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Charlotte’s Sonntagslieblinge (84)

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Photo by Brooke Lark on unsplash.com

Und wieder geht eine erfüllte Woche nach einem arbeitsreichen Wochenbeginn mit einem vor allem sehr erfüllten Wochenende zu Ende. Wir hatten Besuch von lieben Freunden und haben heute die wunderbare Konfirmation meines „jüngsten“ Patenkindes gefeiert. Das war ein sehr schönes Fest! Um so dankbarer bin ich aber heute für diese drei Sonntagslieblinge:

  1. Ich kümmere mich endlich ein wenig mehr um mich. Nachdem mein Rücken mich immer wieder quälte und ein Physiotherapeut bei mir gleich vier Wirbel wieder eingerenkt hat, bin ich dann doch endlich mal zum Arzt gegangen. Jetzt bekomme ich Physiotherapie auf wöchentlicher Basis, gehe jeden zweiten Tag konsequent laufen und mache Rückengymnastik. Das tut gut!Ich frage mich dennoch, wie ich die Schmerzen hab ego lange wegdrücken können.
  2. Maxim, Nadeschda und ich haben endlich wieder unseren kleine Gemüsegarten angelegt. Wir sind gespannt, wie viele Gurken, Zucchini und Kohlrabi wir in diesem Jahr ernten werden.
  3. Und wieder einmal habe ich ein Buch zu Ende gelesen: „Mutterland“ von Paul Theroux ist verstörend, zuweilen auch unterhaltsam, wenn es mir gelang, die eigene kritische Distanz zu der Thematik mit meiner eigenen Mutter zu finden.

Habt einen sonnigen Sonntag und einen wohlbehaltenen Start in die neue Woche!

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„Ich bin einfach sehr faul.“ – Anstrengungsverweigerung der anderen Art

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Photo by Cristian Newmann on unsplash.com

Schon lange wollte ich mich wieder mehr mit Adoptionsspezifischen Themen beschäftigen. Und da das Thema „Anstrengungsverweigerung“ im letzten wie auch in diesem Jahr sehr viel bei mir hier gelesen wurde, wollte ich mich einmal mehr dem Thema widmen. Nicht zuletzt weil unsere gute alte Freundin uns immer wieder besucht.

Gerade im Moment einmal wieder (fast) täglich, was aber auch mit der aktuellen Grenzbelastung unserer Familie und mir zu tun hat. Die Kinder merken, dass ich sehr angespannt bin, und so sind sie es auch. Und um meine VOLLE Aufmerksamkeit am Nachmittag zu bekommen, werden eben nicht nur Grenzen getestet, sondern die Lern- und Übverweigerung manchmal bis zum Äußersten ausgetestet. Manchmal geht es ihnen auch nur um die Aufmerksamkeit. Nicht mehr mit Maxim und Nadeschda zusammen, sondern mit jedem alleine – inzwischen sind beide ja so groß, dass sich jeweils das andere Kind wunderbar alleine beschäftigen kann und dies auch genießt – für die Schule zu arbeiten und zu üben, kostet zwar mehr Zeit. Aber es ist unterm Strich deutlich entspannter. Und jedes Kind zieht daraus ein Stück weit auch eine exklusive Zeit mit mir.

Doch davon wollte ich heute gar nicht schreiben. Denn die Anstrengungsverweigerung ist mir nun mit meiner Mutter in einer ganz anderen Art wieder begegnet. Wie schon geschrieben, hatte meine Mutter einen Schlaganfall. Zuvor schon hat sie sich in den letzten zwei, drei Jahren sehr „gehen“ lassen, hat motorisch stark abgebaut und in vielerlei Hinsicht nicht mehr gut für sich gesorgt. Der Schlaganfall war nur der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Nun war sie zwei Wochen im Krankenhaus und fünf Wochen in Reha, hier bei mir in der Nähe. Bald wird sie in eine betreute Wohneinrichtung in unser Nähe ziehen. Doch seit Dienstag lebt meine Mutter erst einmal bei uns. Vorübergehend. Mit einer Vollzeitpflegerin. Also einer wunderbaren Frau, die zwar permanent verfügbar wäre, aber es gar nicht sein soll (und darf), die uns jedoch die Freiheit gibt, dass sie im Notfall tatsächlich da wäre. Ich kann dankbar sein, dass wir die finanziellen Mittel haben, den Übergang so zu gestalten. Viele, viele, sehr viele Familien können das nicht. Noch immer ist die Pflege der Eltern ein viel zu wenig beachtetes Thema in unserer Gesellschaft, obwohl es eine Natur gegebene Tatsache ist, dass sie irgendwann auf der Matte stehen, egal wie das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern einmal war. Gerade heute hat Claire von mamastreikt mit einem deutlichen Post wieder zum Netzprotest unter #carearbeitmusssichtbarwerden aufgerufen. Wie Recht sie hat!

Aber zurück zum Thema: Schon im Krankenhaus sagte mir der behandelnde Arzt: „Ja, Sie treffen es auf den Punkt: Der Erfolg der Reha und der nachfolgenden Therapien hängt davon ab, in wie weit Ihre Mutter bereit ist mitzumachen.“ Die Gespräche mit der behandelnden Ärztin in der Reha hatten einen ähnlichen Tenor. Manchmal machte sie gut mit, dann gab es Fortschritte. An vielen Tagen aber hatte sie keine Lust oder war nicht in der Stimmung, oder was weiß ich, dann konnten die Therapien eben nur in einem begrenzten Umfang stattfinden. Die Fortschritte waren entsprechend. Ich erinnere mich, dass ich vor zwei Wochen darüber mit meiner Mutter stritt und ihr ziemlich deutlich sagte, dass sie, wenn sie denn ein selbstbestimmtes Leben wieder führen wollte, gefälligst bei den Therapien kooperieren sollte. Die Antwort meiner Mutter: „Ja, Du weisst doch, ich bin einfach faul.“ Da sie rechtsseitig durch den Schlaganfall gelähmt oder eingeschränkt ist, war und ist ihre tägliche Hausaufgabe, ihre Unterschrift zu üben. Denn da sie meinem Bruder und mir keine Vorsorgevormacht geben wollte, sind wir auf ihre Unterschrift angewiesen. „Ja, das übe ich, wenn Du wieder weg bist. Das muss ich ja nicht jetzt machen, während Du mich besuchst.“ Beim Abschlussgespräch mit der Chefärztin vor ein paar Tagen hieß es, dass sie eigentlich nur weiter Physiotherapie braucht und ansonsten eben im Alltag üben muss. Jetzt hat ihr spannenderweise die Chefärztin ebenso Sprachtherapie und Ergotherapie noch einmal verschrieben. Warum wohl? Weil meine Mutter die Übungen, die sie eigentlich allein zu hause für das Sprechen machen könnte, nicht machen wird. Weil meine Mutter solche einfachen  Dinge im Alltag, wie Kartoffeln schneiden oder Teig kneten oder ähnliches (die ja einen bekanntlich ergotherapeutischen Nutzen haben), nicht machen wird. Auch ihre Sprachübungen wird sie wohl kaum machen. Nicht weil sie nicht kann, sondern weil sie nicht will. Deshalb muss sie sich dafür jetzt in therapeutische Settings begeben.

Als ich ihr neulich sagte, dass sie nun genauso üben muss, wie ihre Enkel, guckte sie mich mit großen Augen an. „Deine Enkel finden das auch nicht immer gut, wenn sie üben müssen. Lesen üben ist total öde, um Deinen Enkel zu zitieren. Doch als er auf einmal merkte, dass vor allem das Lesen auch deshalb spannend ist, weil man nämlich nun auch Sachen auf Mama’s Notizen lesen kann, wie Weihnachts- und Geburtstagswünsche, die eigentlich nicht für seine Augen bestimmt, waren, da fand er das Lesen gar nicht mehr öde.“ Meine Mutter lachte erst, dann schaute sie mich etwas nachdenklich an und antwortete: „Ja, Du kannst ja dann auch mit mir üben. Du scheinst Dich ja damit auszukennen.“ Ich schwieg und dachte mir: „Ja, mit Anstrengungsverweigerern kenne ich mich aus.“

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Drei Schritte vor und zwei zurück? – Nadeschda’s Schulentwicklung

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Mit freundlicher Unterstützung von Fotolia

Immer dann, wenn wir wieder einmal einen großen Meilenstein in unserem Leben bewältigt haben, wenn eines meiner Kinder einen großen Schritt vorangegangen ist, gebe ich mich der Illusion hin, dass doch eines Tages auch bei uns alles einmal „normal“ sein wird. Es geht ohne große Schwierigkeiten weiter voran. Meine Kinder erleben eine Kindheit wie jedes andere Kind auch, mit ihren Freizeitaktivitäten, mit ihren Freunden und mit dem, was Kinder vor allem tun wollen und sollten, mit unheimlich viel Spielen. Keine Therapien, keine außer der Reihe-Arztbesuche, keine zusätzliche Förderung.

Doch das wird eine Illusion bleiben. Denn immer dann, wenn ich gerade das Bild im Kopf habe, das der Kinderzug nun sicher auf seinen Schienen fährt, ruckelt irgendetwas oder irgendjemand an den Gleisen und der Zug gerät aus der Spur. Klar, denke ich, wie kann auch der bildliche Kinderzug stabil fahren, wenn unter den Gleisen das Kiesbett nie ordentlich angelegt wurde, ihnen das frühkindliche Vertrauen und die fürsorgliche Obhut der ersten Lebensmonate und -jahre fehlt. Diesen Kies wieder aufzufüllen, ist mühselig und schwierig. Denn wir können nicht alle Schienen abbauen und alles von Anfang an wieder neu aufbauen und anlegen. Wir können nur an den brüchigen, instabilen Stellen etwas Fundament auffüllen. Doch auch da rieselt der Kies manchmal einfach weg.

Nadeschda tat und tut sich nach wie vor schwer mit der Schule. Ja, sie geht gerne hin. Wenn ich sie mit ihren Klassenkameradinnen beobachte, habe ich das Gefühl, dass sie ein glückliches Kind ist und sich in ihrer Klasse wohlfühlt. Dennoch hält ihre nachmittägliche Überforderung, wie ich sie ja schon mal in „Mehr im Einklang mit meinen Adoptivkindern“  beschrieben hatte, an.

Um noch einmal einen vollständigen Blick auf meine Tochter in der Schule zu bekommen, sprach ich vor ein paar Wochen mit ihrer Klassenlehrerin. Es war wie immer ein sehr wohlwollendes und offenes Gespräch. Sie bestätigte meinen Eindruck, dass Nadeschda auf der einen Seite ein sehr glückliches Mädchen in der Schule sei. Dennoch trotz all des Lobes über die wunderbare Entwicklung meiner Tochter kamen zwei Themen zu Tage, die ich in den vergangenen Monaten und beinahe Jahren gut verdrängt hatte.

Zum einen sprach mich Nadeschdas Lehrerin auf Nadeschdas Hüfte an. Irgendwie hätte sie den Eindruck, dass da etwas blockiere, und damit Nadeschdas Hand und Fußkoordination leide. Da war er wieder der „Zombie“ aus unserem ersten Jahr nach der Ankunft der Kinder. Damals schienen wir glimpflich weg gekommen zu sein. Andere Schwierigkeiten waren damals dringlicher. Zudem hatte man uns an vielen Stellen gesagt, dass eine mögliche Hüftfehlstellung, so wie sie bei Nadeschda möglicherweise vorhanden sei, sich auswachsen könnte. Doch nun kam Nadeschdas mögliches Problem mit der Hüfte zurück. Und das sollten wir dringend abklären. Nun, ich war dankbar für meine Hartnäckigkeit in der vergangenen Woche; denn bereits für Ende Januar habe ich einen Termin für eine genauere Diagnose und mögliche Behandlung bekommen.

Zum anderen beschrieb Nadeschdas Lehrerin ihr Verhalten beim „Arbeiten“ in der Klasse so, dass bei mir alle Alarmglocken anschlugen. Ja, sie würde schon interessiert mitarbeiten, doch die Lehrerin oder auch die Substitutslehrer müssten sie eng begleiten. Denn sie sei immer sehr schnell dabei, sich ablenken zu lassen oder auch andere abzulenken. Wenn die Kinder gemeinsam strickten, würde Nadeschda zwar so tun, als strickte sie, doch viel lieber schwatzte sie mit ihrer Tischnachbarin. Ginge es um das Malen und schreiben, wäre sie eine gewitzte Geschichtenerzählerin, um möglichst von der Sache abzulenken. Leise, still und heimlich zeigte sich bei meiner Tochter also auch die Vermeidungsstrategie. Das Arbeiten in der Schule war für sie eine anstrengende Herausforderung, auch wenn dies alles noch nichts mit einem schulischen Leistungsdruck zu tun hatte. Doch Nadeschda versuchte schon jetzt sich dem zu entziehen, so gut es ging. Sie tat das mit der Überlebensstrategie ihres einzigartigen Charmes, auf den schon so mancher hereingefallen war. Und selbst ihre Klassenlehrerin war ein Stück weit auf sie hereingefallen. Denn eher schmunzelnd und amüsiert schilderte sie mir Nadeschdas Verhalten.

Ich bin dankbar, dass wir diesmal schon früh erkannt haben, dass auch Nadeschda dieses vielen Adoptivkindern so typische Vermeidungsverhalten zeigt. So haben wir jetzt noch die Chance, ohne den tatsächlichen schulischen Druck, sie genauso wie Maxim – aber viel spielerischer – zum regelmäßigen Üben zu bewegen. So dass es einfach eine Routine wird, die nicht mehr in Frage gestellt wird. Doch wird Nadeschda auch hier weitere therapeutische Hilfe brauchen. Ab Januar werden wir ihre Kunsttherapie wieder aufgreifen und fortführen, um so zu versuchen, ihr die Angst zu versagen auch auf eine andere Art zu nehmen.

Es liegt nun wieder eine Phase von viel „Arbeit“ – denn die Therapien sind für Nadeschda anstrengend und bewegend und haben wenig mit Spass gemein – vor uns. Da geht sie also hin, die Illusion von einem „normalen“ Alltag. Doch auch wenn sich ein Funken Schwermut breit macht, so denke ich auch, dass genau das wichtig ist, um genauso die vielen wunderbaren Dinge, die meine Tochter meistert, als ein großes Geschenk anzunehmen. Wie glücklich macht es mich, dass Nadeschda aus eigenem Antrieb nun beschlossen hat, Klavier zu spielen und Unterricht zu nehmen. Als die Klavierlehrerin nach der ersten Stunde sagte: „Sie scheint Talent zu haben und feinmotorisch sehe ich hier überhaupt kein Problem.“ ging mir das Herz auf.