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Yes, I am back… Charlotte’s Sonntagslieblinge (160) – Corona mit Adoptivkindern

happy family with kids walk at sunset beach

Mit freundlicher Unterstützung von Fotolia

Monatelang gehadert, gezweifelt, viel wollte, hätte, könnte, sollte… Nicht geschrieben, nicht erzählt, nicht gelesen auf anderen Blogs… Immer wieder festgestellt, dass ich es nicht mehr schaffe, mich um meinen Blog zu kümmern, weil nun andere Dinge in meinem Leben wichtiger sind (und viel Kraft und Energie kosten). Dennoch neue Follower, Nachfragen von Lesern „Wir vermissen Deinen Blog…“, Anfragen zu Artikeln und Buchbeiträgen. Dennoch so viele Ideen zu Beiträgen und die Einsicht, dass es wichtig ist, hier weiter zu machen. Erst vor ein paar Tagen in einem Austausch mit anderen Adoptiveltern, die den ganzen Abend an meinen Lippen hingen, merkte ich wieder, dass ich doch auch hier etwas mitgeben und teilen kann. Somit also ein neuer Versuch, ein erneuter Anlauf. Vielleicht auch für mich selbst, um ein Gegengewicht zu all den anderen Herausforderungen in meinem Leben zu haben. Mal sehen. Und so beginnen wir doch mit dem, was mir so oft am liebsten war und ist: Meine Sonntagslieblinge, meine wöchentliche Rückschau auf fünf Begebenheiten, für die ich dankbar bin. (Ich habe mich erst in dieser Woche an diese Übung erinnert. Unsere Konferenzen an der Schule verliefen in den vergangenen Wochen immer mit einer gewissen – im Moment wohl sehr nachvollziehbaren Anspannung. Die Stimmung war schlecht. Ich habe lange hin und her überlegt, wie wir als Lehrerkollegium in eine positive Haltung kommen, um mit einer guten Einstellung an notwendigen pädagogischen Themen zu arbeiten. Da kam sie mir die Dankbarkeit. Wie hier bei den Sonntagslieblingen, sollte jeder Kollege eine Begebenheit erzählen, für die er / sie in den vergangenen Tagen dankbar war. Es hat funktioniert…)

Doch bevor ich nun zu meinen Sonntagslieblinge übergehe, lasst Euch sagen: Es geht uns gut! Wir haben die bisherige Zeit der Isolation in der Coronakrise gut bewältigt. Wir sind gesund, wir haben keine Sorgen im Familien- oder Freundeskreis, wir bewältigen nun auch den Alltag mit der schrittweisen Lockerung. Doch alles ist sehr viel und manches Mal bin ich an meine Grenzen gestoßen. Dann war da dieser Artikel in einer großen deutschen Tageszeitung mit dem Tenor „Mutti schafft das schon…“ und dass man aufpassen muss, dass die Mütter nicht die Verlierer der Krise sind. Im ersten Moment dachte ich: Ja stimmt. Aber im zweiten Moment habe ich gedacht: „Nee, bestimmt nicht. Wenn einer die Verlierer sind, dann sind es die Männer in diesem Land, die sich nämlich am Ende der Krise eingestehen müssen, egal wie, ohne Mutti hätten sie das nie geschafft.“ Wenn wir Mütter nicht unser Schicksal durch die Krise einfach angenommen hätten und ohne Klagen Job, Homeschooling, Betreuung und Versorgung unserer Kinder über die Schule hinaus, einen deutlich aufwendigeren Haushalt und einen noch mehr erhöhten Organisationsaufwand in allen Belangen auf uns genommen hätten, dann wäre dieses Land einfach im Chaos versunken. Und die Proteste, die nun aufpoppen, hätten einen deutlich anderen Charakter gehabt. Ja, es gibt Väter, die sich nun in Zeiten der Coronakrise deutlich mehr Zuhause engagiert haben. So ist das bei uns auch. Aber grundsätzlich halte ich es mit der Aussage, die ich neulich gelesen habe: „45% der Männer sagen, sie würden sich im Homeschooling engagieren, 3% der Frauen bestätigen das.“ Die Hauptlast der Coronakrise liegt auf uns Müttern und die, die die Maßnahmen entscheiden, haben keine Ahnung von der Rolle, die wir Mütter per se erfüllen, und jetzt schon einmal gar nicht. Aber wir lassen uns nicht unterkriegen, und all das Gerede über die Rückschritte in der Emanzipation ist gelinde gesagt Mumpitz. Im Gegenteil, am Ende müssen sich die Männer und Väter leider eingestehen, dass sie diese Corona-Krise ohne uns Mütter nie hätten bewältigen können. Also, weiter geht es, getreu dem Motto: „Hinfallen, aufstehen, Krönchen richten…“ Somit hier meine drei Sonntagslieblinge für diese Woche:

  1. Allen voran bin ich dankbar für die erneute Erfahrung in den Wochen der Isolation, dass wir uns als Familie wirklich gut genug sind. Am Anfang war ich vielleicht noch mit Sorge erfüllt, ob wir die Zeit gut bewältigen können, so ganz auf uns alleine gestellt. Doch dann fiel mir irgendwann wieder ein, dass wir als Familie ja schon einmal so eine Zeit der Isolation hatten. Als wir damals vor nun gut 10 Jahren Maxim und Nadeschda aus Russland abgeholt und mit ihnen unser Familienabenteuer begonnen hatten, begaben wir uns in den ersten Wochen ebenso in soziale Isolation. Keine Besuche, keine Kontakte nach außen, keine Einkäufe – wenn dann einer von uns Eltern abends, wenn die die Kinder auf dem Weg ins Bett waren -, keine Freizeitaktivitäten, kein externes „Entertainment“. Wir kannten das also. Von dem Zeitpunkt an, wo ich mir dies wieder ins Gedächtnis rief,  freute ich mich über diese neu gewonnene Familienzeit. Tatsächlich war es auch so, dass wir schnell merkten, dass unsere Kinder diese Nähe und Enge der kleinen Familie ganz aufsogen. Die feste Tagesstruktur tat ihnen gut. Sie genossen, dass Richard Zuhause war. Das Bedürfnis nach Kontakten nach draußen gab es gar nicht. Wir vier waren uns genug. Und das war und ist nach wie vor wunderbar so!
  2. Die Coronazeit war und ist eine große Chance für meine Kinder. Dafür bin ich jeden Tag von neuem dankbar. Maxim und Nadeschda haben die Zeit Zuhause sehr genossen und wollten auch gar nicht mehr in die Schule zurück. „Mama, Du bringst uns das ja eh alles bei.“ Beide haben riesige Fortschritte gemacht. Ja, es hat sich ausgezahlt, dass wir schon vorher eine Struktur hatten, in der wir geübt und gelernt haben. Da war der Schritt in die „Zwergenschule“  nicht so groß. Ich habe meinen „Traum“ vom Homeschooling leben können, der mich in Vielem bestätigt hat. Auch wenn es anstrengend war, gerade in der Mehrfachbelastung. Doch mit ein wenig Wehmut sehe ich nun auch die langsame Rückkehr in eine neue Normalität, wie sie so schön genannt wird. Ob diese uns und vor allem meinen Kindern gut tun wird, wird sich weisen. Doch im Moment bin ich dankbar für diese Zeit, die wir in dieser Form gehabt haben.
  3. Langsam lichtet sich der Berg an Arbeit. Monatelang lebte ich nur im Homeschooling, eben nicht nur für meine Kinder sondern auch für meine über 30 Schüler*innen. Und es ging nicht darum, Arbeitspakete zu schnüren, das war noch der geringste Teil. Vielmehr bedurfte es in großen Teilen einer intensiven Betreuung und Begleitung über die Kommunikationskanäle, die uns noch blieben. Auch das war zeitintensiv und kostete viel Kraft. Social Distancing ergab sich in meinem Leben von ganz alleine, denn ich hatte noch nicht einmal Zeit mit meinen Freundinnen zu telefonieren oder mich mit ihnen auf anderen Wegen zu verbinden. Viele Kontakte lagen brach. Doch hier weiß ich, dass es vielen von ihnen auch nicht anders ging, sie nach wie vor da sind und mir mit genauso viel Verständnis begegnen wie ich ihnen.  Es tut gut zu wissen, dass es trotz aller Zwänge und Verpflichtungen noch „Räume“ gibt, wo man die Dinge einfach so laufen lassen kann, wie sie eben gerade sind.

Lasst es Euch nun gut ergehen, in dieser neuen Woche, die morgen beginnt. Habt einen guten und friedlichen Sonntag und startet wohlbehalten in die neue Woche. Bleibt gesund und zuversichtlich!

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Wenn manch andere Gespenster sich auch (fast) in Wohlgefallen auflösen…

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Maxim’s neurologische Ausschlussdiagnostik ist weitestgehend abgeschlossen. Nach einem unauffälligen MRT war auch sein EEG Ende der vergangenen Woche ebenso ohne klaren Befund. Der Neurologe im Sozialpädiatrischen Zentrum unserer Stadt mag dies vielleicht noch ein wenig anders sehen – muss er doch auch den wirtschaftlichen Fortbestand des Zentrums mit sichern und wohlmöglich die ein oder andere Therapie für Maxim vorschlagen. Doch physisch ist mein Sohn gesund. Bis auf den verschobenen Halswirbel, den mittlerweile Maxim’s Physiotherapeutin erfolgreich wieder ins rechte Lot bringt. Aber auch er ist nicht die Ursache für die Kopfschmerzen, unter denen mein Sohn leidet. Vielleicht ein wenig, aber nicht ausschließlich.

Nachdem der Kinderarzt uns eine neurologische Ausschlussdiagnostik nahegelegt hatte, und ich mich spätestens bei der Terminvereinbarung mit dem Sozialpädiatrischen Zentrum an alte Zeiten erinnert fühlte, wusste ich eigentlich schon, dass uns das alles nicht weiter bringt. Nicht wirklich. Vielmehr galt es, wieder die alten Register zu ziehen, die uns schon einmal geholfen hatten. Auch wenn ich es nicht wahrhaben wollte, es war wieder Zeit für eine Runde Kunsttherapie. Ich schrieb unserer Kunsttherapeutin, schilderte ihr unsere Situation und bekam sehr schnell einen Termin. Schon nach zwei Sitzungen war Maxim fast wie ausgewechselt.

Ein zwischenzeitliches Diagnostikgespräch bestätigte meine schon lange im Tiefen schlummernden Vermutungen und Befürchtungen. Es war nicht das alte Gespenst der Epilepsie, dass uns nach all den Jahren wieder heimsuchte. Nein, es war der Alarm im Kopf meines Sohnes, der in mehrfach belastenden Situationen in der Schule schon vor den Sommerferien immer wieder losschrillte, und genauso nach den Ferien wieder aktiviert wurde. Und wohlmöglich permanent schrillt!

Die Stimmung und das Lernklima in der Klasse müssen in den vergangenen Wochen aussergewöhnlich laut gewesen sein. Kein Wunder, dass mein Sohn vom Rechenlernstoff nichts, aber auch gar nichts mitbekam. Er konnte die Erläuterungen der Lehrerin nicht verstehen, geschweige denn ihr folgen. Es war einfach viel zu laut in der Klasse. In der Folge saß er vor seinen Rechenblättern und wusste nicht, wo er anfangen sollte. Die Frustration setzte ein und spätestens zu diesem Zeitpunkt ging der Alarm los. Wenn nicht schon längst vorher, weil allein der Lärm in der Klasse ihn überforderte und Maxim das tat, was alle traumatisierten Kinder tun, wenn sie überfordert sind, dissoziieren. Einfach aus der Situation aussteigen, weil sie anders nicht zu ertragen wäre. Von da ab rauschte das Unterrichtsgeschehen nur noch dumpf an ihm vorbei. – Wenn ich mir vorstelle, ich würde im übertragenen Sinne permanent das Geräusch eines Feueralarms in meinem Kopf hören, bekäme ich auch Kopfschmerzen.

Verstärkt wird dieses Gefühl bei meinem Sohn noch, da es unter den Jungen in der Klasse wieder Verschiebungen in den Freundschaften gibt. Unser altes Sorgenkind Leander steht ebenso einmal wieder auf dem Tapet. Maxim würde sich gerne aus dieser ganzen Gruppe, die sich zwar über den vergangenen Winter arrangiert hatte, lösen, doch die anderen lassen ihn nicht gehen. Und mein Sohn ist (noch) nicht stark genug, und hat zu viel Angst vor der eigenen Einsamkeit, um sich selbst aus dieser ungesunden Konstellation zu lösen.

Mit Beginn der Schule nach den Ferien werden wir uns damit auseinandersetzen, wie wir mit dieser Situation umgehen. Dass Maxim’s Kopfschmerzen keine physische Ursache haben, erleichtert auf der einen Seite. Die emotionalen und psychischen Ursachen der Kopfschmerzen aber zu bearbeiten, wird aber ungleich schwerer und langwieriger werden. Die Kunsttherapie werden wir weiter verfolgen. Und sicherlich steht einmal wieder ein Gespräch mit Maxim’s Klassenlehrerin an. Genauso wie wir Maxim weiter Zuhause stärken müssen, neue Freundschaften und Beziehungen einzugehen, und nur die alten Bildungen aufrechterhalten, die ihm gut tun. Und wieder einmal kreisen meine Gedanken zurück zu meiner Idee des Homeschoolings

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scoyo ELTERN! Blog Award 2018: „Homeschooling für traumatisierte Kinder?“

scoyo-blogward-2018-siegel-bewerberinIn diesem Jahr versuche ich es einmal, und bewerbe mich mit „Homeschooling für traumatisierte Kinder?“ für den scoyo ELTERN! Blog Award 2018. Das Thema des Awards „Nachhilfe und Förderung“ war einfach zu verführerisch, nicht daran teilzunehmen, streiften mich doch in der vergangenen Woche zum ersten Mal Gedanken über eine Abschaffung der Schulpflicht….zumindest für meine Kinder…

Homeschooling für traumatisierte Kinder?

Die 36 Schüler der sechsten Klasse einer Waldorfschule erheben sich zum Morgenspruch. Während alle Schüler ordentlich und mit angespannter Körperhaltung vor ihrem Tisch stehen, erhebt sich der 13-jährige Maxim nur mühsam von seinem Stuhl. Gerade ist er erst noch in den Klassenraum gehuscht, wieder einmal zu spät, wie so oft in den letzten Monaten. Sein T-Shirt zeigt Flecken des Mittagessens vom Vortag, seine Schnürsenkel an den Schuhen sind nicht gebunden. Ungelenk stellt Maxim sich hin. Doch seine Schultern hängen herunter, sein langes Haar hängt ihm im Gesicht und sein Mund ist halb geöffnet. Er wirkt müde und unmotiviert. „Ich schaue in die Welt, in der die Sonne leuchtet…“ Wenn die Blicke des Klassenlehrers ihn streifen, senkt er entweder den Kopf oder dreht sich zu seinem Tischnachbarn. Später wird der Klassenlehrer feststellen, dass Maxim wiederholt keine Hausaufgaben gemacht hat. Sein Heft ist leer. Ihm ist bereits aufgefallen, dass Maxim seit langem abwesend im Unterricht ist, ausweicht, oft fehlt. Viel beteiligt hat er sich am Unterricht in den vergangenen sechs Jahren noch nie. Doch Maxim’s Verweigerung hat jetzt eine neue Dimension. Spricht der Lehrer ihn auf seine nicht erbrachte Leistung an, reagiert Maxim aggressiv und gereizt. Er weicht nicht mehr aus, sondern er droht dem Lehrer mit der Faust. Einmal schon hat er seinen Schultisch umgeworfen. Danach musste er von seinen Eltern abgeholt werden.

Das war das „Horrorszenario“, dass sich in meinem Kopf über die zukünftige Schulkarriere meines Sohnes ausmalte, als Maxim vor ein paar Jahren in die Schule kam und ich merkte, dass trotz liebevoller Woldorfpädagogik und fehlendem Leistungsdruck ich eben nicht der Schule allein die Bildung und die Vermittlung von Kulturfähigkeiten überlassen konnte. Mein Sohn zog sich entweder geschickt aus der Affäre im Unterricht – und als kleiner sechs oder siebenjähriger ist das ja noch süß – oder er war vielleicht physisch in der Schule anwesend, aber der Unterrichtsstoff zog nur rauschend an ihm vorbei.

Wie diejenigen, die meinem Blog regelmäßig folgen, wissen, haben wir unsere Kinder vor etlichen Jahren aus Russland adoptiert. Sowohl Maxim als auch seine kleine Schwester Nadeschda sind aufgrund ihrer Lebensgeschichte, bevor sie zu uns kamen,  frühtraumatisiert. In der Folge zeigte Maxim deutliche Charakteristika eines Anstrengungsverweigerers und – hätten wir dies nicht rechtzeitig erkannt – würde er wohlmöglich das „Vollbild“ eines Anstrengungsverweigerer wie eingangs beschrieben mit Beginn der Pubertät erfüllen.

Das Phänomen der „Anstrengungsverweigerung“

Bei einer Anstrengungsverweigerung geht es um die stetige Verweigerung einer Anstrengung oder Leistung. Tätigkeiten, die das normale bürgerliche Leben erforderlich

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machen, werden vom anstrengungsverweigernden Kind oder Jugendlichen nicht ausgeführt. Typisch ist, dass das betroffene Kind bereit ist, „einen weit höheren Energieaufwand aufzubringen, um eine bestimmte Tätigkeit zu verweigern, als die eigentliche Aufgabe ihm abverlangt hätte.“, so Bettina Bonus, die dieses Phänomen erstmals im Kontext mit Pflege- und Adoptivkindern ausführlich beschrieben hat.

Am deutlichsten tritt die Anstrengungsverweigerung im Kontext der Schule zu Tage. Das beginnt beim morgendlichen Aufstehen und dem Weg zur Schule. Anstrengungsverweigernde Kinder können dadurch auffallen, dass sie stunden-, tage- oder sogar wochenweise den Schulunterricht schwänzen. Andere sind zwar physisch im Unterricht anwesend, bekommen aber vom Unterricht und seinen Inhalten nichts mit. Sie nehmen nicht am Unterrichtsgeschehen teil, entziehen sich unterschiedlichen Aufgaben und umgehen meist Aufgabenstellungen oder Aufträge des Lehrers. Dies zeigt sich nicht zuletzt in schlechten Beurteilungen, doch vor allem schon in leeren oder schlecht geführten Heften, einem unordentlichen Schulranzen und beschädigten oder unvollständigen Schulmaterialien.

Das Phänomen der Anstrengungsverweigerung oder auch Leistungsverweigerung in der Schule tritt allerdings nicht nur bei Adoptiv- und Pflegekindern auf. Folgt man den Medien, so finden sich immer mehr in deutschen Schulen verhaltensoriginelle Kinder aus schwierigen sozialen Gefügen und traurigen familiären Umständen, die immer öfter Zeichen von Leistungsverweigerung zeigen. Schaut man genauer hin, trifft man in vielen Fällen auf traumatische Erfahrungen im Leben dieser Kinder.

Unser Schulalltag mit einem anstrengungsverweigernden Kind

„Ich trage meine Kinder durch das Abitur.“ hatte ich von Beginn an, als die schulische Ausbildung unserer Kinder in unser Leben trat, gesagt. Mehr denn je stehe ich zu dieser Äußerung und bin überzeugt davon, dies als die wichtigste Aufgabe in meinem Mutterdasein zu sehen. Und dies nicht, weil ich davon träume, dass meine Kinder den Nobelpreis einmal bekommen, sondern allein um sie überlebensfähig zu machen und sie in die Lage zu versetzen, einmal ein eigenständiges Leben zu führen. Um so leichter fällt mir das natürlich, wenn ich eine pädagogische Ausbildung habe, noch dazu eine, in der meine Kinder auch in der Schule erzogen werden. Es ist mehr als förderlich, wenn ich die Unterrichtsinhalte kenne, und hier genauso tief einsteigen kann, um meinen Kindern Zuhause zu helfen, mit ihnen passend mehr zu üben. Denn aufgrund ihrer traumatischen Lebensgeschichte und der daraus resultierenden Anstrengungsverweigerung brauchen meine beiden Kinder mehr Hilfe und Unterstützung als andere. Das Wissen und das Können fliegen ihnen nicht einfach zu. Manchmal steigen sie aufgrund einer schnellen Überforderung im Unterricht aus. Sie dissoziieren, bekommen vom Unterrichtsgeschehen nicht mehr mit. Sie sind in einer anderen Welt, aus der sie erst wieder mit Verlassen des Schulgebäudes auftauchen. Das ist ihre Überlebensstrategie, wenn ihnen alles zu viel wird. Die Lücken, die diese Dissoziationen reißen, muss ich Zuhause füllen. Genauso können sie nicht mit Leistungsdruck umgehen, dann fühlen sie sich bedroht. Können sie sich diesem Druck nicht entziehen, greifen sie an. Nur wenn sie sich einer Sache sicher sind, spüren sie diesen Druck nicht, nur dann gehen sie durch den Schulalltag als ruhige zufriedene Kinder. Auch deshalb müssen wir Zuhause viel arbeiten, damit sich meine Kinder ihrer Sache sicher sind.

In den vergangenen vier Jahren sind wir durch viele Höhen und Tiefen gegangen. Denn das tägliche Üben, das zwischen einer und drei Stunden oder mehr dauern kann, ist jedem Tag von neuem eine Herausforderung. Auch wenn die Anstrengungsverweigerung uns manchmal schon wie eine alte Freundin vorkommt. Manchmal läuft alles gut, dann kommen wir gut durch unseren Stoff. Es wird fleißig gerechnet, inzwischen schöne Aufsätze geschrieben oder ordentlich gelesen. An anderen Tagen passiert irgendetwas – Maxim meint, dass er etwas nicht kann – und die Wut sucht uns heim. Manchmal hat sie uns dann für Stunden im Griff. Erst wird Papier zerknüllt, Stifte fliegen durchs Zimmer oder sie kritzeln mit voller Wucht über das Papier  Mein Sohn brüllt herum, schreit, schlägt um sich, manchmal wirft er seinen Stuhl um. Am Ende verfällt er meist einfach nur noch in ein verzweifeltes Weinen, aus dem er sich erst nach über einer Stunde wieder beruhigt. Erst dann können wir weiter arbeiten. Vielleicht….

Sklavische Routine und tägliches „Arbeiten“ zahlt sich aus

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Mit der Zeit sind diese Szenarien zum Glück deutlich weniger geworden. Die Intervalle zwischen den wütenden und verzweifelten Zusammenbrüchen werden immer größer. Nur gelegentlich, vor allem in Phasen, in denen ein neuer Unterrichtsstoff eingeführt wird, kann es zu überraschenden Leistungseinbrüchen und damit einem Wiederaufladen der Anstrengungsverweigerung Zuhause kommen. In diesen Ferien haben wir – auch wenn ich komisch angeschaut werde, dass wir auch in den Ferien jeden Tag arbeiten – große Fortschritte gemacht. Kein zerrissenes Papier, keine Gegenstände flogen durch das Zimmer, alle Möbel bleiben stehen, und die Lautstärke blieb auch auf einem normal erträglichen Niveau. Das Geheimnis ist nicht nur die sklavische Kontinuität des täglichen Üben und Arbeitens, sondern all dies ist eingebettet in einen feste Struktur und Routine, die meine beiden Kinder so sehr brauchen. Denn nur das gibt ihnen Sicherheit. Und wenn sie sich sicher fühlen, dann haben sie innerlich Kapazitäten frei, um Lesen zu lernen, Schreiben zu üben, schön zu formulieren, sich zu erinnern, was wir am Vortag gemacht haben, und dies in einem schönen Text zu Papier zu bringen; dann können sie sich konzentrieren, um im Kopf das 1 x 1 vielleicht auch durcheinander zu rechnen. All das hat auch dazu geführt, dass mein Sohn inzwischen den eigenen inneren Wissensdurst spürt, und sich nun zum ersten Mal selbstständig Dinge erarbeitet. So sitzt er manchmal stundenlang über seinen Büchern zu Kristallen und Mineralien, liest, schreibt auf und katalogisiert seine eigenen Kristalle. Für meine Tochter könnte ich ähnliche wunderbare Entwicklungsfortschritte anbringen.

Homeschooling für traumatisierte Kinder?

Das tägliche Arbeiten für die Schule ist anstrengend. Für meine Kinder und für mich. Vor allem in der Schulzeit, wo eh das Pensum der Hausaufgaben nicht immer gering ist, wo oft Zeitdruck entsteht, da es ja noch andere Hobbys und Freizeitaktivitäten gibt, ich einen Job habe und meine Kinder vielleicht auch noch ab und zu ihre Freunde treffen möchten. Schule ist ohnehin grundsätzlich belastend. Nicht nur der Unterricht, sondern auch das Ganze drum und dran in diesem riesigen sozialen Gefüge einer Klasse. Gerade für meine Kinder sind die Stunden in der Schule extrem anstrengend, aufreibend und Kräfte zehrend. Streit, Ungerechtigkeiten, ein lauter Ton der Lehrerin, Abweichungen von der täglichen Schulroutine, weil ein Lehrer krank ist, nehmen meine Kinder ganz anders auf. Das nimmt sie mehr mit, damit können sie schlecht umgehen, damit sind sie überfordert.

Wenn ich mir die Entwicklung meiner Kinder in den vergangenen Jahren ansehe – und vor allem jetzt noch einmal mit der frischen Entwicklung in den Ferien, wo wir uns sechs Wochen lang in einem stressfreien Raum bewegt haben -, dann begeistern mich die riesigen Fortschritte und der inzwischen (meistens) entspannte Umgang mit dem Arbeiten, Lernen und Üben. Das geht so viel leichter, wenn wir nicht täglich in die Schule gehen. – Und man darf bei unseren Kindern nicht vergessen, dass wir uns in der vermeintlich heimeligen Waldorfwelt ohne all den Notendruck und Leistungsdruck bewegen. Ich mag mir gar nicht ausmalen, wie es wäre, wenn wir an einer Regelschule wären. – Manchmal habe ich schon in den vergangenen Tagen gedacht, ob es nicht viel besser wäre, wenn ich meine Kinder Zuhause selbst unterrichten würde. Es mag vermessen klingen, aber dass sich die Kulturfähigkeiten wie Rechnen, Schreiben und Lesen bei meinen Kindern in den vergangenen Jahren verfestigt haben, ist maßgeblich auf unsere Arbeit Zuhause zurückzuführen.

Natürlich bin ich mir dessen bewusst, dass wir zum einen in der privilegierten Lage sind, dass ich die Zeit und auch mittlerweile die pädagogische Ausbildung habe, um dies zu tun. Ich weiß, dass dies in vielen Familien nicht gegeben ist. Deshalb denke ich auch nicht über eine grundsätzliche Abschaffung der Schulpflicht nach. Zu vielen Kindern wäre dann der Zugang zu Bildung grundsätzlich versagt. Und nicht alle Familien schaffen es, ihren Kindern Zuhause ein lernendes Umfeld zu bieten. Zum anderen bin ich mir bewusst, dass Kinder im schulischen Umfeld auch noch so viel anderes lernen, über das Schreiben, Lesen, Rechnen hinaus. Soziale Kompetenzen, gesellschaftliche Regeln, Zusammenarbeiten in der Gruppe, Rituale, etc. Das kann ich meinen Kindern hier Zuhause nur in einem gewissen Rahmen bieten. Insofern bin ich mir der Grenzen des „Homeschooling“ durchaus bewusst. Wenn ich mir allerdings vergegenwärtige, welche Belastung der schulische Kontext nach wie vor für meine Kinder ist, und ich auf der anderen Seite weiß, dass ein umhüllendes, fürsorgliches und friedliches Umfeld so wichtig für die Heilung und das Heranwachsen meiner traumatisierten Kinder ist, dann mag das Modell eines Unterrichts Zuhause in meiner Wunschvorstellung doch überwiegen. Zumindest für die ersten vier bis sechs Schuljahre.

Am Ende weiß ich, es wird ein Wunsch bleiben und wir werden weiter unseren Weg in der Realität der Schule finden. Aber wünschen kann man sich ja mal was….