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Mehr als Manipulation, es geht um’s Überleben – Anstrengungsverweigerung ist kein gezieltes, absichtliches Verhalten

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Photo by Patrick Fore on unsplash.com

Viel beschäftige ich mich gerade einmal wieder mit den Folgen von Frühtraumatisierungen und welchen Einfluss diese auf das Lernverhalten von Kindern haben. Mir schwirren wieder die Situationen mit meinen Kindern auch den Kopf: Nadeschda versucht augenscheinlich, von den Übungsaufgaben abzulenken, in dem sie mir von 38 Begebenheiten in der Schule erzählt, die gerade ja so viel wichtiger sind. Im Rechenförderunterricht verwickelt sie die Lehrerin in ein Gespräch und dabei geht erfolgreich unter, dass sie ja eigentlich die Stufen im Treppenhaus zählen soll. Beim Zahlen zerlegen wickelt mich Nadeschda erfolgreich um den Finger, in dem sie anstatt die Zahlen zu überschlagen, auf Englisch zählt. Maxim starrt beim Üben Löcher in die Luft, oder spielt lieber mit seinen Stiften. Seine Buntstifte sind immer aussergewöhnlich gut gespitzt, Beim Trompete üben gibt er gerne seinem Vater „Privatkonzerte“. Klar, dann fällt nicht unmittelbar auf, dass er die Stücke, die er eigentlich üben soll, gar nicht gespielt hat. Genauso gehen mir meine eigenen Ausrufe und die anderer befreundeter Adoptivmütter auch den Kopf, wenn es einmal wieder schwierige und vielleicht sogar eskalierte Hausaufgabensituationen gab: „Da hat er (oder sie) einmal wieder erfolgreich die Köpfchen bei mir gedrückt.“ 

Das alles suggeriert Absicht und bewusste Manipulation. Klar, aus einer seelischen Not heraus geboren. Dass es aber weder das eine noch das andere ist, wurde mir erst wieder bewusst, als ich einen der letzten Blogbeiträge von Mike Berry von confessionsofanadoptiveparent las. In „Her behavior isn’t manipulation, it’s survival!“ schildert er sehr eindrucksvoll und plakativ, warum ein wie auch immer geartetes anstrengungsvermeidendes Verhalten eben gar keine geplante und beabsichtigte Manipulation oder Ablenkung sein kann.  

Sehr vereinfacht dargestellt (und mit Sicherheit wissenschaftlich betrachtet nicht ganz korrekt), passiert etwa das Folgende: Das Großhirn ist verantwortlich für das rationale Denken – und damit Handeln, das Verarbeiten von Informationen und Wissen, das logische Denken, vorausschauende Planung und Struktur. Das Limbische System ist verkürzt gesagt das emotionale Zentrum des Gehirns. Hier spielen sich auch die schützende Prozesse von Flucht oder Kampf ab. In der Amygdala  sind alle vitalen Funktionen und damit der natürliche Selbsterhaltungstrieb des Menschen angesiedelt. Sie verarbeitete externe Impulse und leitet daraus die vegetativen Reaktionen ab. In der Regel ist das Großhirn der dominierende Teil, der das limbische System und die Amygdala kontrolliert und steuert. Fühlt sich ein traumatisiertes Kind allerdings bedroht und lebt ohnehin aufgrund der traumatischen Erfahrungen in einem dauerhaften Zustand von Stress und Erregung, dann kontrolliert nicht mehr das Großhirn seine internen Prozesse und reguliert seine Gefühle und Reaktionen. Es ist ausgeschaltet, und allein das limbische System und die Amygdala übernehmen. Das Verhalten, was dann ein traumarisiertes Kind zeigt, ist allein von Emotionen gesteuert und der archaische von jeder Hemmung befreite Kampf ums Überleben ist aktiviert. 

Insofern kann es gar keine Absicht oder geplante Manipulation sein, oder ein Verhalten, was gezielt und „strategisch“ darauf abzielt, einer Situation aus dem Wege zu gehen, oder eine Anstrengung in welcher Form auch immer zu vermeiden. Das wären ja Vorgänge im Großhirn. Doch dies hat in Stresssituation vor dem Einfluss von limbischem System und Amygdala kapituliert. Jegliches rationale und abwägende Denken ist in diesen Momenten ausgeschaltet. Allein der Kampf ums Überleben steht im Vordergrund. Und dafür ist – verständlicherweise – jedes Mittel recht.  

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Charlotte’s Sonntagslieblinge (122)

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Photo by Michal Prucha on unsplash.com

Wohlbehalten sind wir gestern Nacht aus den Schweizer Bergen zurückgekehrt. Auf mich warten nun gefühlt 10 Waschmaschinenladungen Wäsche, die noch heute vor dem Schulanfang morgen gewaschen werden wollen. Und müssen. Denn der Kleiderschrank meiner Kinder reicht nun leider nur für eine Woche. Insofern herrscht dort gerade gähnende Leere. Ich könnte sie jetzt gar nicht zum Anziehen treiben. Denn da ist nicht wirklich etwas außer ein paar kurzen Hosen und Sommerkleidchen – die nicht wirklich zu den aktuellen Temperaturen passen. Während also meine Waschmaschine ihren ersten Dienst tut und der Rest des Hauses noch schläft, sitze ich nun hier und denke in Dankbarkeit an diese drei Sonntagslieblinge:

  1. Die Zeit, die wir in der vergangenen Woche als Familie verbracht haben. Vor allem das gemeinsame Rodeln war großartig! Ich bin so froh, dass Nadeschda ihre Angst nach dem Lawinenurlaub im vergangenen Jahr, nachdem sie ja auf keinen Berg mehr hinauf wollte, überwunden hat, und mit uns hochgefahren ist, um dann mit dem Schlitten 5 Kilometer ins Tal zu „rasen“… Genauso wie unsere Spieleabende. Solange Maxim die „Bank“ war und damit der Chef, ging das wunderbar.
  2. Schlittschuhlaufen mit beiden Kindern.Wir haben es tatsächlich geschafft: Wir waren Schlittschuhlaufen! Mehrmals! Und es war zauberhaft!
  3. Dennoch recht viel Zeit zum Lesen und für mich zu haben. Ich bin einfach früh aufgestanden und habe die frühen Morgenstunden für mich genutzt. Auch wenn es eher berufliche Lektüre war, aber dennoch, so fühle ich mich immerhin gut vorbereitet auf meine nun in der kommenden Woche startende Theaterproduktion an der Schule und mein Buchprojekt, das nun in den kommenden Wochen ebenso in Angriff genommen werden muss. Ich muss ehrlich gestehen, dass ich „Meister und Margarita“ erst einmal wieder zur Seite gelegt habe.  Es brachte mir dann nicht die gewünschte Ablenkung und Entspannung, neben all der Fachliteratur zu Traumatisierung und ähnlichem. Stattdessen begleitete mich „Altes Land“ von Dörte Hansen. Das hatte ich einfach mal gekauft, als ich auf Richard am Flughafen wartete, und niemals zu Ende gelesen. Nun war es dann dran. Da es ein Taschenbuch war, packte ich es einfach noch mit ein. Durch Zufall. Oder Intuition. Egal. Gelohnt hat es sich, auf jeden Fall.

Habt einen erholsamen und ruhigen Sonntag und startet wohlbehalten in die neue Woche.

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Lydia’s Blogparade: „Was darf man Kindern zutrauen?“

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Photo by Michal Janek on unsplash.com

Die liebe Lydia, deren Blog ich sehr gerne lese, weil sie mir die Welt aus einer ganz anderen Perspektive nahe bringt und damit für mich so vieles Selbstverständliche oft in ein anderes Licht rückt, hat zur Blogparade „Was darf man Kindern zutrauen?“ aufgerufen. Gerne mache ich mit und folge Lydias Aufruf. 

Mit Sicherheit motiviert es mich auch mitzumachen, da ich aufgrund der Lebensgeschichte meiner Kinder eine andere Sichtweise vertrete als viele andere Mütter. Denn meine Kinder haben eine harte und schmerzhafte Lebensgeschichte in ihren ersten Lebensjahren erfahren müssen. Sie lebten eben nicht wohlbehütet und umsorgt auf, sondern waren mehr oder weniger wahrscheinlich von Geburt an auf sich selbst gestellt. So können wir heute nur vermuten. Denn all dies spielte sich ab, bevor wir Maxim und Nadeschda im Alter von fast drei und bald zwei Jahren adoptierten. Mittlerweile sind unsere Kinder „groß“ mit zehn und bald neun Jahren. Aber die Wunden der Frühtraumatisierung hallen bis heute nach. Und somit wachsen sie bei uns eben nicht auf wie „normale“ Kinder, sondern sind durchaus im gemeine Sprachjargon überbehütet. Gerne mache ich mich dabei in Diskussionen um Helikoptermütter unbeliebt. Ich bin eine Helikoptermutter aus Überzeugung. Denn das ist es, was meine Kinder bis heute brauchen. 

Was kann ich meinen Kindern zutrauen? – Theoretisch ganz schön viel. So bitter es klingt, ich könnte heute tot umfallen, und meine Kinder würden irgendwie klar kommen. Denn es ist eine Situation, die sie früh in ihrem Leben gelernt haben. Gerade mein Sohn, der ein ausgeprägtes Autonomieverhalten an den Tag legt, wenn man ihn lässt, würde wahrscheinlich – oberflächlich betrachtet – gut zurecht kommen. Er könnte gut Verantwortung übernehmen, würde sich (zu) viel aufbürden, würde es dennoch schaffen. Aber es täte ihm nicht gut, und es tut ihm auch nicht gut, wenn es denn mal in Ausnahmesituationen gefordert ist. Danach folgen heute noch tagelang die Beziehungsanfragen: „Hält mich die Mama? Hält sie mich aus?“ – Und meine Tochter? Sie war fünf Monate alt, als sie von ihrer russischen Mutter getrennt wurde. Bis heute müssen wir so unglaublich viel nachnähren. Seit bald mehr als einem Jahr schläft sie (wieder) bei Richard und mir in unserem Bett, und es ist fast ein Ritual, dass sie nach dem Vorlesen dort zwischen meine Beine krabbelt und in meinem Schritt verharrt. Als würde sie sich innerlichst wünschen, in meinen Bauch zu kriechen, in dem sie (leider) niemals war. Dieses Kind muss so viel umsorgt werden. Noch heute – und Nadeschda wird bald neun Jahre alt – braucht sie jedes Kleinkindhafte Umsorgen, vom Anziehen über das Schultasche packen und dann an der Hand in die Schule laufen bis zum pünktlichen Abholen – oder ein da sein, weil ich ja im Hort arbeite – und einem begleiteten Arbeiten für die Schule. Nur so schafft sie gut ihren Alltag und ihr Leben. Dennoch weiß ich, dass sie all diese Dinge des alltäglichen Lebens auch alleine bewältigen kann. Natürlich kann sie sich alleine anziehen. Natürlich kann sie sich ihr Frühstück selbst zubereiten. – An guten Tagen erwische ich sie oft am Kühlschrank, wo sie sich selbst ihren Jogurt herausholt, oder sie steht am Toaster und wartet auf ihr Brot, um es sich dann selbst zu schmieren. Dann huscht ihr verschmitztes und spitzbübisches Lächeln über ihr Gesicht, als wolle sie mir sagen: „Mama, ich kann das alles. Aber ich will meistens nicht. Ich brauche es noch, dass Du das alles für mich machst.“

Was kann ich also meinen Kinder zutrauen? Dem einen tut die Autonomie nicht gut, die andere braucht noch so viel Mutterliebe und -fürsorge, dass es mir so oft scheint, es wäre ein Fass ohne Boden. Denn nur mit all dieser Fürsorge haben meine Kinder eine Chance zu heilen: Ihr Trauma zu überwinden, den Schmerz und die Trauer, die Wut des Verlassenseins aus der frühesten Kindheit zu verarbeiten und irgendwann einmal anders damit umzugehen.

Also traue ich meinen Kindern mit Blick auf eine Alltagskompetenz erst einmal wenig zu. Denn ich weiß, dass es am besten ist, wenn sie sich um nichts kümmern müssen und „Mama“ einfach da ist. Nur so fühlen sie sich behütet, sicher und umsorgt. Nur so können sie wachsen und sich entwickeln. Dennoch weiß ich, dass ich genauso die Pflicht und die Aufgabe habe, meine Kinder auf das Leben vorzubereiten und sie dahin zu bringen, dass sie tatsächlich einmal in der Lage sind, ihren Alltag alleine zu bewältigen. Und das ist der schmale Grat auf dem wir uns bewegen. 

Ich erinnere ich mich an eine Situation vor ein paar Jahren mittlerweile. Maxim war zum Geburtstag eingeladen bei einem Freund im Ort – seinem bis heute ersten und seelenverwandten Freund noch aus Kindergartenzeiten. Nadeschda war krank und lag schlafend auf dem Sofa, als es für Maxim Zeit war zu gehen bzw. es Zeit war, dass ich ihn zu seinem Freund bringe. Ich war im ersten Moment etwas ratlos, wollte Nadeschda nicht aufwecken, aber auf der anderen Seite musste Maxim ja zu diesem Geburtstag. Da sagte mein Sohn: „Mama, ich kann doch auch alleine zu Karl laufen.“ Wie Recht er hatte! Es war ja wirklich nur die Straße rauf. So machten wir das dann auch. Und es war gut. Denn es war auch ein Stück weit eine gesunde Eigenverantwortung, die Maxim sich in diesem Moment selbst gewählt hatte.   

So versuchen wir seitdem, in kleinen wohlgewählten Dosen, unsere Kinder an Verantwortung in ihrem Alltag heranzuführen. Pflichten und Aufgaben im Haushalt zu übernehmen, selbstständig an Dinge zu denken und diese auch zu erledigen. – Erschwerend kommt allerdings hinzu, dass wir auf dem Land leben und meine Kinder nicht die örtliche Schule besuchen. So ist unser Leben ohnehin davon dominiert, dass ich eh meine Kinder überall hinbringen muss. (Öffentliche Verkehrsmittel fallen qua schlechter Infrastruktur aus.) Wir fahren sie zur Schule, wir holen sie dort ab, wir bringen sie zu ihren Freunden, wir fahren zu den Freizeitaktivitäten, die eben alle auch nicht in unserem Ort sind. Diese Form der Unselbstständigkeit haben wir uns sozusagen eingekauft, als wir uns für die Waldorfschule entschieden haben, die mittlerweile unser Lebensmittelpunkt ist. – Nach den Jahren des vollständigen Umsorgtseins ist das nicht immer einfach. Gerade hier im Skiurlaub gab es eine riesen Diskussion, warum denn nun beide Kinder ihre Koffer selbst auspacken sollten und ihre Anziehsachen in den Schrank räumen sollten. Es ist und wird eine Gratwanderung bleiben. 

Aber am Ende muss ich für meine Kinder feststellen: Zutrauen darf man ihnen eine Menge. Doch ich muss jedes Mal wieder abspüren, ob ihnen das jetzt gut tut oder nicht. Manchmal könnte ich mehr loslassen und ihnen mehr zutrauen. Oft brauchen sie aber immer noch einmal das Quäntchen mehr „Mama“ und Fürsorge als andere Kinder.  

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Anstrengungsverweigerung – Von der alles dominierenden Angst

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Danke an Pixabay

Er kam wie gerufen, der aktuelle Post von Sherrie Eldridge „What adopted and foster kids consider worse than anger“. Wie so oft schildert Sherrie Eldridge sehr ergreifend und klar, wie die übermächtige Angst, die Adoptivkinder aufgrund ihrer traumatisierenden Erfahrungen in ihrem frühen Leben verinnerlicht haben, sie lähmt und blockiert, sie so fest im Griff hat, dass es aus ihr kein Entrinnen gibt. Diese Angst macht nicht nur hilflos und ohnmächtig, sie isoliert und blockiert die Ressourcen, selbstbewusst und selbstbestimmt das Leben in die Hand zu nehmen. Sherrie zählt ein paar Punkte auf, die ihr verwehrt blieben, weil die Angst Überhand nahm: Verabredungen nicht einhalten, Feste absagen, sich nicht in der vertrauten Umgebung von Freunden und Familie entspannen können, vorzugeben, krank zu sein, um dem ersten Schultag nach den Ferien zu entrinnen, …

Es ist genau diese Angst, die meine Kinder  vor allem meine Tochter daran hindert, in der Schule das Potenzial zu zeigen, das sie in sich trägt. Sie kann lesen und schreiben. Aber sie ist so verhaftet in ihrer Angst, zu versagen, oder etwas falsch zu machen, oder vor der Klasse zu stehen, oder sich zu melden und aktiv am Unterricht teilzunehmen, letztlich aber in der Angst, nicht überleben zu können,  dass sie am liebsten unsichtbar sein möchte und verschwinden. Gelingt ihr das in der großen Klasse, ist es gut für sie. Dann kommt sie recht gut durch den Vormittag. Gelingt ihr das nicht und ist sie im Aufmerksamkeitsfokus der Lehrerin, ist sie so blockiert, dass sie fast automatisch vieles falsch macht, was die ohnmächtige Angst erneut befeuert.

Auf Dauer betrachtet, ist es genau diese Angst, die Sherrie beschreibt – und im Amerikanischen macht es der von ihr gewählte Begriff der „gut-level fear“, die Angst, die ganz tief in unserem Bauch sitzt und alles zusammenzieht, so plakativ – die in der Konsequenz zu einem anstrengungsverweigernden Verhalten führt. Nimmt diese Angst überhand, so fühlt es sich an, als wollten wir nur noch um unser Überleben kämpfen.

Vergegenwärtigen wir uns noch einmal ein Bild, dass Bettina Bonus so schön beschrieben hat, wird klar, warum ein Kind im Angesicht dieser Angst nicht mehr der Schule folgen, geschweige denn lernen und arbeiten kann: Stellen wir uns vor, wir laufen durch den Wald und treffen unerwartet auf ein Wildschwein. Wie würden wir reagieren? Im direkten Angesicht der Gefahr zeigen wir drei Reaktionsmuster: 1. Wir bauen uns vor dem Wildschwein auf und brüllen, in der Hoffnung, dass das Wildschwein selbst die Flucht ergreift. 2. Wir nehmen unsere Beine in die Hand und laufen so schnell wie möglich weg. 3. Wir könnten versuchen, mit etwas Futter und zutraulichem Verhalten, das Wildschwein abzulenken. Wenn wir aber spüren, dass diese drei Optionen ausweglos sind, bleibt uns nur 4., starr stehen zu bleiben, in dem Glauben, dass uns das Wildschwein nicht wahrnimmt und weiter seines Weges zieht.

Mit Blick auf das traumatisierte Kind hießen diese vier Reaktionsmuster in der Schule: 1. Das Kind geht in den Angriff, schreit herum, brüllt, geht unter Umständen auf den Lehrer los. 2. Das Kind verlässt fluchtartig den Klassenraum, oder geht erst gar nicht zur Schule, meist unter dem Vorwand, es wäre krank. 3. Das Kind versucht den Lehrer von der eigentlichen Aufgabe abzulenken, wie es meine Tochter zur Perfektion beherrscht. Und 4. – und das ist das häufigste Reaktionsmuster – das Kind dissoziiert im Unterricht, zieht sich zurück und lässt das Geschehen in der Klasse nur noch in einem leisen Grundrauschen an sich vorbei ziehen.

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Wenn manch andere Gespenster sich auch (fast) in Wohlgefallen auflösen…

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Maxim’s neurologische Ausschlussdiagnostik ist weitestgehend abgeschlossen. Nach einem unauffälligen MRT war auch sein EEG Ende der vergangenen Woche ebenso ohne klaren Befund. Der Neurologe im Sozialpädiatrischen Zentrum unserer Stadt mag dies vielleicht noch ein wenig anders sehen – muss er doch auch den wirtschaftlichen Fortbestand des Zentrums mit sichern und wohlmöglich die ein oder andere Therapie für Maxim vorschlagen. Doch physisch ist mein Sohn gesund. Bis auf den verschobenen Halswirbel, den mittlerweile Maxim’s Physiotherapeutin erfolgreich wieder ins rechte Lot bringt. Aber auch er ist nicht die Ursache für die Kopfschmerzen, unter denen mein Sohn leidet. Vielleicht ein wenig, aber nicht ausschließlich.

Nachdem der Kinderarzt uns eine neurologische Ausschlussdiagnostik nahegelegt hatte, und ich mich spätestens bei der Terminvereinbarung mit dem Sozialpädiatrischen Zentrum an alte Zeiten erinnert fühlte, wusste ich eigentlich schon, dass uns das alles nicht weiter bringt. Nicht wirklich. Vielmehr galt es, wieder die alten Register zu ziehen, die uns schon einmal geholfen hatten. Auch wenn ich es nicht wahrhaben wollte, es war wieder Zeit für eine Runde Kunsttherapie. Ich schrieb unserer Kunsttherapeutin, schilderte ihr unsere Situation und bekam sehr schnell einen Termin. Schon nach zwei Sitzungen war Maxim fast wie ausgewechselt.

Ein zwischenzeitliches Diagnostikgespräch bestätigte meine schon lange im Tiefen schlummernden Vermutungen und Befürchtungen. Es war nicht das alte Gespenst der Epilepsie, dass uns nach all den Jahren wieder heimsuchte. Nein, es war der Alarm im Kopf meines Sohnes, der in mehrfach belastenden Situationen in der Schule schon vor den Sommerferien immer wieder losschrillte, und genauso nach den Ferien wieder aktiviert wurde. Und wohlmöglich permanent schrillt!

Die Stimmung und das Lernklima in der Klasse müssen in den vergangenen Wochen aussergewöhnlich laut gewesen sein. Kein Wunder, dass mein Sohn vom Rechenlernstoff nichts, aber auch gar nichts mitbekam. Er konnte die Erläuterungen der Lehrerin nicht verstehen, geschweige denn ihr folgen. Es war einfach viel zu laut in der Klasse. In der Folge saß er vor seinen Rechenblättern und wusste nicht, wo er anfangen sollte. Die Frustration setzte ein und spätestens zu diesem Zeitpunkt ging der Alarm los. Wenn nicht schon längst vorher, weil allein der Lärm in der Klasse ihn überforderte und Maxim das tat, was alle traumatisierten Kinder tun, wenn sie überfordert sind, dissoziieren. Einfach aus der Situation aussteigen, weil sie anders nicht zu ertragen wäre. Von da ab rauschte das Unterrichtsgeschehen nur noch dumpf an ihm vorbei. – Wenn ich mir vorstelle, ich würde im übertragenen Sinne permanent das Geräusch eines Feueralarms in meinem Kopf hören, bekäme ich auch Kopfschmerzen.

Verstärkt wird dieses Gefühl bei meinem Sohn noch, da es unter den Jungen in der Klasse wieder Verschiebungen in den Freundschaften gibt. Unser altes Sorgenkind Leander steht ebenso einmal wieder auf dem Tapet. Maxim würde sich gerne aus dieser ganzen Gruppe, die sich zwar über den vergangenen Winter arrangiert hatte, lösen, doch die anderen lassen ihn nicht gehen. Und mein Sohn ist (noch) nicht stark genug, und hat zu viel Angst vor der eigenen Einsamkeit, um sich selbst aus dieser ungesunden Konstellation zu lösen.

Mit Beginn der Schule nach den Ferien werden wir uns damit auseinandersetzen, wie wir mit dieser Situation umgehen. Dass Maxim’s Kopfschmerzen keine physische Ursache haben, erleichtert auf der einen Seite. Die emotionalen und psychischen Ursachen der Kopfschmerzen aber zu bearbeiten, wird aber ungleich schwerer und langwieriger werden. Die Kunsttherapie werden wir weiter verfolgen. Und sicherlich steht einmal wieder ein Gespräch mit Maxim’s Klassenlehrerin an. Genauso wie wir Maxim weiter Zuhause stärken müssen, neue Freundschaften und Beziehungen einzugehen, und nur die alten Bildungen aufrechterhalten, die ihm gut tun. Und wieder einmal kreisen meine Gedanken zurück zu meiner Idee des Homeschoolings

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Wurzelsuche – ein bewegendes Interview mit Irmela Wiemann

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Photo by Annie Spratt on unsplash.com

Just kurz nach der Veröffentlichung meines Posts in der vergangenen Woche zur Suche nach den „Herzwurzeln“, stieß ich auf ein sehr bewegendes Interview mit Irmela Wieman in der Aargauer Zeitung. In „Das Leid wird unterschätzt: Was illegal adoptierte Kinder durchmachen“ schildert die langjährige Adoptionsexpertin Wiemann, warum die Suche nach den Wurzeln und den leiblichen Eltern für Adoptierte so wichtig ist und welche schmerzhafte und eben traumatisierende Folgen die Trennung vor allem von der leiblichen Mutter hat. Es geht dabei nicht nur um illegal adoptierte Kinder, sondern sehr grundsätzlich um alle adoptierten Kinder. Mehr als ein lesenswerter Artikel….