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Wurzelsuche – ein bewegendes Interview mit Irmela Wiemann

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Photo by Annie Spratt on unsplash.com

Just kurz nach der Veröffentlichung meines Posts in der vergangenen Woche zur Suche nach den „Herzwurzeln“, stieß ich auf ein sehr bewegendes Interview mit Irmela Wieman in der Aargauer Zeitung. In „Das Leid wird unterschätzt: Was illegal adoptierte Kinder durchmachen“ schildert die langjährige Adoptionsexpertin Wiemann, warum die Suche nach den Wurzeln und den leiblichen Eltern für Adoptierte so wichtig ist und welche schmerzhafte und eben traumatisierende Folgen die Trennung vor allem von der leiblichen Mutter hat. Es geht dabei nicht nur um illegal adoptierte Kinder, sondern sehr grundsätzlich um alle adoptierten Kinder. Mehr als ein lesenswerter Artikel….

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Auf der Suche nach den „Herzwurzeln“ – Biografiearbeit ist so individuell wie jedes Adoptivkind

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Photo by Annie Spratt on unsplash.com

Zweimal im Jahr organisiere ich Treffen für Adoptivfamilien. Ich finde das wichtig, diesen Familien eine Möglichkeit zu geben, sich in einem ungezwungenen Rahmen auszutauschen. Meist haben wir an diesen Treffen auch immer wieder einen kleinen Seminarteil zu Adoptionsrelevanten Themen für die Eltern. Sei es über die Zusammenarbeit mit der Schule oder die „Anstrengungsverweigerung“ und der Umgang mit dieser oder über den Umgang mit Wut und Frustration. Eine Adoptivmutter, die regelmäßig zu diesen Treffen kommt, stresst nun seit Jahren das Thema „Biografiearbeit“.  Das wäre so wichtig, und wir Eltern müssten unbedingt daran arbeiten, und die Kinder auch. So ein ganzes Wochenende mit ganz intensiver Biografiearbeit in der großen Runde, natürlich Eltern und Kinder aus unterschiedlichen Perspektiven. Ich habe das immer wohlwollend zur Kenntnis genommen, aber irgendwie traute ich mich nicht dadran. Irgendwie gab es für mich immer wieder einen Störfaktor. Und nun weiß ich auch warum….

Ohne Zweifel Biografiearbeit ist ungeheuerlich wichtig! Adoptivkinder wollen und sollen irgendwann ihren Wurzeln nachspüren, ihre Geschichte und ihre Herkunft kennen, verstehen und einen eigenen Umgang damit finden. Zu schmerzhaft sind die Wunden, die die Trennung von der leiblichen Mutter gerissen haben und zu omnipräsent die Folgen daraus. Ungeachtet der weiteren Lebensgeschichte, wie vielleicht ein Leben in einem Kinderheim oder die kulturelle Entwurzelung durch die Adoption. In der Euphorie der Adoption geht schnell verloren, was ein Kind auch mit seinem neuen Leben in einem anderen Land alles verliert. Ein Bild hat sich in mein Gedächtnis unlösbar eingebrannt: bei einem der Kinderheimbesuche in unserem Adoptionsprozess sahen wir Maxim, wie er mit seiner Gruppe zu einem Spaziergang aufbrach. Deutlich war zu sehen, wie wohl er sich da fühlte. Glücklich winkte er uns damals von der anderen Straßenseite zu. In diesem Augenblick wurde mir zum ersten Mal bewusst, was wir ihm auch alles mit der Adoption nahmen.

Dass Adoptiveltern sich auch intensiv damit auseinandersetzen müssen, wie Biografiearbeit heilsam eingebracht wird, ist genauso unbenommen. Entscheidend ist, das erforderliche Maß an Sensibilität zu haben, offen mit dem Thema umzugehen, sich selbst mit der Rolle der Adoptivmutter auseinandergesetzt und einen friedvollen und demütigen Umgang mit der leiblichen Mutter gefunden zu haben. Neben ein paar praktischen Werkzeugen, wie man gemeinsam mit seinem Adoptivkind, sich über seine Herkunft und seine Wurzeln und den damit verbundenen Gefühlen auseinandersetzen kann. Vor allem Irmela Wiemann hat hier im Deutschsprachigen Raum Großartiges geleistet. Ihre Ratgeber sind mehr als hilfreich und in meinen Augen Pflichtlektüre für alle Adoptiveltern. Lange habe ich ein passendes Kinderbuch zur Herkunfts- und Wurzelsuche vermisst. Auch das hat Irmela Wiemann gemeinsam mit Schirin Homeier mit „Herzwurzeln“ veröffentlicht.

Jannik ist Pflegekind und lebt erst seid ein paar Wochen bei seiner Pflegefamilie. In seiner Klasse lernt er Ayana kennen, die als Baby von ihren Eltern aus Äthiopien adoptiert wurde. Jannik versucht, in seiner Pflegefamilie anzukommen, aber immer wieder wird er von seiner „Blitzwut“, mit Trauer und Schmerz um die Tatsache, dass er nicht mehr mit seiner Mutter und seinen Geschwistern zusammenleben darf, eingeholt. Ayana ist auf der Suche nach ihren äthiopischen Wurzeln. Auch sie kämpft immer wieder mit Wut und Verzweiflung. Als die Bemühungen ihrer Eltern wieder einmal nicht fruchten, ergreift sie selbst die Initiative und schickt ihren Papagei mit einem Brief an ihre leibliche Mutter nach Äthiopien. In ihrem gemeinsamen Leid freunden sich Ayana und Jannik an und finden beide nach einem langen Weg ihre „Herzwurzeln“ in sich und in ihren Familien. Der Geschichte haben Schiri Homeier und Irmela Wiemann erstmals einen Ratgeberteil für Kinder angefügt, in dem nicht nur die Fachbegriffe aus dem Adoptions- und Pflegewesen kindgerecht erklärt werden, sondern genauso die Konzepte und unterschiedlichen Formen von Elternschaft und Familie. Mit wunderbaren Illustrationen gibt sie den Kindern Hilfestellungen für den Umgang mit diffusen Gefühlen wie etwa der „Blitzwut“ oder der Angst vor weiteren Verletzungen, die eingesperrt ist im „Herz mit den zwei Kammern“. Ergänzt wird das Buch um einen weiteren Ratgeberteil für Erwachsene, in dem Herkunftseltern, Adoptiveltern, aber auch Fachpersonal angesprochen werden.

In den Sommerferien habe ich es nun zum zweiten Mal gelesen. In der Hoffnung, dass vor allem auch Maxim vielleicht darauf anspringt. Tat er aber nicht. Obwohl wir, als er kleiner war, schon immer mal das ein oder andere Kinderbuch, in dem das Thema Adoption kindgerecht dargestellt wird, gelesen haben. Obwohl das Thema „Herkunft“ gerade wieder in den vergangenen Wochen wieder sehr präsent ist.

Maxim ist im „Russlandfieber“. Er will russisch lernen, er liest Geschichten über Moskau, er erkämpft sich selbst im Moment das russische Alphabet Buchstabe für Buchstabe. Und am liebsten will er schon morgen nach Moskau fliegen. Kaum kann er es erwarten, dass endlich sein russischer Pass neu ausgestellt ist. Nadeschda hingegen zeigt entweder gar kein Interesse oder vehemente Ablehnung: „Mama, ich will keinen russischen Pass. Der ist nur für die Babys, die daher kommen. Ich brauche das nicht. Und ich will das nicht. Und wenn ich Nein sage, dann heißt das auch Nein. Verstanden?“ Was beiden gemein ist, dass sie keinerlei Regung zeigen, nach ihrer russischen Mutter zu suchen. Maxim will seine russischen Wurzeln kennenlernen, versinnbildlicht mit dem Roten Platz in Moskau. Da will er hin. Aus den Büchern hier zuhause hat er inzwischen nahezu jedes Denkmal und Gebäude, das sich um den Roten Platz formiert, verinnerlicht. Doch weder seine Geburtsstadt, noch das Kinderheim, oder seine biologischen Wurzeln scheinen ihn zu interessieren. Doch bei näherer Betrachtung spürt er, dass er an diese Wunden nicht ran will. Das schafft er noch nicht. Mit seiner doppelten Elternschaft will er sich noch nicht auseinandersetzen. Auch Nadeschda hat das für sich wieder ganz weit unten in ihrem Inneren vergraben, nachdem es im vergangenen Herbst einmal für kurze Zeit aufflammte, aber von außen an sie herangetragen. Und ihre Reaktion damals war deutlich, dass sie sich damit nicht auseinandersetzen wollte.

Da wurde mir noch einmal bewusst, dass Biografiearbeit und das Auseinandersetzen mit der Herkunft ein sehr individueller Prozess ist. Es geht eben nicht nur darum, einen Ratgeber zu lesen, ein Seminar zu besuchen, um dann anschließend ein „Lebensbuch“ mit seinem Adoptivkind zu basteln, ein Bild der leiblichen Mutter zu malen und ihr einen Brief zu schreiben und dann irgendwann, wenn das Kind es wünscht, in sein Herkunftsland zu reisen und möglicherweise die leibliche Mutter zu suchen. Das ist alles wichtig! Und Adoptiveltern brauchen die professionelle Unterstützung und die Impulse, die eben vor allem Irmela Wiemann setzt. Doch danach ist es in meinen Augen ein sehr individueller Prozess, wie die Biografiearbeit zuhause in der Familie gestaltet wird. Sie muss meiner Meinung nach so individuell sein, wie die Lebensgeschichte eines jeden Adoptivkindes und auch so individuell und einzigartig, wie der Umgang des Kindes mit seiner Geschichte ist. Das sehe ich bei meinen eigenen Kindern. Sie haben dieselbe russische Mutter, sie teilen einen Großteil der Geschichte, auch bevor sie zu uns kamen. Aber beide haben einen ganz eigenen Umgang damit. Einen Umgang, der mich eben nicht die Ratschläge wie „Projekte“, wie die Fachliteratur sie vorschlägt, Checklistenartig bei meinen Kindern abarbeiten lässt.

Wie individuell jedes Adoptivkind mit seiner Geschichte umgeht, sehe ich auch in unserem Freundes- und Bekanntenkreis. Manche Adoptivkinder möchten unbedingt zurück in das Kinderheim fahren, aus dem sie kommen. Andere lehnen ihren russischen Namen ab mit der Begründung, sie haben an ihn keine schönen Erinnerungen. Entscheidend ist am Ende, dass wir als Eltern unseren Kindern die Offenheit deutlich zeigen, dass sie mit uns Adoptiveltern über ihre Herkunft und ihre Geschichte sprechen können, dass sie aber das Tempo und den Weg und auch den Inhalt bestimmen. Denn vor allem ist es ihre ganz persönliche Geschichte mit ihren ganz persönlichen traurigen Gefühlen. Einfühlsam und in meinen Augen auch nur ganz privat im Kreise der Familie sollte es den Raum geben, wo unsere Adoptivkinder sich mit ihrer Geschichte auseinandersetzen dürfen, wann und wie sie wollen. Und so, wie es für sie heilsam und gut ist.

 

Informationen zu „Herzwurzeln“:

„Herzwurzeln“

Schirin Homeier und Irmela Wiemann

Mabuse-Verlag GmbH, Frankfurt a.M. 2016

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Charlotte’s Sonntagslieblinge (50)

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Danke an Pixabay

Nadeschda’s erste „echte“ Schulwoche liegt hinter uns. Gut ist sie verlaufen. Auch wenn Angst und Wut Nadeschda immer einmal wieder heimsuchen. Sicherlich haben wir etwas weniger Veränderungen im Alltag, als andere 1. Klässler, da sie schon im vergangenen Schuljahr im Schulgebäude die Vorklasse besucht hat. Wir sind an das frühe Aufstehen gewöhnt. Nadeschda geht jeden Morgen in eine ihr vertraute Umgebung. Sie kennt sich im Schulgebäude aus. Sie kennt die Mensa und das Schulessen. Dennoch, nun steht ein richtiges „Arbeiten“ über fünf Schulstunden jeden Tag an der Tagesordnung. Das ist anders, es ist anstrengend. Und die Angst vor der Veränderung ist nach wie vor unser Begleiter. Alles in allem war es dennoch eine gute Woche und so sind dies meine Sonntagslieblinge:

  1. Wir sind gut in eine Routine gekommen. Nach beinahe sieben Wochen Pause vom Schul- und Arbeitsalltag hätte ich das nicht erwartet. Doch sicherlich hat sich ausgezahlt, dass wir unseren alltäglichen Rhythmus nicht komplett in den Ferien aufgegeben hatten und auch schon in den letzten zwei Wochen Schritt für Schritt wieder in unseren Alltag zurückgekehrt sind.
  2. Auch mir tut die vollständige Rückkehr in den Arbeits- und Ausbildungsalltag gut. Auch wenn ich manchmal nach wie vor mit meiner Ausbildung hadere, so habe ich zumindest heute das Gefühl, ich habe alles wieder ganz gut im Griff und übernehme mich nicht.
  3. Ich habe in dieser Woche begonnen, mich wieder einmal mit der Biografiearbeit für meine Kinder zu beschäftigen. Mein Gefühl sagt mir, dass das Thema der Herkunft und ein sprechsicherer Umgang damit für Maxim immer dringlicher wird. Dazu hat Irmela Wiemann gemeinsam mit Schirin Homeier ein ganz wunderbares Buch geschrieben. „Herzwurzeln“ hat mir viele Impulse gegeben, wie ich gemeinsam mit Maxim mich dem Thema seiner Herkunft noch einmal widmen kann. Dazu dann an anderer Stelle sicherlich noch einmal mehr.

Nach einem wunderbaren Samstag mit Freunden genießen wir nun einen ruhigen Sonntag. Ihr hoffentlich auch! Habt einen wunderbaren Tag und einen gelungenen Start in die neue Woche!