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Nachdem ein paar Tage seit dem „Angriff auf das Urvertrauen“ ins Land gezogen sind, überlegen wir auf der einen Seite, wie wir weiter mit dieser Situation umgehen werden. Das Wochenende war nicht leicht. Und auch wenn Maxim in der Schule scheinbar selbstbewusst auftritt, so nagt der Schmerz in ihm tief drinnen. Sicherlich werden wir noch einmal mit Maxim’s Klassenlehrerin sprechen und die Schule in solchen Situationen mehr in die Verantwortung nehmen. Für uns steht im Moment allein der Schutz und das Stärken unserer Kinder, vor allem unseres Sohnes im Vordergrund. Auf der anderen Seite sehe ich mit etwas Abstand, dass dieser Zwischenfall etwas von einer Lernerfahrung auf einer anderen Ebene für Maxim hat.
Als Maxim die Vorklasse besuchte hatte er mit einem aus Russland stammenden Jungen in seiner Klasse große Schwierigkeiten. Nicht in den aggressiven Dimensionen wie mit Leander, aber auch hier gab es verbalen Missbrauch und Handgreiflichkeiten, über Monate hinweg. Maxim nahm das damals sehr mit. Er reagierte mit Bauchschmerzen und sich häufenden Fällen, in denen er es nicht rechtzeitig auf die Toilette schaffte. In dieser Zeit bearbeitete Maxim gleichzeitig sein Trauma der kulturellen Entwurzelung in der Therapie. Seine Therapeutin sagte damals zu mir, dass dieser russische Junge natürlich auch spürte (ohne es benennen zu können), dass er bei Maxim einen wunden Punkt traf und es eine „Schwachstelle“ gab, die Maxim angreifbar und verwundbar machte. Maxim half damals, dass ich mit der Klassenlehrerin sprach, er viel mit anderen Kindern außerhalb der Schulgemeinschaft spielte, und er sich gegenüber diesem Jungen abgrenzte, indem er ihn mit den Worten „Meine Mama will das nicht, dass Du zu meinem Geburtstag kommst.“ nicht zu seinem Geburtstag einlud. Gleichzeitig fand Maxim in der Therapie zu einem ersten Umgang mit seiner russischen Herkunft und seinem Leben, bevor er zu uns kam. Von da ab war Ruhe zwischen den zwei Jungen. Monate zogen ins Land. In der ersten Klasse dann fanden die zwei Jungen auf einer ganz anderen Ebene zusammen und sind heute gut befreundet. Ein wenig schien es, als hätte Maxim in der Konfrontation mit seinem russischen Klassenkameraden auch noch einmal seine russische Herkunft bearbeitet.
Wenn ich mir die Auseinandersetzungen mit Leander mit etwas Abstand betrachte, und die Aggression und Brutalität ausblende, so sehe ich Parallelen zu dieser Konfrontation von vor etwa zwei Jahren. Leander’s soziales und familiäres Umfeld ist geprägt von Vernachlässigung, er reagiert darauf mit einem stark autonomen Verhalten. Letztendlich verkörpert er in gewissen Zügen das Leben, das unser Sohn leben musste, bevor er zu uns kam. Widrige soziale Lebensverhältnisse, eine Mutter, die sich nicht richtig kümmern kann, die Notwendigkeit autonom zu sein, um zu überleben. (Natürlich hat das bei einem neunjährigen andere Qualitäten als bei einem zweijährigen, dennoch die Parallelen sind vielleicht gegeben.) Vielleicht ist es also nun auch so, dass der Konflikt mit Leander auf einer anderen Bewusstseinsebene für Maxim noch einmal die Auseinandersetzung mit der früheren Phase seines Lebens, in der er selbst vernachlässigt und zu einem stark autonomen Verhalten gezwungen war, verkörpert. Wie damals der russische Junge, spürt Leander, dass Maxim in sich einen wunden Punkt trägt, an dem er angreifbar und verletzlich ist. Und auf der anderen Seite heute Maxim all das verkörpert, was Leander nicht hat. Denn Maxim hat heute eine Mutter und einen Vater, die sich um ihn sorgen und sich um ihn kümmern, die seine Hilferufe hören und ihm helfen und für ihn da sind. So könnte wohlmöglich dieser Konflikt für Maxim – und für uns als seine Familie – auch die Chance bedeuten, ein weiteres Trauma seiner frühen Kindheit zu verarbeiten und hinter sich zu lassen.