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„Russland entdeckt seine verlassenen Kinder…“

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In der Neue Zürcher Zeitung erschien vorgestern ein für mich höchst interessanter Artikel zu Russlands Reform und Sanierung seiner Kinderheime und Einführen eines Pflegewesens für Waisenkinder, um das Verbot internationaler Adoptionen (zumindest mit einigen Ländern) aufzufangen. Der Artikel „Russland entdeckt seine verlassenen Kinder“ schildert zwar teilweise kritisch die Auswüchse des Pflegefamiliensystems, doch für mich räumt er vor allem mit den Vorurteilen über russische Kinderheime auf. Und er stellt ebenso eine wachsende engagierte Zivilgesellschaft, die viel daran setzt, Russlands Kinder, die aus welchen Gründen auch immer zu Sozialwaisen geworden sind, in ihrer Heimat zu halten und ihnen dort eine Zukunft zu ermöglichen, in den Blickwinkel des Interesses.

In meinen Augen wird hier das bestätigt, was mir schon bei der Adoption unserer Kinder klar war: Für eine Nation, die die Familie und ihre Kinder an erste Stelle stellt, mussten internationale Adoptionen immer einer sozialen Bankrotterklärung gleichkommen. Es erscheint nachvollziehbar, dass es Russland schmerzte, dass diese Nation nicht in der Lage war, für ihre vielen Kinder zu sorgen. Offensichtlich lösten die Russen dieses Dilemma so auf, dass internationale Adoptionen nur dann stattfinden konnten, weil die Kinder auf dem Papier kränker gemacht wurden, als sie tatsächlich sind. Nur so konnte man die Abgabe von Kindern ins Ausland vor dem nationalen Gewissen legitimieren. Doch wünschte sich die russische Seele, eine große heile Familie zu sein und sich um alle ihre Kinder kümmern zu können. Ich empfand es als beruhigend, dass sich nun in Russland Entwicklungen abzeichnen, besser und fürsorglicher für ihre „verlassenen“ Kinder zu sorgen.

Den Hinweis zum NZZ-Artikel fand ich auf dem Blog vom PFAD Bundesverband.

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Kinderphilosophie: Nadeschda’s Idee von Wiedergeburt

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Nadeschda beschäftigt sich in den letzten Monaten immer wieder einmal damit, was sie denn werden will, wenn sie groß ist. Hoch im Kurs ist im Moment der Wunsch, „Tierärztin“ zu werden. Denn am liebsten will sie dabei helfen, wenn Kälbchen, Fohlen oder auch „Babyschweine“ auf die Welt kommen. Der Berufswunsch passt irgendwie gut, denn Maxim will Bauer werden, nach wie vor. Dieser Wunsch hält schon lange an. So glaubt er, den ganzen Tag auf einem Traktor durch die Gegend rasen zu können.

Meist folgt nach Nadeschda’s gedankenversunkenen Überlegungen „Mama, ich glaube, ich will Tierärztin werden.“ ein nachdenkliches „Aber da seid Ihr, der Papa und Du, ja schon tot. Ihr wartet dann auf der Sternenwiese, dass Ihr als Babys wieder auf die Welt kommen dürft.“ Vor ein paar Tagen fuhr sie dann weiter fort: „Mama, und wenn ich irgendwann mal tot bin, dann seid Ihr ja schon wieder als Babys auf die Welt gekommen. Und dann werdet Ihr wieder groß. Und wenn ich dann als Baby wieder von der Sternenwiese auf die Welt komme, holt Ihr mich dann wieder im Kinderheim ab?“

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Sprachversuche mit Waisenkindern – Eine schockierende Geschichte, die mich beschäftigt

Wann immer ich etwas über Waisenkinder höre oder lese, wird sofort eine tiefe Betroffenheit in mir wach. Ich kann mich nicht dagegen wehren. Auch wenn diese Geschichten keinen persönlichen Bezug haben und schon lange in ihrer Zeit zurückliegen. Diese hier hat mich immer wieder in den vergangenen Tagen beschäftigt. Ich muss sie teilen, um von hier weiter schreiben zu können:

Kaiser Friedrich II wollte zu Beginn des 13. Jahrhunderts die ursprüngliche Sprache der Menschheit herausfinden. Deshalb ließ er einige neugeborene Kinder ihren Müttern wegnehmen und von Ammen und Pflegerinnen versorgen. Sie gaben den Kindern Milch und sorgten für ihre körperliche Hygiene. Aber es war ihnen verboten, mit den Kindern zu sprechen. So wollte Kaiser Friedrich herausbekommen, welche Sprache diese Kinder als erstes sprechen würden, die ihrer Eltern, oder die hebräische, die damals als die älteste Sprache galt, oder die griechische oder die lateinische. Doch der Versuch scheiterte. Denn alle Kinder starben. Denn ohne sprachliche Zuwendung und Zuneigung, ohne eine Resonanz kann kein Kind überleben.

Natürlich mag das aus sprachtheoretischer Sicht hochgradig spannend sein. Mich hat es in erster Linie betroffen gemacht. Denn es erinnert mich an ein Stück aus der Lebensgeschichte meiner Kinder. Eine Zeitlang waren sie in einem Kinderheim, bevor das Schicksal sie zu uns brachte. So gut sie dort auch versorgt waren, es mangelte nichtsdestotrotz an Zuwendung und individueller Begleitung und Fürsorge. Das gibt der  Alltag im Kinderheim einfach nicht her, egal wie bemüht die Erzieherinnen sein mögen. Meine Kinder haben das überlebt. Ihr Kampfgeist und Überlebenswille hat sie durch diese Zeit hindurch getragen. Nur so konnten sie weiter ihren Lebensweg gehen, der sie zu uns geführt hat. Diese Stärke berührt mich. Sie ist ein Teil meiner Kinder. Sie gehört unwiederbringlich zu ihnen. Denn das hat ihnen in einer kritischen Phase, wo sie eigentlich klein und hilflos waren, das Leben gerettet. Ich sollte mir dieser Stärke bewusst sein, gerade wenn ich einmal wieder die negativen Auswirkungen dieses Kampfgeistes zu spüren bekomme.

Unser Adoptionsabenteuer

iStock_000015941675_LargeAn dem Tag, an dem wir Maxim und Nadeschda in Russland abholten, war ein Jahr vergangen, seitdem Richard und ich den wenig beschrittenen Weg gewählt hatten, eine Familie mit der Adoption eines Kindes aus Russland zu gründen. Hinter uns hatten zuvor Jahre der Behandlung in einem der vielen Kinderwunschzentren, viele gescheiterte Versuche künstlicher Befruchtung, zwei Schwangerschaften und zwei Fehlgeburten gelegen. Nach der zweiten Fehlgeburt war uns klar: Dies war der falsche Weg für uns. Das Schicksal wollte es, dass wir den richtigen Impuls zur richtigen Zeit bekamen: Immer häufiger begegnete uns die Idee der Adoption eines Kindes. Es tat gut, zu lernen, dass es auch andere Wege gibt, unseren Kinderwunsch zu erfüllen. Wir fühlten uns in der Gestaltung unserer Zukunft als Familie wieder autonom und unabhängig. Und die Adoption eines Kindes erschien uns in dem Bewusstsein sinnvoll, dass es so viele Kinder auf der Welt gibt, die nach fürsorglichen Eltern und einem Zuhause suchen.

Unser Weg zur Auslandsadoption

Da wir wussten, dass unsere Chancen auf eine Säuglingsadoption im Inland schlecht standen, konzentrierten wir uns sehr schnell auf die Adoption eines Kindes aus dem Ausland. Unterschiedliche Faktoren leiteten unsere Länderwahl. Wir wollten eine gesicherte Rechtslage für das Verfahren, da wir es vor unserem Gewissen und unserem zukünftigen Kind nur verantworten konnten, auf legalem Wege zu adoptieren. Wir wünschten uns einen zeitlich überschaubaren Adoptionsprozess, da wir nicht mehr bereit waren, uns auf eine lange, zähe und ungewisse Wartezeit von mehreren Jahren einzulassen. Wir trauten uns nicht zu, die Adoption im Ausland auf eigene Faust durchzuführen, sondern wollten uns von einer etablierten Vermittlungseinrichtung helfen lassen. Und schließlich sollte das Herkunftsland unseres Kindes eines sein, zu dem wir in irgendeiner Form selbst eine emotionale Beziehung aufbauen konnten. Russland erfüllte all diese Kriterien für uns. Das Adoptionsverfahren war geregelt und juristisch verlässlich, die Wartezeiten mit ein bis zwei Jahren realistisch und tragfähig. Eine zertifizierte Vermittlungsagentur gab es auch. Die Nähe Russlands zu unserem Kulturkreis und die gemeinsamen historischen Wurzeln erleichterten uns die Auseinandersetzung mit diesem Land, seinen Menschen, seiner Geschichte und seiner Kultur, und erfüllte uns mit Spannung und Neugier.

Der erste Kindervorschlag

Der Überprüfungsprozess durch die Vermittlungsstelle lief zügig und schnell. Bereits ein halbes Jahr nach unserem ersten Gespräch war unser Sozialbericht erstellt. Nach vier Wochen hatten wir alle Dokumente zusammen, die wir für das Adoptionsverfahren in Russland benötigten. Nach weiteren sechs Wochen kam die E-mail: „Wir haben einen Kindervorschlag für Sie.“ Eine Woche später flogen Richard und ich zum ersten Mal nach Russland, um unser Kind kennenzulernen. Informationen über das Kind hatten wir keine. Wir wussten nur, dass in einem Kinderheim im Süden Russlands ein ein bis drei Jahre altes Kind auf uns wartet. – Sergej war ein munteres, aufgewecktes Kerlchen von knapp drei Jahren. Nachdem wir ihn dreimal im Kinderheim besucht hatten, waren wir uns gewiss, dass das Schicksal uns zu diesem Kind geführt hatte und uns helfen werde, Sergej als unser Kind zu lieben und mit ihm zu einer Familie zusammenzuwachsen. Wir stellten noch vor Ort den Adoptionsantrag und warteten auf die Gerichtsverhandlung. Zu dieser sollte es aber nicht kommen. Zwei Tage vor unserem Abflug zur Gerichtsreise kam der Telefonanruf von unserer Vermittlungsstelle, der all unsere Wünsche, Pläne und Hoffnungen zunichte machte. Sergej‘s Großmutter hatte sich in letzter Minute entschieden, ihn zu sich zu nehmen. Unser Verfahren war gestoppt. Dennoch sollten wir nach Russland fliegen, um ein neues Kind, einen Jungen ähnlichen Alters wie Sergej, kennenzulernen. Wir hatten eine Stunde Zeit, uns zu entscheiden.

Wir flogen nach Russland. Am Flughafen in Moskau lernten wir von unserer Koordinatorin, dass es bei einer von dreihundert Adoptionen passierte, dass sich die Verwandten im Angesicht eines unwiderruflichen Gerichtsurteils zu einer Adoption dazu entschließen, das Kind doch zu sich nehmen. Und im Nachsatz fügte sie hinzu: Wir sollten uns darauf einstellen, dass uns am kommenden Tag das  Erziehungsministerium ein Geschwisterpaar vorgeschlagen werde. – Die Achterbahnfahrt ging weiter. Natürlich hatten Richard und ich uns immer mehr als ein Kind gewünscht. Doch irgendwann waren wir an den Punkt gekommen, zu realisieren, dass schon ein einziges Kind mehr als ein Gottes Geschenk ist. Sollten wir nun tatsächlich die Chance bekommen, gleich zwei Kinder adoptieren zu dürfen?

Maxim und Nadeschda – unsere Kinder?

Es war ein Tag im April, als wir unseren Kindern zum ersten Mal begegneten. Maxim war zu diesem Zeitpunkt zwei einhalb Jahre alt, Nadeschda gerade ein Jahr alt geworden. Ihr Leben bis zu diesem Tag war kein leichtes gewesen. Ihre soziale Biografie war traurig und ihre medizinischen Diagnosen teilweise gravierend, aber handhabbar. Wir waren tief beeindruckt von jedem der beiden Kinder, das jedes auf seine Art so einzigartig war. Schon bei der ersten Begegnung keimte ein zartes Gefühl von Zuneigung und elterlichen Fürsorge in uns auf. Vom ersten Moment an waren wir überzeugt, dass wir Maxim und Nadeschda annehmen und lieben, mit ihnen eine Familie werden konnten. Erneut stellten wir vor Ort den Adoptionsantrag.

Diesmal ging alles gut. Drei Monate später, nach zwei Tagen Gerichtsverhandlung sprach der Richter das erlösende Urteil: Er stimmt der Adoption von Maxim und Nadeschda zu und fasst für beide Kinder zusammen: „Es werden zwei neue Kinder geboren: Maxim Conrad Weiss, geboren am 1. November 20XX in Krasnodar und Nadeschda Renate Weiss, geboren am 10. Februar 20XX in Krasnodar. Als Eltern werden eingetragen Richard und Charlotte Weiss.“ Noch durften wir Maxim und Nadeschda nicht mit nach Hause nehmen. In Russland galt eine Widerspruchsfrist von zehn Tagen. Erst danach durften wir sie aus dem Kinderheim abholen. Für uns war es die Zeit, uns auf die Ankunft von unseren Kindern vorzubereiten. Ich wickelte meinen Job ab, ging in Elternzeit, richtete das Kinderzimmer für zwei Kinder ein, kaufte die komplette Kleiderausstattung für einen fast dreijährigen und eine einjährige, neben Kindernahrung, Windeln, Babybad, Kindernagelschere und Milchflaschen. Die Kindersitze für das Auto bestellten wir erst in Russland aus dem Hotel, als wir nach einer Woche – diesmal zum vorerst letzten Mal für eine lange Zeit – wieder in den Süden Russlands flogen.