständiger“ von dieser Reise zurückkehren. Auch für Maxim und Nadeschda wird es eine Reise zu sich selbst sein. Dessen bin ich mir sicher.

Die Reportage „Die Reise meines Lebens – Ruby sucht nach ihrer Mutter“ wird am 27.02.2017, 00:35 Uhr auf 3sat wiederholt und ist in der ZDF Mediathek zu sehen.