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Mehr im Einklang mit meinen Adoptivkindern (1) – Nadeschda

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Mit freundlicher Unterstützung von unsplash.com

Wenn der Druck meiner eigenen Überforderung nachlässt, lichtet sich der innere Nebel und der  Blick wird frei auf das, was wirklich wichtig ist. Wieder mehr im Einklang mit meinen Kindern zu sein, scheint das Thema dieser Woche zu sein. Erleuchtend war dabei ein Artikel einer amerikanischen Adoptivmutter zu „Attuning to Family Harmony“. Alex Chase schildert dort, wie sie mit mehr Achtsamkeit für das Verhalten ihres Adoptivsohnes zu mehr Harmonie im Familienalltag fand. Und allen voran stellt sie die Aussage, dass Adoptivkinder über ihr Verhalten sagen, was sie ertragen können und was nicht. Zeichen der Überforderung sind immer deutlich zu erkennen.

Nadeschda geht seit diesem Sommer in die Schule. Manchmal war ich versucht, mir einzureden, dass der Wechsel nicht so eklatant für sie ist, wie für ihren großen Bruder. Denn sie kannte das Schulgebäude, sie kannte die Abläufe, sie kannte ihre Lehrerin, wir waren oft gemeinsam in der Mensa essen, damit sie auch dieses Umfeld kennenlernt und erfährt, sich dort zurecht zu finden. Dennoch, die Veränderung ist groß für sie und fordert sie sehr. Sich im neuen Schulalltag zurecht zu finden, ist ein enormer Kraftakt für sie. Das habe ich nun verstanden. Sie hat es mir durch ihr Verhalten deutlich vor Augen geführt.

In den ersten Schulwochen lief alles noch am Schnürchen. Nadeschda ging gerne in die Schule, doch genauso freute sie sich, wenn ich sie abholte. Da ich wusste, dass nach dem Mittagessen eine weitere Betreuung am Nachmittag zu viel für sie sein würde, hatte ich uns alle nach den Ferien so organisiert, dass die Kinder zwar beide noch in der Schule essen, ich sie aber vor der Nachmittagsbetreuung abhole. Je länger der Schulalltag voranschritt, um so öfter zeigte sich bei Nadeschda, dass sie am Nachmittag zunehmend anhänglich wurde. Umso mehr verwundete es mich, als sie auf einmal in der Abholsituation mittags in der Schule immer öfter forderte, doch noch länger bleiben zu dürfen. Bis zu dem Punkt, dass sie sagte, sie wolle auch in die Nachmittagsbetreuung gehen. Das Schulgelände verließ sie nur unter Protest. Das hielt mehrere Tage an. Bis zu einem Mittag in der vergangenen Woche: Wieder wollte sie länger spielen, wieder konnte sie sich schwer von der Schule lösen. Ich liess sie noch ein paar Minuten spielen. Doch sie geriet in Streit mit zwei Klassenkameradinnen. Und auf einmal brach alles in ihr zusammen. Sie weinte nur noch verzweifelt, tobte erst, weil sie nicht nach Hause gehen wollte, schrie und schlug um sich, bis sie nur noch bitterlich auf meinem Schoß weinte und jammerte: „Ich will nach Hause, Mama.“ Bis zu diesem Satz hatten wir fast eine Stunde auf dem Schulhof gesessen.

Wieder musste ich an den Artikel denken. „If he couldn’t leave a birthday party, without a rage, he wasn’t ready to go in the first place.“ Ja, wenn Nadeschda den Schulhof nach dem Mittagessen nur unter Protest verlassen konnte, dann war der Zeitpunkt überschritten für sie. Dann war es einfach zu viel. Auch wenn sie mir verbal etwas anderes sagte. Erneut wurde mir bewusst, wie wichtig es in dieser Zeit ist, langsam zu machen, viel Ruhe in unserem Alltag walten zu lassen und meine Kinder erst einmal in ihrem neuen Lebensabschnitt ankommen zu lassen. Denn meine Kinder zeigen in ihrem Verhalten, was sie brauchen, nicht in ihren Worten.

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Wenn alles zu viel wird – von Veränderungen, Überforderungen und Lernen, langsam zu machen

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Abends sitzen Richard und ich zusammen bei einem Glas Wein. Ich erzähle vom Tag und was ein Gespräch mit Maxims Therapeutin ergeben hat. Noch immer haben wir ein Thema mit Maxims mangelnden Bereitschaft, für die Schule zu lernen und Hausaufgaben zu machen. Ja, auf der einen Seite ist es die Tatsache, dass er nicht mit Leistungsdruck   umgehen kann. Auf der anderen Seite bin ich mir dessen bewusst, dass er gerade eine Phase durchlebt, in der er noch einmal mit seinem frühkindlichen Trauma der Trennung von seiner russischen Mutter konfrontiert ist. Da regt es sich wieder, das fehlende Urvertrauen, der Überlebenstrieb, das Streben nach absoluter Autonomie. Üben und Hausaufgaben machen sind Formen von Disziplin. Die lehnt er ab. Vehement. Wir haben also wieder ein Bindungsthema. Daran müsste auch in Maxims Therapie gearbeitet werden. So war meine Idee. Doch Maxims Therapeutin hatte vorgeschlagen, im Zweifelsfall zusätzlich noch einmal eine Lerntherapeutin zu kontaktieren.

Bei diesen Worten brauste Richard auf: „Was sollen wir denn noch alles machen? – Das ist mir jetzt gerade alles zu viel. Zu viele Termine. Zu viele Informationen. Wie soll das denn alles weitergehen? Mit Deiner Ausbildung, Deinem ehrenamtlichen Engagement, den ganzen Terminen der Kinder, Ballett, Fussball, Musikschule, Schwimmen, Therapie. Und jetzt auch noch eine Lerntherapeutin.“ Ich halte kurz inne und stutze. „Warum regst Du Dich so auf? Es ist doch mein Programm, was ich irgendwie organisieren muss.“ denke ich, sage es aber lieber nicht. „Was machst Du Dir einen Kopf um unsere Organisation? Bis heute brauchst Du Dich darum nicht zu kümmern. Ich bin doch diejenige, die morgens um sechs aufsteht und abends kaputt vom Tag ohne einen Moment der Ruhe ins Bett fällt. Ich schaue, dass alle Termine und Freizeitaktivitäten der Kinder irgendwie so funktionieren, dass sie noch ein wenig Luft und Raum haben, um zu spielen. Und im Übrigen, ich muss mich ja dann mit der Lerntherapeutin auseinandersetzen und Maxim da hin begleiten, und mit ihm arbeiten.“ Doch anstatt etwas zu sagen, schlucke ich lieber meine Gedanken herunter.

Dennoch seit diesem Gespräch nagt wieder das Gefühl der Überforderung in mir. Ja, es ist viel, zu viel in den letzten Wochen. Wir befinden uns wieder in einer Phase des Übergangs. Nadeschda ist in diesem Sommer in die Schule gekommen. Maxim hat einen neuen Klassenlehrer bekommen. Das war so nicht geplant, aber die alte Lehrerin war für die Schule nicht mehr tragbar gewesen. Das sind zwei große Veränderungen, die meine Kinder sehr beschäftigen. Nadeschda muss eine Beziehung zu ihrer neuen Lehrerin aufbauen, neue Freunde suchen, sie muss sich im Schulalltag zurecht finden, sie muss sich an neue Abläufe gewöhnen. Welch ein Kraftakt für das kleine Mädchen. Auch Maxim muss sich erneut an andere Abläufe, einen anderen Unterricht, an eine neue Bezugsperson gewöhnen und trauert immer noch um seine alte Lehrerin. Nur weil wir Eltern sie für untragbar hielten, heißt das ja nicht, dass die Kinder sie schlecht fanden und nicht mochten. Beide Kinder reagieren auf diese Veränderungen so unterschiedlich wie Tag und Nacht. Während Nadeschda so anhänglich ist, dass ich manchmal das Gefühl habe, dass sie mich mit Haut und Haaren aufsaugt und auszehrt, geht Maxim in die Ablehnung und Konfrontation. In seinem Autonomiebestreben lehnt er jede Disziplin und jede Struktur, die von mir kommt ab. Und gleichzeitig sind seine Ablehnungen auch immer wieder tagtägliche Beziehungsanfragen. „Hält sie mich? Bleibt sie da, wenn sich alles andere außen herum verändert? Hält sie mich aus? Wie weit kann ich gehen?“ Das kostet unendlich viel Geduld, Gelassenheit, aber auch Energie und Kraft. Dorothea Weinberg beschreibt in ihrem Buch „Verletzte Kinderseele“ (Link zu Literaturliste) als eine Übung für Eltern die imaginäre Treppe, die man heruntergehen soll, eh man auf eine Provokation seines Kindes reagiert. Ich bin viel Treppe gelaufen in den vergangenen Wochen.

Ich kann meine Kinder gut verstehen. Denn auch ich spüre, dass ich mich im Grunde mit Veränderungen schwer tue. Oder genauer gesagt, mit diesen Phasen des Übergangs, wenn das Alte noch nicht abgeschlossen ist, das Neue aber schon voll in das Leben hineindrängt, es einen Alltag gibt, der unverändert weiterläuft und doch so etwas wie eine neue Routine noch fehlt. Dann türmt sich alles zu einem riesigen Berg auf, vor dem man steht und nicht weiß, wie man ihn bewältigen soll. Mein Kopf ist so schwer von all den Dingen, die ich abarbeiten muss. Ich habe mein altes Arbeitsverhältnis beendet, doch eine finale Einigung gibt es noch nicht. Der Umbau meines neuen Büros geht nicht so schnell voran, wie ich es geplant hatte. Alles zieht sich, zäh wie alter Kaugummi.  Gleichzeitig habe ich eine Weiterbildung begonnen, die mir wunderbare neue Perspektiven eröffnen kann. Aber es macht mich unzufrieden, dass ich mich ihr noch nicht so widmen kann, wie ich das gerne möchte. Daneben kostet unser ganz normales alltägliches Familienleben viel Zeit und Organisation. Maxim hat angefangen, Trompete zu spielen und im Schulzirkus ist er aufgenommen worden. Zwei Aktivitäten mehr. Eigentlich müsste er dafür etwas anderes sein lassen. Aber wie immer fällt ihm der Abschied von etwas Altem schwer. Unsere Kinderfrau ist zu wenig flexibel für unseren neuen Schulalltag. Eine neue Betreuerin muss her, aber woher? Ja, und dann noch das Thema mit der Lerntherapeutin. Und, und, und, und….

In einem ruhigen Moment wird mir klar, dass ich langsamer machen muss, Dinge weglassen muss, mir nicht noch mehr Kleinkram aufhalsen sollte. Ich muss nicht die Wäsche aus der Schule waschen und bügeln, ich muss nicht gleich zwei Beiträge für eine Gemeindezeitung schreiben, ich muss nicht zu jeder Elternbeiratssitzung gehen.  Jetzt mit Einzug des Herbsts soll es ruhiger werden. Mara hat so einen schönen Post  dazu geschrieben, über Vorlesen und wunderbare Kinderbücher, aber auch buntes Laub, Kastanien, Eicheln sammeln, die Nachmittage im Wald verbringen. Ich habe dieses Bild vor meinem inneren Auge, mit Maxim und Nadeschda an einem kühlen Herbsttag in den Wald zu ziehen, Berge von Kastanien und bunten Blättern zu sammeln und wenn die Dämmerung einzieht, bei einer Tasse warmen Kakao auf der Couch gemütlich vorzulesen. Das ist es doch, was zu dieser Zeit im Vordergrund steht. Und für alles andere kommt dann eine andere Zeit.

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5. Juni -Zeit für mich

Erneut ermuntert durch das Gespräch mit Frau Schiffer, habe ich begriffen, dass meine Kinder um so mehr eine Mutter brauchen, die in sich ruht und mit sich selbst im Einklang steht. Es ist nicht gut, wenn vor allem mein Sohn auf eine Mutter trifft, die nicht nur unglücklich über die Herausforderungen aus dem äußeren Umfeld ist, sondern darüber hinaus noch unzufrieden mit sich selbst.

Schon mit der Vorbereitung der Taufe und der Organisation des Adoptivfamilientreffens hatte ich gemerkt, dass mir neben meinen Aufgaben als Mutter etwas fehlt, das mir einen Ausgleich bietet. Zudem muss ich mich aus dem Teufelskreislauf befreien, ständig das Gefühl zu haben, viel leisten und tun zu müssen, um zufrieden zu sein. Der Berg an Sachen, die unbedingt erledigt werden müssen, wird nie kleiner. Es wird immer etwas zu tun geben, und es wird immer etwas geben, was mich davon abhält, eben diesen Berg abzuarbeiten. Meine einzige Chance ist, einfach jeden Tag von neuem für ein zwei Stunden diesen Berg zur Seite zu schieben. Mich frei von diesem Druck zu machen und mich stattdessen dem zu widmen, was mir innere Ruhe bringt. Das versuche ich jetzt.

So habe ich begonnen, in meinen Mittagspausen jeden Tag eine halbe Stunde zu meditieren und zu lesen. Bücher, die mir Spaß machen, die mich seicht unterhalten. An den zwei Nachmittagen, an denen Andrea inzwischen regelmäßig Maxim und Nadeschda betreut, mache ich wieder Sport. Ich gehe viel laufen. Es fühlt sich jedes Mal ein Stück weit so an, als liefe ich zu mir selbst. Richard unternimmt inzwischen beinahe jeden Sonntag etwas mit Maxim und Nadeschda gemeinsam in der „späten Väterrunde“, wie sie sich getauft haben. In diesen Stunden, in denen ich alleine Zuhause bleibe, widme ich mich meinem selbst geschaffenen Berg an Dingen, die ich glaube, neben dem Alltag so dringend tun zu müssen. Ich dokumentiere unsere Adoption in einem Fotobuch, ich schreibe Tagebuch für meine Kinder, ich bereite die nun anstehenden zweiten Entwicklungsberichte für die russischen Behörden vor, ich treffe letzte organisatorische Vorbereitungen für das Anfang Juli stattfindende Adoptivfamilientreffen.

Seitdem ich mich so bewusster um mich selbst kümmere, geht es mir langsam besser. Ich merke, dass ich innerlich ruhiger werde, dass ich mich wohler fühle. Ich habe den Eindruck die Zeit bewusster zu leben, und nicht mehr von einer Erledigung zur nächsten zu hetzen. Ich kann mir eher zugestehen, dass ich als Mutter so gut bin, wie ich bin. Ich darf auch einmal aus der Haut fahren, das ist in Ordnung. Manchmal habe ich noch ein schlechtes Gewissen, wenn ich die Nachmittage, an denen Andrea auf Maxim und Nadeschda aufpasst, „ganz egoistisch“ allein für mich nutze. Es fällt mir schwer, loszulassen und meine Kinder in ihre Obhut zugeben, nur um mich um mein eigenes Wohlergehen zu kümmern. Doch danach ausgeruht und freudig den restlichen Nachmittag mit Maxim und Nadeschda zu verbringen, und deutlich weniger müde und gereizt zu sein, zeigt mir, wie wichtig es ist, bewusst Zeit für mich ganz allein zu haben. Ich habe das wissentlich und unwissentlich viel zu lange vernachlässigt. Nun habe ich langsam das Gefühl, wieder zu mir zu finden.