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„Nothing for sissies…“: Zum Schulstart nach den Ferien

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Mit freundlicher Unterstützung von Fotolia

Ja, wir haben den Start in die Schule gut gemeistert. Und so langsam kommen wir in eine gute Routine. Doch oft musste ich gerade in der ersten Woche nach den Ferien an Sherrie Eldridge’s Post zum ersten Schultag,  wie Adoptivkinder ihn erleben, denken und an die Punkte, die sie so treffend benannt hatte, wie es Adoptivkindern nach den Ferien in einem neuen Umfeld geht.

Vielleicht ist es auch das weinende Kind, das zum Glück nicht meines war, aber mich dennoch, da ich nun im Hort arbeite, tief getroffen und mitgenommen hat und mich noch einmal an einen so behutsamen Übergang in die Schulzeit erinnert, von dem ich hier geschrieben hatte. Das weinende Mädchen war eine Schülerin der ersten Klasse. Für sie war alles neu. Und dann passierte der Super-Gau: Sie hatte sich auf der Toilette eingesperrt und kam nicht mehr raus. Ihr Weinen ging durch Mark und Bein, so dass ich es durch zwei geschlossene Türen hörte und nach dem Kind schaute. Als klar war, dass sie sich eingeschlossen hatte, holte ich die Hausmeisterin, die das Mädchen befreite. Die Betreuerin für die 1. Klasse kümmerte sich dann um das Mädchen und ich glaube, sie wurde dann auch früher abgeholt. Ich wollte mir in meinem Kopf nicht ausmalen, was in meinen Kindern vorgegangen wäre, wäre ihnen das passiert wäre. Oder auch jetzt noch passieren würde.

Meine Kinder leben mit einem gebrochenen Herzen. So habe ich schon geschrieben. Ihr Herz wurde vielleicht gekittet. Aber der Bruch, die Narbe ist immer noch da. Manchmal setzt das Herz aus, oder es läuft nicht so wie es soll und dann passieren die Aussetzer….Bei Maxim ist das in den vergangenen Monaten zweimal passiert. Einmal dachte er, da er mich mit Nadeschda an der Schule nicht fand – wir hatten nur ihre Jacke geholt – und er in seiner Panik mein Auto auf dem Parkplatz nicht erkannte, dass ich tatsächlich mit Nadeschda schon nach Hause gefahren sei. Ein anderes Mal waren wir alle als Familie auf einer Feier. Er wollte noch spielen und hatte nicht auf Richards Aufforderungen zu gehen gehört. Als Richard das Auto anließ – und der Sound ist recht markant – kam unser Sohn mit Panik in den Augen angelaufen und schrie Richard verzweifelt an. Niemals wären wir ohne Maxim gefahren, aber dennoch, es gibt Trigger wie diese, die die alte Wunde wieder aufbrechen lassen.

Traumatisierte Kinder spüren, dass meist das Trauma über Erinnerungsfetzen immer wieder an die Oberfläche des Bewusstsein streben kann, um dort vielleicht aufgelöst zu werden. Dieses Gefühl ist so Angsteinflößend, dass diese Kinder alle ihnen zur Verfügung stehenden Kräfte einsetzen, um das traumatische Erlebnis zurück in das Unterbewusste zu verbannen. Es bleibt bei den Kindern ein Gefühl der permanenten Bedrohung zurück, und sie leben in einem permanenten Angstzustand. In jeder Situation könnten sie wieder diese schmerzliche und verletzende Erfahrung des Traumas machen. So sind sie dauerhaft in Alarmbereitschaft, da sie ständig damit rechnen, wieder verletzt zu werden. Sie sind ständig in Habacht-Stellung, um einer vermeintlich neuen Gefahr begegnen zu können und sich zu schützen. Sie haben permanent das Gefühl, all ihre Kräfte mobilisieren zu müssen, um die Gefahr für ihr Leben bannen zu müssen. Sie leben dauerhaft in dem Gefühl, um ihr Überleben kämpfen zu müssen.

Und das tun sie auch in der Schule. Gerade nach dem Neubeginn nach den Ferien. Maxim hat sich wirklich gut geschlagen. Er ist nun auch nach vier Jahren ein „alter Hase“, weiß, wie die Sachen laufen, wo was ist, auf welches Klo man am besten geht, kennt viele Lehrer und Betreuerinnen im Hort. Er hat die ersten Tage und nun auch Wochen gut gemeistert. Dennoch stelle ich auch bei ihm fest, dass für manche kognitiven Dinge im Moment keine Kapazitäten frei sind. Wir haben in den Ferien viel Rechnen geübt. Neben anderen Themen. Im Moment steht zwar Grammatik und Schreiben auf dem Plan. Aber ich merke, dass alles Rechnen bei ihm weg ist. Das kleine 1 x 1, das er so grandios konnte? Weg. Im Moment braucht mein Sohn gefühlt mehrere Minuten bis er mit der Lösung, die dann nicht immer richtig ist, um die Ecke kommt. Genauso wie andere Fähigkeiten wie etwa die Uhr zu lesen und die Dauer abzuschätzen, wie lange man für etwas braucht. Das ist einfach ausradiert, überlagert von allem neuen, was das vierte Schuljahr nun mit sich bringt.

Es ist gut, dass ich nun im Hort arbeite und beim Mittagessen schon in der Schule bin und somit bei meinen Kindern. Denn Nadeschda ist mir in den vergangenen zwei Wochen mindestens dreimal weinend in die Arme gelaufen, weil irgendjemand sie geärgert hat, sie irgendetwas als ungerecht empfand, oder ihr etwas weh tat. Mit der Theateraufführung in der ersten Woche war sie restlos überfordert, auch wenn sie sie dann grandios gemeistert hat. Aber die Zornesausbrüche zuhause waren durchaus erinnerungswürdig. Es war genauso wie Sherrie es beschrieb: Sie hätte sich am liebsten zurückgezogen, sie hatte Angst, sie glaubte, dass sie das alles nicht schafft, sie fühlte sich wertlos. Sie war die ganze Zeit unter Strom, fühlte das Geräusch in ihrem Kopf, konnte es nicht abstellen. Sie spürte ihr gebrochenes Herz, dass ihr sagte, sie dürfte nicht versagen. Welch ein Kampf für eine so kleine Seele!

Meine Kinder leben mit einem gebrochenen Herzen. Und immer noch und immer wieder gibt es eben diese Momente, in denen ich mich frage, ob es wirklich irgendetwas gibt, was meine Kinder diese Narbe vielleicht vergessen lässt, oder ihnen hilft, mit dieser Wunde zu leben. Wenn das Trauma durchbricht, saugen meine Kinder meine Fürsorge und Zuneigung auf wie ein trockener Schwamm. Ihr emotionales Loch, das die Traumatisierung gerissen hat, ist wie ein Faß ohne Boden, in das nie ausreichend Liebe und Zuneigung hinein fließen können.

Routine und Fürsorge helfen. Ein wenig. Ich bin froh, dass ich im Moment ein Teil der Schule bin und meine Kinder bzw. ihre Emotionen früher abfangen kann. Da kommt Nadeschda, weint ein paar Minuten auf meinem Schoß und dann geht sie auch wieder. Aber dennoch: Ich musste an einen Satz denken, den meine amerikanische Mutter mir zum Älterwerden im Kontext meiner biologischen Mutter schrieb. Und ich könnte ihn gerade so treffend umdichten: „Getting adoptive kids back to school is nothing for sissies.“

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Auf der Suche nach den „Herzwurzeln“ – Biografiearbeit ist so individuell wie jedes Adoptivkind

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Zweimal im Jahr organisiere ich Treffen für Adoptivfamilien. Ich finde das wichtig, diesen Familien eine Möglichkeit zu geben, sich in einem ungezwungenen Rahmen auszutauschen. Meist haben wir an diesen Treffen auch immer wieder einen kleinen Seminarteil zu Adoptionsrelevanten Themen für die Eltern. Sei es über die Zusammenarbeit mit der Schule oder die „Anstrengungsverweigerung“ und der Umgang mit dieser oder über den Umgang mit Wut und Frustration. Eine Adoptivmutter, die regelmäßig zu diesen Treffen kommt, stresst nun seit Jahren das Thema „Biografiearbeit“.  Das wäre so wichtig, und wir Eltern müssten unbedingt daran arbeiten, und die Kinder auch. So ein ganzes Wochenende mit ganz intensiver Biografiearbeit in der großen Runde, natürlich Eltern und Kinder aus unterschiedlichen Perspektiven. Ich habe das immer wohlwollend zur Kenntnis genommen, aber irgendwie traute ich mich nicht dadran. Irgendwie gab es für mich immer wieder einen Störfaktor. Und nun weiß ich auch warum….

Ohne Zweifel Biografiearbeit ist ungeheuerlich wichtig! Adoptivkinder wollen und sollen irgendwann ihren Wurzeln nachspüren, ihre Geschichte und ihre Herkunft kennen, verstehen und einen eigenen Umgang damit finden. Zu schmerzhaft sind die Wunden, die die Trennung von der leiblichen Mutter gerissen haben und zu omnipräsent die Folgen daraus. Ungeachtet der weiteren Lebensgeschichte, wie vielleicht ein Leben in einem Kinderheim oder die kulturelle Entwurzelung durch die Adoption. In der Euphorie der Adoption geht schnell verloren, was ein Kind auch mit seinem neuen Leben in einem anderen Land alles verliert. Ein Bild hat sich in mein Gedächtnis unlösbar eingebrannt: bei einem der Kinderheimbesuche in unserem Adoptionsprozess sahen wir Maxim, wie er mit seiner Gruppe zu einem Spaziergang aufbrach. Deutlich war zu sehen, wie wohl er sich da fühlte. Glücklich winkte er uns damals von der anderen Straßenseite zu. In diesem Augenblick wurde mir zum ersten Mal bewusst, was wir ihm auch alles mit der Adoption nahmen.

Dass Adoptiveltern sich auch intensiv damit auseinandersetzen müssen, wie Biografiearbeit heilsam eingebracht wird, ist genauso unbenommen. Entscheidend ist, das erforderliche Maß an Sensibilität zu haben, offen mit dem Thema umzugehen, sich selbst mit der Rolle der Adoptivmutter auseinandergesetzt und einen friedvollen und demütigen Umgang mit der leiblichen Mutter gefunden zu haben. Neben ein paar praktischen Werkzeugen, wie man gemeinsam mit seinem Adoptivkind, sich über seine Herkunft und seine Wurzeln und den damit verbundenen Gefühlen auseinandersetzen kann. Vor allem Irmela Wiemann hat hier im Deutschsprachigen Raum Großartiges geleistet. Ihre Ratgeber sind mehr als hilfreich und in meinen Augen Pflichtlektüre für alle Adoptiveltern. Lange habe ich ein passendes Kinderbuch zur Herkunfts- und Wurzelsuche vermisst. Auch das hat Irmela Wiemann gemeinsam mit Schirin Homeier mit „Herzwurzeln“ veröffentlicht.

Jannik ist Pflegekind und lebt erst seid ein paar Wochen bei seiner Pflegefamilie. In seiner Klasse lernt er Ayana kennen, die als Baby von ihren Eltern aus Äthiopien adoptiert wurde. Jannik versucht, in seiner Pflegefamilie anzukommen, aber immer wieder wird er von seiner „Blitzwut“, mit Trauer und Schmerz um die Tatsache, dass er nicht mehr mit seiner Mutter und seinen Geschwistern zusammenleben darf, eingeholt. Ayana ist auf der Suche nach ihren äthiopischen Wurzeln. Auch sie kämpft immer wieder mit Wut und Verzweiflung. Als die Bemühungen ihrer Eltern wieder einmal nicht fruchten, ergreift sie selbst die Initiative und schickt ihren Papagei mit einem Brief an ihre leibliche Mutter nach Äthiopien. In ihrem gemeinsamen Leid freunden sich Ayana und Jannik an und finden beide nach einem langen Weg ihre „Herzwurzeln“ in sich und in ihren Familien. Der Geschichte haben Schiri Homeier und Irmela Wiemann erstmals einen Ratgeberteil für Kinder angefügt, in dem nicht nur die Fachbegriffe aus dem Adoptions- und Pflegewesen kindgerecht erklärt werden, sondern genauso die Konzepte und unterschiedlichen Formen von Elternschaft und Familie. Mit wunderbaren Illustrationen gibt sie den Kindern Hilfestellungen für den Umgang mit diffusen Gefühlen wie etwa der „Blitzwut“ oder der Angst vor weiteren Verletzungen, die eingesperrt ist im „Herz mit den zwei Kammern“. Ergänzt wird das Buch um einen weiteren Ratgeberteil für Erwachsene, in dem Herkunftseltern, Adoptiveltern, aber auch Fachpersonal angesprochen werden.

In den Sommerferien habe ich es nun zum zweiten Mal gelesen. In der Hoffnung, dass vor allem auch Maxim vielleicht darauf anspringt. Tat er aber nicht. Obwohl wir, als er kleiner war, schon immer mal das ein oder andere Kinderbuch, in dem das Thema Adoption kindgerecht dargestellt wird, gelesen haben. Obwohl das Thema „Herkunft“ gerade wieder in den vergangenen Wochen wieder sehr präsent ist.

Maxim ist im „Russlandfieber“. Er will russisch lernen, er liest Geschichten über Moskau, er erkämpft sich selbst im Moment das russische Alphabet Buchstabe für Buchstabe. Und am liebsten will er schon morgen nach Moskau fliegen. Kaum kann er es erwarten, dass endlich sein russischer Pass neu ausgestellt ist. Nadeschda hingegen zeigt entweder gar kein Interesse oder vehemente Ablehnung: „Mama, ich will keinen russischen Pass. Der ist nur für die Babys, die daher kommen. Ich brauche das nicht. Und ich will das nicht. Und wenn ich Nein sage, dann heißt das auch Nein. Verstanden?“ Was beiden gemein ist, dass sie keinerlei Regung zeigen, nach ihrer russischen Mutter zu suchen. Maxim will seine russischen Wurzeln kennenlernen, versinnbildlicht mit dem Roten Platz in Moskau. Da will er hin. Aus den Büchern hier zuhause hat er inzwischen nahezu jedes Denkmal und Gebäude, das sich um den Roten Platz formiert, verinnerlicht. Doch weder seine Geburtsstadt, noch das Kinderheim, oder seine biologischen Wurzeln scheinen ihn zu interessieren. Doch bei näherer Betrachtung spürt er, dass er an diese Wunden nicht ran will. Das schafft er noch nicht. Mit seiner doppelten Elternschaft will er sich noch nicht auseinandersetzen. Auch Nadeschda hat das für sich wieder ganz weit unten in ihrem Inneren vergraben, nachdem es im vergangenen Herbst einmal für kurze Zeit aufflammte, aber von außen an sie herangetragen. Und ihre Reaktion damals war deutlich, dass sie sich damit nicht auseinandersetzen wollte.

Da wurde mir noch einmal bewusst, dass Biografiearbeit und das Auseinandersetzen mit der Herkunft ein sehr individueller Prozess ist. Es geht eben nicht nur darum, einen Ratgeber zu lesen, ein Seminar zu besuchen, um dann anschließend ein „Lebensbuch“ mit seinem Adoptivkind zu basteln, ein Bild der leiblichen Mutter zu malen und ihr einen Brief zu schreiben und dann irgendwann, wenn das Kind es wünscht, in sein Herkunftsland zu reisen und möglicherweise die leibliche Mutter zu suchen. Das ist alles wichtig! Und Adoptiveltern brauchen die professionelle Unterstützung und die Impulse, die eben vor allem Irmela Wiemann setzt. Doch danach ist es in meinen Augen ein sehr individueller Prozess, wie die Biografiearbeit zuhause in der Familie gestaltet wird. Sie muss meiner Meinung nach so individuell sein, wie die Lebensgeschichte eines jeden Adoptivkindes und auch so individuell und einzigartig, wie der Umgang des Kindes mit seiner Geschichte ist. Das sehe ich bei meinen eigenen Kindern. Sie haben dieselbe russische Mutter, sie teilen einen Großteil der Geschichte, auch bevor sie zu uns kamen. Aber beide haben einen ganz eigenen Umgang damit. Einen Umgang, der mich eben nicht die Ratschläge wie „Projekte“, wie die Fachliteratur sie vorschlägt, Checklistenartig bei meinen Kindern abarbeiten lässt.

Wie individuell jedes Adoptivkind mit seiner Geschichte umgeht, sehe ich auch in unserem Freundes- und Bekanntenkreis. Manche Adoptivkinder möchten unbedingt zurück in das Kinderheim fahren, aus dem sie kommen. Andere lehnen ihren russischen Namen ab mit der Begründung, sie haben an ihn keine schönen Erinnerungen. Entscheidend ist am Ende, dass wir als Eltern unseren Kindern die Offenheit deutlich zeigen, dass sie mit uns Adoptiveltern über ihre Herkunft und ihre Geschichte sprechen können, dass sie aber das Tempo und den Weg und auch den Inhalt bestimmen. Denn vor allem ist es ihre ganz persönliche Geschichte mit ihren ganz persönlichen traurigen Gefühlen. Einfühlsam und in meinen Augen auch nur ganz privat im Kreise der Familie sollte es den Raum geben, wo unsere Adoptivkinder sich mit ihrer Geschichte auseinandersetzen dürfen, wann und wie sie wollen. Und so, wie es für sie heilsam und gut ist.

 

Informationen zu „Herzwurzeln“:

„Herzwurzeln“

Schirin Homeier und Irmela Wiemann

Mabuse-Verlag GmbH, Frankfurt a.M. 2016

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Heilsam durch den ersten Schultag kommen….

School accessories against blackboard

Mit freundlicher Unterstützung von Fotolia

Am Montag ist es wieder soweit für uns: Nach wunderbaren sechs Wochen Ferien kehren wir zurück an die Schule. Ja, wir sind gut vorbereitet. Und wir haben alles so organisiert, dass wir langsam in den Schulalltag starten. Unsere nachmittäglichen Aktivitäten haben wir zumindest für die ersten zwei Wochen deutlich reduziert. Schon in der letzten Ferienwoche haben wir uns innerlich und in unserer Routine allmählich dem Schulalltag angenähert und haben viele Freunde aus der Schule gesehen, um „alte Kontakte“ wieder aufleben zu lassen. Damit – auch wenn es wohl gewohnt sein mag – nicht alles wieder neu und anders im Vergleich zu dem Ferienmodus in unserer Alltag einprasselt. Die nächste Woche wird zeigen, ob ich gut daran getan habe. Auch Sherrie Eldridge aktueller Beitrag „NAVIGATING FIRST-DAY-OF-SCHOOL EMOTIONS WITH ADOPTED AND FOSTER KIDS“ hat mich darin bestätigt:

Sie erinnert daran, dass Gefühle von Stress und Angst nie aufhören, und sie besonders in Situationen, in denen Neues und Ungewohntes auf ein Adoptivkind einprasselt, immer wieder hoch kommen können. So fühlen sich Adoptivkinder in diesen Momenten:

  • Sie sind alarmiert und in ihrem Kopf dröhnt es, als würde irgendwo ein Feueralarm losgehen. Ich weiß das nur zu gut von meinen Kindern.
  • Sie haben Angst, und am liebsten würden sie flüchten, ganz weit weg.
  • Sie sind traumatisiert, ihr Herz schlägt ihnen bis zum Hals.
  • Sie fühlen sich wertlos.
  • Sie würden sich am liebsten zurückziehen und dissoziieren vielleicht in ihr Innerstes, weil dies der vermeintlich sicherste Ort ist.
  • Sie spüren ihr gebrochenes Herz, denn sie fühlen, das andere wollen, dass sie erfolgreich sind und haben Angst es nicht sein zu können.

All das kommt immer wieder hoch, jedes Mal von neuem. Auch wenn es nicht der allererste Schultag ist. Dessen sollten wir uns als Adoptiveltern bewusst sein, um unseren Kindern den entsprechenden Raum für ihre Gefühle in den ersten Tagen nach den Ferien zu lassen. Ich hoffe, ich gebe meinen Kindern in den kommenden Wochen genau diesen Raum und das Verständnis, ihre Gefühle von Angst, Überforderung und Schmerz zuzulassen.

 

 

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scoyo ELTERN! Blog Award 2018: „Homeschooling für traumatisierte Kinder?“

scoyo-blogward-2018-siegel-bewerberinIn diesem Jahr versuche ich es einmal, und bewerbe mich mit „Homeschooling für traumatisierte Kinder?“ für den scoyo ELTERN! Blog Award 2018. Das Thema des Awards „Nachhilfe und Förderung“ war einfach zu verführerisch, nicht daran teilzunehmen, streiften mich doch in der vergangenen Woche zum ersten Mal Gedanken über eine Abschaffung der Schulpflicht….zumindest für meine Kinder…

Homeschooling für traumatisierte Kinder?

Die 36 Schüler der sechsten Klasse einer Waldorfschule erheben sich zum Morgenspruch. Während alle Schüler ordentlich und mit angespannter Körperhaltung vor ihrem Tisch stehen, erhebt sich der 13-jährige Maxim nur mühsam von seinem Stuhl. Gerade ist er erst noch in den Klassenraum gehuscht, wieder einmal zu spät, wie so oft in den letzten Monaten. Sein T-Shirt zeigt Flecken des Mittagessens vom Vortag, seine Schnürsenkel an den Schuhen sind nicht gebunden. Ungelenk stellt Maxim sich hin. Doch seine Schultern hängen herunter, sein langes Haar hängt ihm im Gesicht und sein Mund ist halb geöffnet. Er wirkt müde und unmotiviert. „Ich schaue in die Welt, in der die Sonne leuchtet…“ Wenn die Blicke des Klassenlehrers ihn streifen, senkt er entweder den Kopf oder dreht sich zu seinem Tischnachbarn. Später wird der Klassenlehrer feststellen, dass Maxim wiederholt keine Hausaufgaben gemacht hat. Sein Heft ist leer. Ihm ist bereits aufgefallen, dass Maxim seit langem abwesend im Unterricht ist, ausweicht, oft fehlt. Viel beteiligt hat er sich am Unterricht in den vergangenen sechs Jahren noch nie. Doch Maxim’s Verweigerung hat jetzt eine neue Dimension. Spricht der Lehrer ihn auf seine nicht erbrachte Leistung an, reagiert Maxim aggressiv und gereizt. Er weicht nicht mehr aus, sondern er droht dem Lehrer mit der Faust. Einmal schon hat er seinen Schultisch umgeworfen. Danach musste er von seinen Eltern abgeholt werden.

Das war das „Horrorszenario“, dass sich in meinem Kopf über die zukünftige Schulkarriere meines Sohnes ausmalte, als Maxim vor ein paar Jahren in die Schule kam und ich merkte, dass trotz liebevoller Woldorfpädagogik und fehlendem Leistungsdruck ich eben nicht der Schule allein die Bildung und die Vermittlung von Kulturfähigkeiten überlassen konnte. Mein Sohn zog sich entweder geschickt aus der Affäre im Unterricht – und als kleiner sechs oder siebenjähriger ist das ja noch süß – oder er war vielleicht physisch in der Schule anwesend, aber der Unterrichtsstoff zog nur rauschend an ihm vorbei.

Wie diejenigen, die meinem Blog regelmäßig folgen, wissen, haben wir unsere Kinder vor etlichen Jahren aus Russland adoptiert. Sowohl Maxim als auch seine kleine Schwester Nadeschda sind aufgrund ihrer Lebensgeschichte, bevor sie zu uns kamen,  frühtraumatisiert. In der Folge zeigte Maxim deutliche Charakteristika eines Anstrengungsverweigerers und – hätten wir dies nicht rechtzeitig erkannt – würde er wohlmöglich das „Vollbild“ eines Anstrengungsverweigerer wie eingangs beschrieben mit Beginn der Pubertät erfüllen.

Das Phänomen der „Anstrengungsverweigerung“

Bei einer Anstrengungsverweigerung geht es um die stetige Verweigerung einer Anstrengung oder Leistung. Tätigkeiten, die das normale bürgerliche Leben erforderlich

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machen, werden vom anstrengungsverweigernden Kind oder Jugendlichen nicht ausgeführt. Typisch ist, dass das betroffene Kind bereit ist, „einen weit höheren Energieaufwand aufzubringen, um eine bestimmte Tätigkeit zu verweigern, als die eigentliche Aufgabe ihm abverlangt hätte.“, so Bettina Bonus, die dieses Phänomen erstmals im Kontext mit Pflege- und Adoptivkindern ausführlich beschrieben hat.

Am deutlichsten tritt die Anstrengungsverweigerung im Kontext der Schule zu Tage. Das beginnt beim morgendlichen Aufstehen und dem Weg zur Schule. Anstrengungsverweigernde Kinder können dadurch auffallen, dass sie stunden-, tage- oder sogar wochenweise den Schulunterricht schwänzen. Andere sind zwar physisch im Unterricht anwesend, bekommen aber vom Unterricht und seinen Inhalten nichts mit. Sie nehmen nicht am Unterrichtsgeschehen teil, entziehen sich unterschiedlichen Aufgaben und umgehen meist Aufgabenstellungen oder Aufträge des Lehrers. Dies zeigt sich nicht zuletzt in schlechten Beurteilungen, doch vor allem schon in leeren oder schlecht geführten Heften, einem unordentlichen Schulranzen und beschädigten oder unvollständigen Schulmaterialien.

Das Phänomen der Anstrengungsverweigerung oder auch Leistungsverweigerung in der Schule tritt allerdings nicht nur bei Adoptiv- und Pflegekindern auf. Folgt man den Medien, so finden sich immer mehr in deutschen Schulen verhaltensoriginelle Kinder aus schwierigen sozialen Gefügen und traurigen familiären Umständen, die immer öfter Zeichen von Leistungsverweigerung zeigen. Schaut man genauer hin, trifft man in vielen Fällen auf traumatische Erfahrungen im Leben dieser Kinder.

Unser Schulalltag mit einem anstrengungsverweigernden Kind

„Ich trage meine Kinder durch das Abitur.“ hatte ich von Beginn an, als die schulische Ausbildung unserer Kinder in unser Leben trat, gesagt. Mehr denn je stehe ich zu dieser Äußerung und bin überzeugt davon, dies als die wichtigste Aufgabe in meinem Mutterdasein zu sehen. Und dies nicht, weil ich davon träume, dass meine Kinder den Nobelpreis einmal bekommen, sondern allein um sie überlebensfähig zu machen und sie in die Lage zu versetzen, einmal ein eigenständiges Leben zu führen. Um so leichter fällt mir das natürlich, wenn ich eine pädagogische Ausbildung habe, noch dazu eine, in der meine Kinder auch in der Schule erzogen werden. Es ist mehr als förderlich, wenn ich die Unterrichtsinhalte kenne, und hier genauso tief einsteigen kann, um meinen Kindern Zuhause zu helfen, mit ihnen passend mehr zu üben. Denn aufgrund ihrer traumatischen Lebensgeschichte und der daraus resultierenden Anstrengungsverweigerung brauchen meine beiden Kinder mehr Hilfe und Unterstützung als andere. Das Wissen und das Können fliegen ihnen nicht einfach zu. Manchmal steigen sie aufgrund einer schnellen Überforderung im Unterricht aus. Sie dissoziieren, bekommen vom Unterrichtsgeschehen nicht mehr mit. Sie sind in einer anderen Welt, aus der sie erst wieder mit Verlassen des Schulgebäudes auftauchen. Das ist ihre Überlebensstrategie, wenn ihnen alles zu viel wird. Die Lücken, die diese Dissoziationen reißen, muss ich Zuhause füllen. Genauso können sie nicht mit Leistungsdruck umgehen, dann fühlen sie sich bedroht. Können sie sich diesem Druck nicht entziehen, greifen sie an. Nur wenn sie sich einer Sache sicher sind, spüren sie diesen Druck nicht, nur dann gehen sie durch den Schulalltag als ruhige zufriedene Kinder. Auch deshalb müssen wir Zuhause viel arbeiten, damit sich meine Kinder ihrer Sache sicher sind.

In den vergangenen vier Jahren sind wir durch viele Höhen und Tiefen gegangen. Denn das tägliche Üben, das zwischen einer und drei Stunden oder mehr dauern kann, ist jedem Tag von neuem eine Herausforderung. Auch wenn die Anstrengungsverweigerung uns manchmal schon wie eine alte Freundin vorkommt. Manchmal läuft alles gut, dann kommen wir gut durch unseren Stoff. Es wird fleißig gerechnet, inzwischen schöne Aufsätze geschrieben oder ordentlich gelesen. An anderen Tagen passiert irgendetwas – Maxim meint, dass er etwas nicht kann – und die Wut sucht uns heim. Manchmal hat sie uns dann für Stunden im Griff. Erst wird Papier zerknüllt, Stifte fliegen durchs Zimmer oder sie kritzeln mit voller Wucht über das Papier  Mein Sohn brüllt herum, schreit, schlägt um sich, manchmal wirft er seinen Stuhl um. Am Ende verfällt er meist einfach nur noch in ein verzweifeltes Weinen, aus dem er sich erst nach über einer Stunde wieder beruhigt. Erst dann können wir weiter arbeiten. Vielleicht….

Sklavische Routine und tägliches „Arbeiten“ zahlt sich aus

child little girl with glasses reading a books

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Mit der Zeit sind diese Szenarien zum Glück deutlich weniger geworden. Die Intervalle zwischen den wütenden und verzweifelten Zusammenbrüchen werden immer größer. Nur gelegentlich, vor allem in Phasen, in denen ein neuer Unterrichtsstoff eingeführt wird, kann es zu überraschenden Leistungseinbrüchen und damit einem Wiederaufladen der Anstrengungsverweigerung Zuhause kommen. In diesen Ferien haben wir – auch wenn ich komisch angeschaut werde, dass wir auch in den Ferien jeden Tag arbeiten – große Fortschritte gemacht. Kein zerrissenes Papier, keine Gegenstände flogen durch das Zimmer, alle Möbel bleiben stehen, und die Lautstärke blieb auch auf einem normal erträglichen Niveau. Das Geheimnis ist nicht nur die sklavische Kontinuität des täglichen Üben und Arbeitens, sondern all dies ist eingebettet in einen feste Struktur und Routine, die meine beiden Kinder so sehr brauchen. Denn nur das gibt ihnen Sicherheit. Und wenn sie sich sicher fühlen, dann haben sie innerlich Kapazitäten frei, um Lesen zu lernen, Schreiben zu üben, schön zu formulieren, sich zu erinnern, was wir am Vortag gemacht haben, und dies in einem schönen Text zu Papier zu bringen; dann können sie sich konzentrieren, um im Kopf das 1 x 1 vielleicht auch durcheinander zu rechnen. All das hat auch dazu geführt, dass mein Sohn inzwischen den eigenen inneren Wissensdurst spürt, und sich nun zum ersten Mal selbstständig Dinge erarbeitet. So sitzt er manchmal stundenlang über seinen Büchern zu Kristallen und Mineralien, liest, schreibt auf und katalogisiert seine eigenen Kristalle. Für meine Tochter könnte ich ähnliche wunderbare Entwicklungsfortschritte anbringen.

Homeschooling für traumatisierte Kinder?

Das tägliche Arbeiten für die Schule ist anstrengend. Für meine Kinder und für mich. Vor allem in der Schulzeit, wo eh das Pensum der Hausaufgaben nicht immer gering ist, wo oft Zeitdruck entsteht, da es ja noch andere Hobbys und Freizeitaktivitäten gibt, ich einen Job habe und meine Kinder vielleicht auch noch ab und zu ihre Freunde treffen möchten. Schule ist ohnehin grundsätzlich belastend. Nicht nur der Unterricht, sondern auch das Ganze drum und dran in diesem riesigen sozialen Gefüge einer Klasse. Gerade für meine Kinder sind die Stunden in der Schule extrem anstrengend, aufreibend und Kräfte zehrend. Streit, Ungerechtigkeiten, ein lauter Ton der Lehrerin, Abweichungen von der täglichen Schulroutine, weil ein Lehrer krank ist, nehmen meine Kinder ganz anders auf. Das nimmt sie mehr mit, damit können sie schlecht umgehen, damit sind sie überfordert.

Wenn ich mir die Entwicklung meiner Kinder in den vergangenen Jahren ansehe – und vor allem jetzt noch einmal mit der frischen Entwicklung in den Ferien, wo wir uns sechs Wochen lang in einem stressfreien Raum bewegt haben -, dann begeistern mich die riesigen Fortschritte und der inzwischen (meistens) entspannte Umgang mit dem Arbeiten, Lernen und Üben. Das geht so viel leichter, wenn wir nicht täglich in die Schule gehen. – Und man darf bei unseren Kindern nicht vergessen, dass wir uns in der vermeintlich heimeligen Waldorfwelt ohne all den Notendruck und Leistungsdruck bewegen. Ich mag mir gar nicht ausmalen, wie es wäre, wenn wir an einer Regelschule wären. – Manchmal habe ich schon in den vergangenen Tagen gedacht, ob es nicht viel besser wäre, wenn ich meine Kinder Zuhause selbst unterrichten würde. Es mag vermessen klingen, aber dass sich die Kulturfähigkeiten wie Rechnen, Schreiben und Lesen bei meinen Kindern in den vergangenen Jahren verfestigt haben, ist maßgeblich auf unsere Arbeit Zuhause zurückzuführen.

Natürlich bin ich mir dessen bewusst, dass wir zum einen in der privilegierten Lage sind, dass ich die Zeit und auch mittlerweile die pädagogische Ausbildung habe, um dies zu tun. Ich weiß, dass dies in vielen Familien nicht gegeben ist. Deshalb denke ich auch nicht über eine grundsätzliche Abschaffung der Schulpflicht nach. Zu vielen Kindern wäre dann der Zugang zu Bildung grundsätzlich versagt. Und nicht alle Familien schaffen es, ihren Kindern Zuhause ein lernendes Umfeld zu bieten. Zum anderen bin ich mir bewusst, dass Kinder im schulischen Umfeld auch noch so viel anderes lernen, über das Schreiben, Lesen, Rechnen hinaus. Soziale Kompetenzen, gesellschaftliche Regeln, Zusammenarbeiten in der Gruppe, Rituale, etc. Das kann ich meinen Kindern hier Zuhause nur in einem gewissen Rahmen bieten. Insofern bin ich mir der Grenzen des „Homeschooling“ durchaus bewusst. Wenn ich mir allerdings vergegenwärtige, welche Belastung der schulische Kontext nach wie vor für meine Kinder ist, und ich auf der anderen Seite weiß, dass ein umhüllendes, fürsorgliches und friedliches Umfeld so wichtig für die Heilung und das Heranwachsen meiner traumatisierten Kinder ist, dann mag das Modell eines Unterrichts Zuhause in meiner Wunschvorstellung doch überwiegen. Zumindest für die ersten vier bis sechs Schuljahre.

Am Ende weiß ich, es wird ein Wunsch bleiben und wir werden weiter unseren Weg in der Realität der Schule finden. Aber wünschen kann man sich ja mal was….

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Mehr als eine Beinprothese – Über die besonderen Bedürfnisse von Adoptivkindern

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Photo by Kelly Sikkema on unsplash.com

Vor einigen Monaten hatte Sherrie Eldridge wieder einmal einen bewegenden Beitrag auf ihrem Blog veröffentlicht: In „ BECOME YOUR ADOPTED/FOSTER CHILD’S CHEERLEADER IN ADOPTIONS’ OLYMPICS“  schildert sie, wie Adoptivkinder immer das Gefühl haben werden, anders zu sein und irgendwie eingeschränkt, als würde etwas fehlen. Das Bild der Beinprothese, die ihnen hilft, durchs Leben zu kommen, steht symbolisch für ein sicheres Netz aus fürsorglichen Eltern, Freunden, Familie, etc. Und sie schildert dann sehr ausführlich und hilfreich, welche besonderen Bedürfnisse Adoptivkinder haben und wie wir Eltern sie erfüllen können.

Ich habe lange über dieses Bild nachgedacht. Das Bild von Sherrie ist plakativ und ihr Beitrag hat wieder etwas bei mir bewegt. Ja, sie hat so Recht: Adoptivkinder sind Kinder mit besonderen Bedürfnissen aufgrund der Verluste, die sie erlitten haben. So ist das auch bei meinen Kindern. Beide sind auf ihre Art High-Need Kinder. Nach wie vor und immer noch. Auch heute noch brauchen sie so unendlich viel Fürsorge, können nach wie vor mit Veränderungen schlecht umgehen, Gefühlsausbrüche sind immer ein Stück intensiver, Grundbedürfnisse müssen sofort befriedigt werden, ansonsten scheint es, als hätten sie Angst um ihr Leben. (In ihrer Wahrnehmung ist das auch so, und damit ist es mehr als verständlich.) Sie brauchen eine besondere Begleitung in der Schule, wo nichts so alt ist, wie der Erfolg von gestern. Kann Maxim an einem Tag das große Einmaleins, ist nicht gegeben, dass er es am nächsten Tag noch vollständig erinnert. Kann Nadeschda an einem Tag nahezu flüssig einen Text lesen, bringt sie am nächsten Tag die Buchstaben nicht unbedingt in der richtigen Reihenfolge zusammen. Die Liste der Bedürfnisse erscheint manchmal unendlich…

Mir kommt es manchmal so vor, als würde eine „Beinprothese“ gar nicht ausreichen, um die emotionalen Bedürfnisse meiner Kinder zu erfüllen. Mir erscheint es, als würden sie trotz „Beinprothese“ immer wieder stolpern. Stolpern über die seelischen Verletzungen, die die Traumatisierung des Verlustes ihrer russischen Mutter und der Erfahrungen in ihren ersten Lebensjahren gerissen hat. In meinen Augen leben meine Kinder mit einem gebrochenen Herzen. Das wurde vielleicht gekittet. Aber der Bruch, die Narbe ist immer noch da. Manchmal setzt das Herz aus, oder es läuft nicht so wie es soll und dann passieren die Aussetzer….Da bricht bei dem einen Kind der Überlebensmodus durch, der sich mit der Traumatisierung bei ihm im tiefsten Inneren eingebrannt hat, und aus dem er nur schwer wieder herauskommt. Das andere Kind wird überrollt von unbeschreiblichen und tief schmerzenden Verlustängsten, die kaum auszuhalten sind. Da braucht es dann unermesslich viel Zuneigung und Liebe, noch mehr Verständnis, unendliche Ruhe, Gelassenheit und vor allem Geduld, die Wut und die Trauer und den Schmerz, die dann herausbrechen, auszuhalten, zu trösten, zu beruhigen. Meine Kinder saugen in diesen Momenten meine Fürsorge und Zuneigung auf wie ein trockener Schwamm. Ihr emotionales Loch, das die Traumatisierung gerissen hat, scheint manchmal wie ein Faß ohne Boden zu sein, in das nie ausreichend Liebe und Zuneigung hineinfließen können. Und immer noch und immer wieder gibt es Momente, in denen ich mich frage, ob es wirklich irgendetwas gibt, was meinen Kindern hilft, mit dieser Wunde und bleibenden Narbe zu leben. Wird es irgendwann einen Zeitpunkt geben, an dem sie mit ihrer Geschichte und mit den daraus gebliebenen Narben umgehen können?

Vielleicht kommt das erst mit einem zunehmenden Alter, wenn Maxim und Nadeschda größer werden. Bei Nadeschda ist es immer noch eine diffuse Wut, die immer wieder hochkommt, oder die Trauer um ihre verlorene Kindheit und Babysein. Doch sie ist noch zu klein, um ein Bewusstsein für ihre Emotionen zu haben. Dennoch beginnt auch sie zu merken und zu erkennen, dass sie manchmal anders ist. So fragte sie mich neulich: „Warum müssen die anderen Kinder nicht so viel für die Schule üben?“, um dann fortzufahren: „Ja, wenn wir das Zuhause üben, dann kann ich das schon, und dann fällt es mir in der Schule leichter.“ Auch bei Maxim zeigt sich eine spannende Entwicklung: So wie Sherrie es beschreibt, kommen auch bei ihm mit zunehmendem Alter die Emotionen, aber diesmal bewusst. Er weiß und spürt nun, dass er traurig ist und um sein Herkunftsland trauert. Er kann das benennen. Dann können wir damit arbeiten, darüber sprechen. So wie wir viel über Russland lesen und Bildbände anschauen, eine Reise planen. Während Maxim’s Klassenlehrerin erst kürzlich zu mir sagte, wie gut sich Maxim entwickelt hat und wie gut doch beide Kinder hier angekommen sind, um so mehr spüre ich, dass es eben alles nicht normal ist. Im Gegenteil, je älter meine Kinder werden, um so mehr erleben sie bewusst und spüren, dass sie anders sind. Was sie bisher als diffusen Schmerz, Wut und Trauer erlebt haben, bekommt für sie langsam ein Gesicht und einen Namen. So verändern sich auch ihre Bedürfnisse, bzw. nein, die Urbedürfnisse als High-Need Kinder bleiben. Nach wie vor brauchen sie unumstößliche Sicherheit und eine klare Struktur, unabdingbare Verlässlichkeit, bedingungslose Liebe, Geduld, Fürsorge und ein stetiges Überbehütet sein. Doch hinzukommen nun viele der von Sherrie adressierten besonderen Bedürfnisse im Umgang mit der Geschichte ihrer Adoption.

Wohlmöglich ist am wichtigsten die Erkenntnis, dass vor allem für meine Kinder ihre Adoption ein lebenslanger Weg ist. Ihre Adoption ist eben nicht ein „Projekt“, das irgendwann abgeschlossen ist. Es ist kein Thema, das irgendwann abschließend behandelt ist. Es ist eine Lebensreise, auf der ich meine Kinder ein großes Stück begleite und so für sie da bin und ihre Bedürfnisse versuche zu erfüllen, dass sie irgendwann in der Lage sind, mit den Narben ihrer frühkindlichen Verletzungen auch alleine leben zu können.

Oder, um auch wiederum mit Sherrie’s Worten zu sprechen: Gerade weil Adoption eine Lebensreise ist, ist es ein Weg voll Hoffnung und Zuversicht, den Schmerz, die Trauer und die Wut ganz gewiss irgendwann einmal hinter sich zu lassen.

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Adoptivkinder heilsam durch den Sommer bringen….

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Photo by Craig Whitehead on unsplash.com

Den unglaublich bereichernden Blog von Mike und Kristin Berry „Confessions of an Adoptive Parent“ hatte ich schon zu Beginn diesen Jahres entdeckt. Der Blog und vor allem auch ihre Bücher, vor allem Kristin’s „Born Broken“, haben mich zutiefst berührt. Als Adoptiveltern von insgesamt acht, ja ACHT, Adoptivkindern schreiben sie und engagieren sie sich ungemein für das Wohlsein von Adoptivkindern aber eben auch von Adoptiveltern. So hat erst einer der jüngsten Beiträge von Mike Berry „5 Tips to Help You Navigate Summer Break With Success“ mir noch einmal die Augen über die Ferien geöffnet, über Ferien mit Adoptivkindern.

Lange hatte ich für uns die Ferien herbeigesehnt. Und ja, ich bin auch sehr froh und dankbar, dass sie da sind. Aber nun bin ich mir auch einmal wieder bewusst, warum hier nicht alles einfach geschmeidig läuft und es bis zu einer wirklichen Entspannung noch ein langer Weg ist. Mike beschreibt die Folgen des Verlustes von Struktur sehr deutlich. Gut, in den USA ist das Ferienmodell noch einmal krasser als hier. Denn dort ist man mit drei Monaten Sommerferien mehr oder weniger konfrontiert, nachdem vorher über neun Monate eine streng durch die Schule vorgegebene Struktur herrschte. Der Schnitt ist groß. Bei uns etwas weniger krass. Denn wir haben unsere Ferien gut über das Jahr verteilt. Dennoch, sechs Wochen Sommerferien heben zunächst einmal auch alle Struktur aus den Angeln. Es sei denn, man schickt seine Kinder gleich in die nächste Ferienbetreuung. Maxim hat dies drei Jahre lang gemacht. In diesem Jahr war er so am Rande seiner Kräfte, dass ich beschloss, ihn in der ersten Ferienwoche zuhause zu lassen. Kein Ferienzirkus von neun Uhr morgens bis fünf Uhr abends. Sondern vorerst gähnende Langeweile Zuhause… Und das ist genau das, was er jetzt braucht. Dennoch, bis ich Mike’s Beitrag vor ein paar Tagen las, war ich mir – nicht mehr – der Tatsache bewusst, dass der Wechsel in den Ferienmodus so anstrengend sein kann. Nicht nur unbedingt für die Kinder und dann doch vor allem für sie, aber eben auch für uns Adoptiveltern. Wenn ich auf die vergangenen zwei Tage zurückblicke, dann ist es so. Die Launen brechen durch, die Kinder streiten sich, noch mehr als ohnehin in den vergangenen Wochen, Nadeschda ist am Rande ihrer Nerven. Allein, dass ich mit Maxim in den Garten gehe und sie unsere Ankündigung nicht hört, löst bei ihr einen minutenlangen Weinkrampf aus. Verlustangst! Wieder da und mehr präsent als je zu vor oder lange nicht mehr. Maxim ist auf Krawall gebürstet. Mehr als ohnehin schon in den letzten Wochen, damit dann sein Verhalten vollständig kippt, wenn wir abends ins Bett gehen und er sich beim Vorlesen an mich kuschelt wie lange schon nicht mehr.

Struktur und Routine

Meine Kinder sind ihrer bisherigen Struktur enthoben und die neue hat noch nicht gegriffen. Denn wie Mike schreibt, entgegen vieler Familien haben wir auch in den Ferien eine Struktur und einen Rhythmus, eine feste Routine. Bis wir wieder in die Schweizer Berge fahren – und auch dort haben wir dann eine Routine – , arbeite ich weiter halbe Tage zuhause. Die Kinderfrau kommt und unternimmt mit den Kindern etwas oder bastelt und spielt mit ihnen zuhause. Jeden Tag zur selben Uhrzeit, damit sich eine tägliche Routine einstellt. An unseren Nachmittagen haben wir unsere feste Struktur. Üben, für die Schule arbeiten und dann unternehmen wir drei etwas schönes. Heute waren wir zum ersten Mal Himbeeren Pflücken. Danach wie immer zur gleichen Zeit Abendbrot und unser Schlafensritual. Doch auch das muss sich erst wieder einspielen. Denn wie Nadeschda heute zurecht bemerkte: Dienstags war ich in den vergangenen zwei Jahren abends nicht da, um meinen Kinder ins Bett zu bringen. Jetzt bin ich es. Meine Tochter bemerkte sehr treffend heute, dass doch bitte die Routine eingehalten werden muss und es eigentlich nicht sein kann, dass ich sie ins Bett bringe. Das macht einmal mehr deutlich, wie wichtig Routine und Rhythmus für diese traumatisierten Kinder sind. Selbst, dass ich sie nun als ihre Mutter wieder ins Bett bringen kann, zählt weniger, als die schwer gelernte Routine „Mama ist dienstags nicht da.“

Kleine Dosen

Nein, keine Blechdosen. Sondern, eher in unserem Sprachjargon „weniger ist mehr“. Nicht bis zum Letzen das Spielen ausreizen, nicht bis zum Letzten einen Besuch strapazieren, nicht bis zur absoluten Erschöpfung einen Besuch in einem Freizeitpark ausdehnen. Nein, weniger ist wirklich mehr. Und genauso betrifft das das Tagesprogramm eines Adoptivkindes. Wir hatten den Fall mit den Zirkusvorstellungen und dem Laiervorspiel vor den Ferien. Und jetzt ist es, wenn der Papa sagt: „Ach wir könnten doch noch….“, dann lasse ich das mal so stehen und am Ende bin ich froh, wenn die Kinder nur friedlich im Garten gespielt haben und wir keine große Fahrradtour mehr gemacht haben, sondern einfach einmal Zuhause waren. Und die Langeweile, die müssen beide Kinder aushalten lernen. Spätestens, wenn wir in zehn Tagen in der Schweiz sind, liegen die Kinder und ich auf dem Bett oder im Garten in der Sonne, lesen und sind einfach glücklich. Auch ohne großes Entertainment…

Kein oder wenig Zucker

Gut, das spielt muss ich sagen, bei uns eh kaum eine Rolle. Weder im Schulalltag, noch in den Ferien. Denn schon lange weiß ich, dass vor allem bei Maxim der Hang zu Süßem groß ist, seine Laune aber bei zu viel Zucker auch schnell kippt. Hohen Dosen an Zucker deregulieren sein Verhalten und seine Launen maßgeblich. Manchmal ist es, als sei er nicht mehr Herr seiner Sinne. Nadeschda ist da ein wenig anders. Süßigkeiten reizen sie kaum, es sei denn es ist dunkel Schweizer Schokolade. Aber alles andere lässt sie liegen.

Verbindung statt Verbesserung

Für diesen Impuls war ich besonders dankbar. Anstatt meine Kinder zu fragen, was los ist, und warum sie sich so schwierig verhalten, sollte ich sie lieber fragen, wie ich ihnen helfen kann, was sie in diesem Moment brauchen, in dem es ihnen gerade schlecht geht, weil sie einmal wieder von ihrem alten Trauma übermannt wurden und nur noch im Überlebensmodus agieren. Das gilt eigentlich immer im alltäglichen Zusammenleben, doch vielleicht noch mehr in den Ferien, wo eine gewisse Haltlosigkeit und Veränderung des bestehenden Alltags den Überlebensmodus nur noch befeuert.

Interaktionen den Vorrang geben

Aktive Aktivitäten – im Gegensatz zu passiven Aktivitäten wie Filme schauen, Videospiele spielen, etc. – sorgen dafür, dass sich traumatisierte Kinder besser fokussieren und regulieren können. Passiver Medienkonsum ist eher Gift. Nicht zuletzt weil wir ohnehin erkannt haben, dass über einen hohen Medienkonsum die Gedächtnisleitung unserer Kinder negativ beeinträchtigt ist, ist bei uns der elektronische Medienkonsum stark reguliert. Maximal zweimal in der Woche und das auch nur, wenn am nächsten Tag keinen Schule ist, dürfen sie 30 bis 45 Minuten einen Film sehen. Das Konzept „Fernsehen“ haben sie bis heute nicht richtig begriffen. Für unsere Kinder funktioniert das nur, wenn man eine kleine silberne Scheibe in einen DVD-Spieler einschiebt. Auch in den Ferien oder gerade da. Viel wertoller ist es da, zusammen im Garten zu arbeiten, Beeren pflücken zu gehen, zu basteln, schwimmen zu gehen, zusammen zu kochen, oder lange vorzulesen. Am liebsten auch gegenseitig. Maxim und ich lesen zum Beispiel im Moment ein Buch über Moskau vor, mit einem Bildband daneben, in dem wir uns dann die Baudenkmäler und Statuen ansehen, über die wir vorher gelesen haben.

In diesem Sinne, kommt alle wohlbehalten durch den Sommer!