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Die Ferien und unser tägliches Üben Zuhause bringen es wieder zu Tage: Sind meine Kinder in einem Zustand der inneren Ruhe und Ausgeglichenheit, sind sie wenig (oder gar nicht) belastet mit schulischem Druck, halten sie sich hauptsächlich in unserem für sie sicheren häuslichen Umfeld auf, so können sie auch gut auf ihre inneren Ressourcen zurückgreifen, um zu lernen. Maxim braucht etwa nur die Hälfte der Zeit für seine Aufgaben wie sonst in der Schulzeit. Und auch Nadeschda kann auf einmal wieder auf lang erlerntes zurückgreifen. Schon vor den Ferien war mir aufgefallen, dass Maxim in Phasen der großen Anspannung schon längt gut Gelerntes einfach vergaß. Steif und fest behauptete er, dass er die 14er Reihe des großen 1×1 nie in der Schule (und schon gar nicht zuhause) gelernt hatte. Zunächst war ich irritiert und eine gewisse Nervosität machte sich auch in mir breit. Doch dann kamen mir die Antworten auf die „schwarzen Löcher“, die sich temporär in seinem schulischen Wissen zeigten:
Mit Blick auf das Lernen gibt es zwei Aspekte, die mir erneut die Augen öffneten, warum das Lernen für meine Kinder oft so schwierig ist. Auf den ersten Aspekt war ich schon vor Monaten bei Heather Forbes gestoßen. Jedes Kind hat ein eigenes Niveau an innerem Stress, den es aushalten kann. Dieses „Fenster von Stresstoleranz“ wird darüber definiert, wie gut das Kind Druck, Angst und Überforderung aushalten kann ohne innerlich disreguliert zu werden. Hat ein Kind ein großes Fenster der Stresstoleranz, ist es in der Lage gut in der Schule zu funktionieren. Es kann sich gut kontrollieren, es kann konzentriert arbeiten, sein Gedächtnis und Erinnerungsvermögen funktionieren, es kann logisch und sequenziell denken. Kinder, die traumatischen Erfahrungen erlebt haben, haben hingegen ein kleines Fenster der Stresstoleranz, denn der traumatische Stress hat sich in ihrem Inneren manifestiert und lässt sie in ständiger „Alarmbereitschaft“ zurück. Diese Kinder erscheinen ungeduldig, impulsive und unkonzentriert, sie sind kaum in der Lage klar und rational zu denken. Dass sie oft Schwierigkeiten haben, still zu sitzen und konzentriert zu arbeiten, liegt somit auf der Hand. Alle Fähigkeiten, die für ein konzentriertes und fokussiertes Lernen erforderlich sind, können diese Kinder kaum aktivieren.
Zum zweiten zeigen neuro-biologische Reaktionsmuster, dass in einem Zustand des dauerhaften traumatischen Stress und der emotionalen Disregulation das Großhirn deaktiviert ist. (Ich hatte hier schon einmal darüber geschrieben, um mit dem Mythos von manipulativem Verhalten aufzuräumen.) Vereinfacht beschrieben ist das Großhirn verantwortlich für das rationale Denken – und damit Handeln, das Verarbeiten von Informationen und Wissen, das logische Denken, vorausschauende Planung und Struktur. In ihm sind somit alle rationalen und bewussten, aber auch unbewussten und bildhaften Funktionen verankert, die zum Lernen notwendig sind: Analytisches rationales Denken, Erinnerungsvermögen und Gedächtnis, Vorstellungsvermögen, Logik oder auch Sprache. Das Limbische System ist verkürzt gesagt das emotionale Zentrum des Gehirns. Hier spielen sich auch die schützende Prozesse von Flucht oder Kampf ab. Im Reptiliengehirn sind alle vitalen Funktionen und damit der natürliche Selbsterhaltungstrieb des Menschen angesiedelt. Es verarbeitet externe Impulse und leitet daraus die vegetativen Reaktionen ab. In der Regel ist das Großhirn der dominierende Teil, der das Limbische System und das Reptiliengehirn kontrolliert und steuert. Fühlt sich ein traumatisiertes Kind allerdings bedroht und lebt ohnehin aufgrund der traumatischen Erfahrungen in einem dauerhaften Zustand von Stress und Erregung, dann kontrolliert nicht mehr das Großhirn seine internen Prozesse und reguliert seine Gefühle und Reaktionen. Es ist ausgeschaltet, und allein das Limbische System und das Reptiliengehirn übernehmen.
Somit ist offensichtlich, dass ein konzentriertes und fokussiertes Lernen kaum möglich ist, wenn der Zugang zu den dafür erforderlichen Funktionen im Großhirn gestört ist. Stattdessen dominieren in diesen Kindern die Hirnbereiche des Limbischen Systems und des Reptiliengehirns, die mit dem unmittelbaren „Überleben“ des Kindes beschäftigt sind. Sie fokussieren darauf, die primären physischen und emotionalen Bedürfnisse des Kindes sicherzustellen, nicht aber darauf zu lernen. Das heißt, dass ein Kind solange nicht in der Lage ist, akademisch zu lernen, solange nicht in seiner Wahrnehmung seine physischen und psychischen Grundbedürfnisse erfüllt sind. Fühlt sich also ein Kind in der Schule und in seinem schulischen Umfeld nicht sicher, was wohl bei den meisten traumatisierten Kindern der Fall ist, so ist es gar nicht erst in der Lage, Wissen aufzunehmen, geschweige denn es zu behalten. Befindet es sich wiederum in einer sicheren und wohlgehüteten Umgebung, lässt der äußere Stress und die Anspannung nach, kann es sehr wohl wieder lernen und neue Dinge aufnehmen.