Vor einigen Jahren war ich auf einem Vortrag von Bettina Bonus zu „Anstrengungsverweigerung bei Adoptivkindern“. Viel sprach sie von hochproblematischen, traumatisierten Kindern, die sich mit zunehmenden Alter immer mehr jeder Anstrengung verweigern, die sich mit zunehmender Aggression jeder Form von Leistungsanforderung entziehen und später an einem bürgerlichen Leben scheitern. So unterhaltsam die Art der Präsentation dieses schwierigen und heiklen Themas von Bettina Bonus war, ihre Ausführungen trieben mir die kalte Angst in die Glieder. Ich rettete mich mit meinem Glauben, dass es meine eigenen Kinder in ihrem Leben, bevor sie zu uns kamen, nicht so hart getroffen hatte, und wir von vielem verschont bleiben würden.
Heute, Jahre später muss ich gestehen, dass sich die Vorzeichen einer „Anstrengungsverweigerung“ auch bei Maxim und Nadeschda zeigen. Maxim’s Wut beim Üben für die Schule oder Nadeschdas Verweigerung bei manchen Therapeuten mitzumachen – wie ich es in meiner Kolumne zum Leistungsdruck geschildert habe – oder auch Nadeschda’s Tendenz sich in der Schule der Arbeit charmant zu entziehen. All das kann auf eine Anstrengungsverweigerung hindeuten. Nach bald zwei Jahren Schule haben wir mit diesen Tendenzen jedoch einen guten Umgang gefunden. Sie machen mir keine Angst mehr.
In ihrem Vortrag damals riet Bettina Bonus zu etlichen Maßnahmen, wie man als Adoptiveltern mit dieser Verweigerung umgehen könnte: In einem sklavisch durchstrukturierten Tagesablauf sollten die Eltern ihre Kinder eng begleiten. Zur Schule, ja bis zum Klassenzimmer bringen, von der Schule abholen, Hausaufgaben und am Nachmittag Zuhause machen, gefolgt von täglichem Üben. Idealerweise sollten Adoptivkinder einen Leistungssport betreiben, Schwimmen wäre dabei besser als Fussball oder ein Kampfsport. Genauso sollten sie ein orchesterfähiges Instrument spielen, für das sie jeden Tag üben müssten. Der Konsum von elektronischen Medien sollte weitestgehend verboten sein, da er das passive Verhalten, das einer Anstrengungsverweigerung innewohnt, nur begünstigen würde. Als Schulform favorisierte Bettina Bonus die Waldorfschule. Damals mit zwei Kindergartenkindern nahm ich diese Empfehlungen zwar wohlwollend auf, doch glaubte ich, dass unser Leben später mit dem Schuleintritt nicht so rigide aussehen würde.
Doch neulich musste ich, als ich an den Vortrag zurückdachte, schmunzeln: Maxim und Nadeschda besuchen eine Waldorfschule. Wir bringen sie jeden Morgen in die Schule bis in den Klassenraum – und werden dies allein aus logistischen Gründen auch tun müssen, bis sie das Abitur haben, denn es gibt keine öffentlichen Verkehrsmittel dorthin -, mit beiden Kindern mache ich mittlerweile die Hausaufgaben nachmittags zuhause, gefolgt von täglichem Üben. Beide spielen ein Instrument, für das sie jeden Tag üben müssen. Mit Ballett und Zirkusakrobatik verfolgen beide einen Sport, sie körperlich fordert und sie vor allem vor Aufführungen zu hartem Trainieren zwingt. Das Konzept Fernsehen kennen meine Kinder nicht, selbst einen CD-Spieler für Hör-CDs besitzen wir nicht. Die tägliche Routine zahlt sich aus. Diskussionen oder Wutausbrüche über das Üben und Lernen haben dramatisch abgenommen. Es gehört jetzt einfach dazu. Mehr noch, findet es einmal nicht statt, wird es sogar manchmal von Maxim und Nadeschda eingefordert. Auch wenn ich es damals von mir geschoben habe, so gestaltet sich mittlerweile unser Alltag ähnlich, wie ihn Bettina Bonus damals umrissen hat.