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Mehr als Manipulation, es geht um’s Überleben – Anstrengungsverweigerung ist kein gezieltes, absichtliches Verhalten

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Photo by Patrick Fore on unsplash.com

Viel beschäftige ich mich gerade einmal wieder mit den Folgen von Frühtraumatisierungen und welchen Einfluss diese auf das Lernverhalten von Kindern haben. Mir schwirren wieder die Situationen mit meinen Kindern auch den Kopf: Nadeschda versucht augenscheinlich, von den Übungsaufgaben abzulenken, in dem sie mir von 38 Begebenheiten in der Schule erzählt, die gerade ja so viel wichtiger sind. Im Rechenförderunterricht verwickelt sie die Lehrerin in ein Gespräch und dabei geht erfolgreich unter, dass sie ja eigentlich die Stufen im Treppenhaus zählen soll. Beim Zahlen zerlegen wickelt mich Nadeschda erfolgreich um den Finger, in dem sie anstatt die Zahlen zu überschlagen, auf Englisch zählt. Maxim starrt beim Üben Löcher in die Luft, oder spielt lieber mit seinen Stiften. Seine Buntstifte sind immer aussergewöhnlich gut gespitzt, Beim Trompete üben gibt er gerne seinem Vater „Privatkonzerte“. Klar, dann fällt nicht unmittelbar auf, dass er die Stücke, die er eigentlich üben soll, gar nicht gespielt hat. Genauso gehen mir meine eigenen Ausrufe und die anderer befreundeter Adoptivmütter auch den Kopf, wenn es einmal wieder schwierige und vielleicht sogar eskalierte Hausaufgabensituationen gab: „Da hat er (oder sie) einmal wieder erfolgreich die Köpfchen bei mir gedrückt.“ 

Das alles suggeriert Absicht und bewusste Manipulation. Klar, aus einer seelischen Not heraus geboren. Dass es aber weder das eine noch das andere ist, wurde mir erst wieder bewusst, als ich einen der letzten Blogbeiträge von Mike Berry von confessionsofanadoptiveparent las. In „Her behavior isn’t manipulation, it’s survival!“ schildert er sehr eindrucksvoll und plakativ, warum ein wie auch immer geartetes anstrengungsvermeidendes Verhalten eben gar keine geplante und beabsichtigte Manipulation oder Ablenkung sein kann.  

Sehr vereinfacht dargestellt (und mit Sicherheit wissenschaftlich betrachtet nicht ganz korrekt), passiert etwa das Folgende: Das Großhirn ist verantwortlich für das rationale Denken – und damit Handeln, das Verarbeiten von Informationen und Wissen, das logische Denken, vorausschauende Planung und Struktur. Das Limbische System ist verkürzt gesagt das emotionale Zentrum des Gehirns. Hier spielen sich auch die schützende Prozesse von Flucht oder Kampf ab. In der Amygdala  sind alle vitalen Funktionen und damit der natürliche Selbsterhaltungstrieb des Menschen angesiedelt. Sie verarbeitete externe Impulse und leitet daraus die vegetativen Reaktionen ab. In der Regel ist das Großhirn der dominierende Teil, der das limbische System und die Amygdala kontrolliert und steuert. Fühlt sich ein traumatisiertes Kind allerdings bedroht und lebt ohnehin aufgrund der traumatischen Erfahrungen in einem dauerhaften Zustand von Stress und Erregung, dann kontrolliert nicht mehr das Großhirn seine internen Prozesse und reguliert seine Gefühle und Reaktionen. Es ist ausgeschaltet, und allein das limbische System und die Amygdala übernehmen. Das Verhalten, was dann ein traumarisiertes Kind zeigt, ist allein von Emotionen gesteuert und der archaische von jeder Hemmung befreite Kampf ums Überleben ist aktiviert. 

Insofern kann es gar keine Absicht oder geplante Manipulation sein, oder ein Verhalten, was gezielt und „strategisch“ darauf abzielt, einer Situation aus dem Wege zu gehen, oder eine Anstrengung in welcher Form auch immer zu vermeiden. Das wären ja Vorgänge im Großhirn. Doch dies hat in Stresssituation vor dem Einfluss von limbischem System und Amygdala kapituliert. Jegliches rationale und abwägende Denken ist in diesen Momenten ausgeschaltet. Allein der Kampf ums Überleben steht im Vordergrund. Und dafür ist – verständlicherweise – jedes Mittel recht.  

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Die Sonne scheint immer… irgendwie….

happy family with kids walk at sunset beach

Mit freundlicher Unterstützung von Fotolia

Gerade im Moment dürfen wir ein wenig durchatmen. Aber nur ein wenig, denn die nächsten Schwierigkeiten mit der Schule zeichnen sich ab. Neue Schwierigkeiten mit der Schule. Nicht erwartete. Und auch wenn ich mich noch so an der Schule engagiere, habe ich gelernt, dass es dann doch einen Punkt gibt, an dem auch dort, selbst in dieser vermeidlich heilen Waldorfwelt, die sie schon längt nicht mehr ist, und die Lehrer wenig auf die Schwierigkeiten, die die Kinder mitbringen – nicht meine Kinder, sondern auch die anderen – vorbereitet geschweige denn geschult sind, meine Kinder irgendwann keine Sonderrolle mehr haben. Da ist es dann nicht mehr selbstverständlich, dass man von Seiten der Schule sagt: „Ja, klar wir schaffen das.“ Nein, da sind wir dann einem Punkt, wo wir Eltern wieder für Lösungen sorgen müssen. Wieder und wieder. Tun wir ja auch. Aber dazu mehr an anderer Stelle.

Auch wenn wir uns, was die Gesundheit unserer Kinder angeht, etwas entspannen können, so hält doch die Belastung an. Denn neue Herausforderungen erwarten uns. Das ist hart und schwierig. Und manchmal denke ich durchaus – und sitze abends heulend auf dem Sofa -: „Das ist alles so unfair.“ Unfair vor allem für meine Kinder. All das, was wir in den vergangenen Wochen durchgemacht haben, das braucht keiner, vor allem kein Kind. Und erst recht nicht ein Kind, das schon so vieles in seinem Leben durchlitten hat. Manchmal denke ich: „Kein Wunder, dass Nadeschda oft für mindestens ein Jahr jünger gehalten wird, als sie ist. Denn in den knapp eineinhalb Jahren bevor sie zu uns kam, hat sie nur überlebt. Und das teilweise wahrscheinlich unter widrigsten Umständen. Da hat sie alles andere hinten angestellt. Sie ist nicht gewachsen, sie hat nicht zugenommen, sie hat bestimmte Basisfunktionen, die ein Baby, das behütet aufwächst nicht gelernt. Wie auch? Geschweige denn den natürlichen Willen sich zu entwickelnd und zu lernen. Sie musste einfach nur überleben. Wieviel Kraft das gekostet hast? Alle, alle Kraft, aber wirklich alle Kraft, die ihr zur Verfügung stand. Und sie hat überlebt. Und das ist die wahre Leistung!“

Um so erleichternder fand ich dann einen Beitrag wieder einmal von Michael von Confessionsofanadoptiveparent, wo er ebenso von einem harten Tag schreibt und am Ende aber zu dem Schluss kommt: „Die Sonne scheint immer.“ Ja, sie mag versteckt sein hinter dunklen, grauen und manchmal sogar schwarzen Wolken. Aber eigentlich ist sie immer da. Und sie scheint IMMER. Nur können wir das eben an manchen Tagen nicht sehen. An diese Sätze denke ich in den letzen Tagen sehr oft. Ja, da draußen dreht die Sonne ihre Runden im Universum. Und sie ist immer da. Es sind nur die grauen und schwarzen Wolken, die sich manchmal (oder auch öfter) vor sie schieben. Aber am Ende scheint die Sonne. Immer…

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Sprachversuche mit Waisenkindern – Eine schockierende Geschichte, die mich beschäftigt

Wann immer ich etwas über Waisenkinder höre oder lese, wird sofort eine tiefe Betroffenheit in mir wach. Ich kann mich nicht dagegen wehren. Auch wenn diese Geschichten keinen persönlichen Bezug haben und schon lange in ihrer Zeit zurückliegen. Diese hier hat mich immer wieder in den vergangenen Tagen beschäftigt. Ich muss sie teilen, um von hier weiter schreiben zu können:

Kaiser Friedrich II wollte zu Beginn des 13. Jahrhunderts die ursprüngliche Sprache der Menschheit herausfinden. Deshalb ließ er einige neugeborene Kinder ihren Müttern wegnehmen und von Ammen und Pflegerinnen versorgen. Sie gaben den Kindern Milch und sorgten für ihre körperliche Hygiene. Aber es war ihnen verboten, mit den Kindern zu sprechen. So wollte Kaiser Friedrich herausbekommen, welche Sprache diese Kinder als erstes sprechen würden, die ihrer Eltern, oder die hebräische, die damals als die älteste Sprache galt, oder die griechische oder die lateinische. Doch der Versuch scheiterte. Denn alle Kinder starben. Denn ohne sprachliche Zuwendung und Zuneigung, ohne eine Resonanz kann kein Kind überleben.

Natürlich mag das aus sprachtheoretischer Sicht hochgradig spannend sein. Mich hat es in erster Linie betroffen gemacht. Denn es erinnert mich an ein Stück aus der Lebensgeschichte meiner Kinder. Eine Zeitlang waren sie in einem Kinderheim, bevor das Schicksal sie zu uns brachte. So gut sie dort auch versorgt waren, es mangelte nichtsdestotrotz an Zuwendung und individueller Begleitung und Fürsorge. Das gibt der  Alltag im Kinderheim einfach nicht her, egal wie bemüht die Erzieherinnen sein mögen. Meine Kinder haben das überlebt. Ihr Kampfgeist und Überlebenswille hat sie durch diese Zeit hindurch getragen. Nur so konnten sie weiter ihren Lebensweg gehen, der sie zu uns geführt hat. Diese Stärke berührt mich. Sie ist ein Teil meiner Kinder. Sie gehört unwiederbringlich zu ihnen. Denn das hat ihnen in einer kritischen Phase, wo sie eigentlich klein und hilflos waren, das Leben gerettet. Ich sollte mir dieser Stärke bewusst sein, gerade wenn ich einmal wieder die negativen Auswirkungen dieses Kampfgeistes zu spüren bekomme.