Die Ereignisse haben sich überschlagen. Renate ist seit gestern im Krankenhaus. Binnen 48 Stunden hat sich ihr Gesundheitszustand so verschlechtert, dass Richard handeln musste. Vorgestern Abend konnte sie nicht mehr die Treppe hinauf ins Schlafzimmer gehen. Erschöpft saß sie auf der untersten Treppenstufe und vermochte nicht mehr aufzustehen. Richard hatte dies durch ihr Wohnzimmerfenster gesehen. Er wusste, dass er etwas unternehmen musste, und Renate nicht hilflos auf der Treppe sitzen lassen konnte. Dies gepaart mit der Angst, welche Pandorabüchse sich für ihn und für uns als Familie öffnen würde.
Doch nach einem Moment des Haderns ging er zu seiner Mutter. In der folgenden Stunde entfaltete sich das ganze Drama, das meine Schwiegermutter schon seit Jahren mit sich herumgetragen und allen verheimlicht hatte. Oberhalb ihrer Brust wuchs ein Handteller großes Geschwür. Sie war nicht zum Arzt gegangen. Sie war schon seit Jahren nicht mehr beim Arzt gewesen, aus der Angst heraus, dass er dieses Geschwür entdecken könnte. Dass sie in den letzten Tagen all ihre Kräfte verloren hatte, wollte sie nicht damit in Zusammenhang bringen. Auch wenn sie in ihrem tiefsten Inneren wusste, dass sie nun ins Krankenhaus gehen musste, wollte sie das Ausmaß ihres schlechten Gesundheitszustandes nicht wahrhaben. Sie wollte nicht sehen, was Richard in Sekunden realisierte: Sie hatte Brustkrebs im fortgeschrittenen Stadium. Das war selbst für Richard als Laien offensichtlich. Ein späteres Telefonat mit Marlene, die Internistin war, brachte als Ferndiagnose die erste Gewissheit. Sie empfahl, dass wir nicht das Wochenende abwarten, sondern dass Renate unmittelbar am nächsten Tag ins Krankenhaus eingeliefert werden sollte.
Als der Krankenwagen kam, versetzte das Maxim und Nadeschda in helle Aufregung. Sie waren nicht mehr von dem Fenster wegzubewegen, von wo aus wir den besten Blick auf Omas Haus hatten. Ich versuchte ihnen zu erklären, dass die Oma krank sei und dass sie nun in ein Krankenhaus käme, wo man ihr helfe. Was davon ankam, kann ich nicht sagen. Maxim blickte mich nur stumm an, doch die Anspannung und Aufregung waren ihm ins Gesicht geschrieben. Auch wenn ich ruhig blieb, und mir selbst die Tragweite dessen, was gestern Abend ans Licht kam, bis zum jetzigen Moment nicht klar war, so spürte mein Sohn, dass etwas sehr Schlimmes mit der Oma passiert war. Das war nicht zu übersehen. Nachdem der Krankenwagen mit Renate und Richard ein paar Minuten später selbst mit dem Auto abgefahren waren, verbrachten die Kinder und ich einen ganz normalen Samstag. Oder eher gesagt, einen normalen Tag. Wir gingen einkaufen, machten ein paar Erledigungen und kochten. Wie immer war der Alltag mit den Kindern auf der einen Seite so fordernd – sie verlangen immer eine 100 prozentige Präsenz – und auf der anderen Seite so wohltuend. Ich spürte, dass ich nicht alleine war. Nein, meine beiden Kinder waren bei mir. Mich um sie zu kümmern, war meine allererste Priorität. Zeit zum Nachdenken hatte ich nicht, geschweige denn anzufangen mir Sorgen zu machen.
Mit der Mittagspause spürte ich, dass die Ereignisse des Morgens Maxim und Nadeschda sehr beschäftigten. Sie waren ungewöhnlich müde, schliefen schnell ein und wachten spät wieder auf. Nach dem Aufwachen verlangte Nadeschda seit langem einmal wieder nach einer Flasche Milch. Maxim war überraschend anhänglich. Ständig wollte er auf meinen Arm und festgehalten werden. Er selbst schloss seine Ärmchen ganz fest um meinen Hals. Konnte ich ihn einen Moment nicht halten und musste ihn absetzen, fing er unmittelbar an zu weinen. Obst und Schokolade hoben seine Stimmung etwas. Doch wich er weiterhin nicht von meiner Seite. Wir malten nachmittags wieder einmal. Genauer gesagt, Maxim malte und Nadeschda war sein Sprachrohr. Denn nach dem zweiten Bild, nahm sie es vom Tisch – Maxim ließ sie überraschend gewähren – und fragte Maxim: „Oma?“ Er nickte eifrig und lächelte. Nadeschda trug Maxims Kunstwerk zu mir hinüber und gab es mir wieder mit einem „Oma!“. Während Maxim unermüdlich weiter malte – es entstanden noch drei weitere Bilder, eine Ausdauer, die ich selten bei ihm sah – hatte Nadeschda aus einer Schublade in der Küche ein altes abgelegtes Handy herausgezogen und lief damit „telefonierend“ herum. Ich verstand wenig von ihrem Gebrabel, doch immer wieder kam sie zu mir, hielt mir das Telefon ans Ohr und sagte: „Oma.“ Auch ich sollte mit der Oma sprechen. Ich war zutiefst gerührt. Ich selbst war nicht in der Lage, meinen eigenen Gefühlen Ausdruck zu verleihen, geschweige denn sie überhaupt hochkommen zu lassen und mich mit ihnen auseinanderzusetzen. Ich war seit dem Vorabend wieder in meinem Funktionsmodus, in dem Sorgen, Ängste und Traurigkeit keinen Raum fanden. Um so mehr bewunderte ich Maxim und Nadeschda, wie sie so schnell ihren Weg gefunden hatten, sich mit dem Krankenhausaufenthalt ihrer Großmutter auseinanderzusetzen und die damit verbundenen Gefühle auszuleben.