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Ankunftstag – ein magisches Datum für Adoptivkinder?

happy family with two kids walking at sunset

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In seiner neuen Serie „Tea with Teens“ philosophieren Mike Berry’s Töchter mit ein paar Freundinnen über die Frage: „Do you like celebrating Adoption Day?“ Die Haltung und die Gedanken der vier Mädchen geben noch einmal einen interessanten Einblick, wie Adoptivkinder im Teenager-Alter mit ihrer Adoption umgehen. Mich hat der kurze Film noch einmal zum Nachdenken gebracht. Denn ein Satz ist mir beeindruckend hängen geblieben. Da sagt die eine Tochter sinngemäß: „Warum sollen wir den Tag der Adoption immer wieder feiern. Ja, Geburtstage wiederholen sich jedes Jahr. Aber die Adoption ist doch nur einmal und dann war es das.“

Auf der einen Seite musste ich wieder einmal an Sherrie Eldridge denken. Ihr Buch „Twenty Things Adopted Kids Wish Their Adoptive Parents Knew“ hatte ich bereits gelesen, bevor Maxim und Nadeschda zu uns kamen. Ein entscheidendes Thema ist dort auch der Umgang mit dem Adoptionstag – oder wie die Amerikaner es nennen „Gottcha Day“. Mag es für uns Adoptiveltern ein freudiges Ereignis sein; endlich wird der lageersehnte Traum war und unser Kind kommt endlich nach Hause zu uns und wir können es nun endlich und für immer in unsere Arme schließen. Ja, vielleicht ein Grund zu feiern und sich jedes Jahr von neuem daran zu erinnern. Aber für Adoptivkinder ist dieser Tag ein trauriges Erlebnis. Mehr noch, im Grunde ist es für sie der traurigste Tag in ihrem Leben. Sie haben alles verloren, was ihnen vertraut war. Sie sind in eine neue, fremde Umgebung mit fremden und unbekannten Personen platziert worden. Sie haben Angst vor dem Unbekannten und Ungewissen. Warum soll dies ein freudiges Ereignis sein? 

In diesem Bewusstsein haben wir bis heute nie den Adoptionstag oder den Abholtag oder den Ankunftstag von Maxim und Nadeschda gefeiert. Aus all diesen besonderen Daten für uns als Familie erinnern wir uns leise und still, in vertrauter Runde immer an den Tag, an dem wir vor inzwischen so vielen Jahren Maxim und Nadeschda zum ersten Mal begegnet sind. Dies ist der Tag, an dem wir als Familie alleine etwas besonderes unternehmen, uns die alten Bilder aus dem Kinderheim anschauen und erzählen, wie das alles damals so war. Aber wir feiern kein großes Fest, es gibt keinen Kuchen und kein Feuerwerk. Vielmehr ist es ein stilles Innehalten in Dankbarkeit und Demut. Denn ja, der Abholtag und der Ankunftstag in Deutschland waren auch für unsere Kinder keine schönen Ereignisse. Wenn ich zurückdenke, erinnere ich mich an die Angst, die Maxim hatte, und an Nadeschda’s leises Weinen in der ersten Nacht in Moskau im Hotel.

Doch wieder einmal zeigt sich bei uns, dass unsere Kinder mit der Zeit ihren ganz eigenen Umgang mit ihrem Adoptionstag finden: Maxim’s sehnlichster Wunsch war es, einen Familienring zu haben, so wie Richard und ich einen Ehering tragen. Den bekam er. An der Innenseite sind seine Initialen bei Geburt mit seinem Geburtsdatum eingraviert, ebenso wie seine Initialen, die er mit der Adoption bekam. Spannend war die Diskussion mit ihm, welches Datum wir zu den „neuen“ Initialen dazu gravieren lassen. Mein Sohn hatte da eine klare Haltung: „Mama, der Tag, an dem ich zu Euch gekommen bin.“

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23. Juli – Danke

mother and two kids walking on at sunset

In ein paar Tagen jährt sich die Ankunft von Maxim und Nadeschda, meiner Kinder. Ein ganzes Jahr, zwölf Monate, 52 Wochen mit vielen Höhen und einigen Tiefen liegen hinter uns. An vielen unsere Momente und Erfahrungen aus diesem ersten Jahr als Adoptivfamilie habe ich Euch teilhaben lassen. Es hat mich sehr berührt, wie viele hier mit gelesen, mit gefiebert, mit gefühlt haben. Dafür danke ich Euch von Herzen! Es hat mich bestätigt, dass es richtig ist, was ich mit diesem Blog angefangen habe. Und deshalb dies gleich vorab: Es wird weitergehen!

Mittlerweile sind vier weitere Jahre sind  gemeinsam mit unseren Kindern vergangen. Wir haben uns als Kleinfamilie nach den Höhen und Tiefen des ersten Jahres gefunden, sind in unserem Familienalltag angekommen. Hinter uns liegen unzählige wunderbare Tage mit Maxim und Nadeschda. Das Gefühl „Das sind unsere Kinder!“ ist zur Normalität geworden. Die Adoption und unsere Geburtswehen als Familie liegen weit zurück.

Mit vielen Umwegen, Abzweigungen, vielen Höhen und Tiefen haben wir in diesen Jahren unseren Weg gefunden, der uns in den kommenden Jahren leiten wird. Wir werden weiter als Familie zusammenwachsen. Wenn ich auf die vergangenen Jahre zurückblicke und innehalte, so breitet sich ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit aus, Dankbarkeit für meine Kinder und für all das, was ich bisher durch sie und mit ihnen habe lernen dürfen.

Den Wahnsinn des ganz normalen Familienalltags zu ertragen und lieben zu lernen; die Verantwortung, zwei Kinder mit besonderen Bedürfnissen auf ihrem Weg groß zu werden zu führen und zu begleiten; meinen Kindern die Nähe und das Verständnis zugeben, die sie brauchen, manchmal bis zur eigenen emotionalen Selbstaufgabe; als Paar und als Familie zusammenzuhalten, wenn das Umfeld einen alleine lässt; zum Experten zu werden, wenn es um die richtige medizinische oder therapeutische Behandlung der eigenen Kinder geht; Vorurteile zu überwinden, um die bestmögliche Begleitung und Förderung für Maxim und Nadeschda zu finden; das Bewusstsein und das Selbstvertrauen zu haben, allein zu wissen, was meinen Kindern gut tut. Über die Jahre habe ich verinnerlicht, dass die emotionalen Amplitudenausschläge meiner Kinder um ein Vielfaches höher sind als bei leiblichen Kindern. Oft sind sie ein „Fass ohne Boden“, deren Bedürfnisse nach Nähe und Sicherheit nie gestillt zu werden scheinen. Gängige Erziehungsmethoden werden niemals funktionieren. Und die Entwicklung meiner Kinder ist selten „normal“. Sie werden immer ein „Mehr“ brauchen. Mehr Halt, mehr Sicherheit, mehr Verlässlichkeit, mehr Fürsorge, mehr Zuneigung. Und absolute bedingungslose Liebe.

Zum ersten Mal spüre ich, dass ich in meiner Rolle und Aufgabe als Mutter – als Adoptivmutter – angekommen bin. Maxim und Nadeschda den Himmel zu geben, nach dem sie sich strecken, ist meine Lebensaufgabe. Ich habe diese Bestimmung angenommen. Nach vier Jahren habe ich das Gefühl, dass ich dieser Herausforderung gerecht werden kann. Viel ist passiert in diesen vergangenen Jahren, die mich haben in meinen Erfahrungen wachsen lassen. Es gibt viele Themen rund um das Adoptivmutter sein, aber auch Mutter sein und Kinder in das Leben hineingeleiten, die ich in meinem Kopf und meinem Herzen bewegt habe. Einiges davon möchte ich Euch hier weitergeben. Insofern werde ich diesen Blog fortsetzen, doch in etwas anderer Form ab dem Herbst. Bis dahin dürft Ihr Euch in den Sommermonaten auf ein paar Kolumnen und „Sommergedanken“ von mir freuen.

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23. April – Die Taufe

Kreuz mit Blumen

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„Als Du geboren wurdest, war ein regnerischer Tag. Aber es war nicht wirklich Regen sondern der Himmel weinte, weil er einen Stern verloren hatte.“ Das Zitat aus „Der Kleine Prinz“ passte so gut zu unserem Tag der Taufe: „Als ihr getauft wurdet, war ein regnerischer Tag. Aber es war nicht wirklich Regen, sondern der Himmel weinte, weil er zwei Sterne verloren hatte.“ So etwa könnten wir Maxim und Nadeschda von ihrer Taufe später erzählen.

Das Wetter tat dem großen Tag jedoch keinen Abbruch. Am Morgen fand der Taufgottesdienst in der Kirche statt, in der Richard und ich vor etlichen Jahren geheiratet hatten. Der Pfarrer sollte Recht behalten mit seinen Worten, dass Kirchen auf Kinder eine unheimliche Faszination ausüben. Als der Gottesdienst begann, saß Maxim andächtig neben mir. Bei den Liedern machte er alle Bewegungen, die der Pfarrer vorgemacht hatte, nach. Am Ende beim letzten Lied stand er dann mit ihm vor dem Altar und dirigierte die Taufgesellschaft. Die Taufe selbst ließen beide Kinder still und gelassen über sich ergehen. Alles in allem war es ein wirklich schöner Gottesdienst. Es hatte sich ausgezahlt, dass ich selbst so viel Zeit und Engagement in die Vorbereitung gesteckt hatte. Alle Gäste hatten eine Rolle. Da wir nicht die singkräftigste Taufgesellschaft waren, hatten zwei Kinder kleine musikalische Einlagen vorbereitet, auf der Geige und auf der Gitarre. Das war sehr schön und sehr feierlich. Wiederum vermissten wir Renate schmerzlich. Wie gerne hätte sie doch die Taufe von Maxim und Nadeschda erlebt. Eine alte Schulfreundin von Richard las ihr Gebet an ihrer statt und zündete mit dem Pfarrer eine Kerze für sie an. Ein stiller trauriger Moment. Doch wir spürten, dass Renate uns aus dem Himmel wohlwollend zuschaute. In unseren Gedanken war sie mit bei uns.

Die anschließende Feier fand im Hotel einer Freundin statt. In ihrem Restaurant hatten Richard und ich ebenfalls unser Hochzeit gefeiert. Als wir dort ankamen, spielten alle Kinder miteinander. Es war faszinierend zu beobachten, wie selbstverständlich unser Kinder mit den anderen spielten, und die großen Kinder sich um die kleinen kümmerten. Kaum, dass der Regen nachgelassen hatte, stürmten alle Kinder raus auf den Spielplatz des Hotels. Dass alle Kinder so harmonisch und friedlich zusammen spielten und unsere Kinder sich so wunderbar integrierten, lag sicherlich mit daran, dass sich alle schon kannten und vor der Taufe mehrere Male gesehen hatten. Wir Erwachsenen genossen das gute Essen und die Gesellschaft von lieben Freunden. Ein wenig machte sich bei mir das Gefühl breit: Vielleicht ist dies unsere „neue“ Familie. Einfach eine Hand voll guter Freunde. Was brauchten wir mehr?

Die Taufe war ein beschauliches, schönes, harmonisches Fest, ein friedlicher unaufgeregter Tag im Kreise von engen, lieben Freunden. Genau richtig für die Stimmung, in der wir vier als Familie waren. Im Nachhinein war es gut, dass mein Vater und seine Familie nicht dabei waren. Ihre Anwesenheit hätte unsere Nerven sehr strapaziert. Sie wären in diesem Kreise eher ein Störfaktor gewesen, der die Erinnerung an diesen Tag mehr getrübt hätte als der Regen, der vom Himmel fiel. Wenn ich ehrlich war, vermisste ich meinen Vater, und vor allem seine Familie nicht. Im Gegenteil, ich war erleichtert, dass meine Stiefmutter keine Rolle mehr in meinen, in unserem Leben spielte, dass sie sich selbst aus unserem Universum katapultiert hatte. Jetzt da die Wut und die Trauer über die Ereignisse aus den letzten Monaten langsam nachließen, machte sich langsam Zuversicht in mir breit. Alles – selbst Renates Tod – hatte seinen Grund gehabt. Langsam fügte sich unser Leben als Familie zu dem zusammen, wie es das Schicksal für uns bestimmt hatte. So wie wir vor einem Jahr in Russland beschlossen hatte, dass wir nun die Eltern von Maxim und Nadeschda werden.

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5. März – Tapetenwechsel

Vor zwei Stunden sind wir von Katharina zurückgekehrt. Stille senkt sich langsam über unser Haus. Richard ist gerade mit Maxim und Nadeschda vom Bad ins Kinderzimmer verschwunden und begeht das allabendliche Milch- und Vorleseritual. Ich nutze die Gelegenheit, die balsamartige Erholung der letzten zwei Tage für die Ewigkeit festzuhalten, bevor uns morgen der Alltag wieder umarmt und in seinen Zangengriff nimmt.

Wer hätte gedacht, dass meine erste Reise mit Maxim und Nadeschda alleine so entspannt verlaufen wird. Nach unseren Erlebnissen auf der Fahrt in den Skiurlaub war ich auf alles vorbereitet. Und dann war es wie im wirklichen Leben: Wenn man einen Regenschirm dabei hat, regnet es nicht. Schon die Autofahrt verlief im wahrsten Sinne des Wortes friedlich und still. Denn kaum waren wir eine halbe Stunde unterwegs schliefen beide Kinder für fast zwei Stunden. Wäre da nicht der Stau kurz vor unserem Ziel gewesen, hätten wir die Strecke auch in gut vier Stunden geschafft. So dauerte es etwas länger. Aber Maxim und Nadeschda steckten dies mit vielen Kinderliedern und glutenfreien Keksen locker weg.

Bei Katharina wurde dann erst einmal die Wohnung inspiziert und mit den neuen Geschenken gespielt. Die anfängliche Aufregung legte sich schnell bei Maxim und Nadeschda. Müdigkeit überkam beide Kinder. Nach dem Abendbrot fing Maxim an, sich selbst auszuziehen und als er dann nackt in der Küche vor mir stand, war die non-verbale Botschaft eindeutig. Kaum eine viertel Stunde später übermannte beide Kinder Müdigkeit und Schlaf. Am nächsten Morgen fuhren wir nach Aufstehen, Spielen, Anziehen und Frühstücken, mit der Straßenbahn in die Stadt. Dort kauften wir für Maxim neue Halbschuhe und stockten Nadeschdas Frühjahrsgarderobe auf. Auf dem Heimweg hielten wir abschließend an einem Spielplatz. Maxim schaukelte fast eine dreiviertel Stunde alleine. Er hatte inzwischen raus, wie man alleine Schwung holte. Nadeschda spielte mit ein paar anderen Kindern im Sand. Katharina und ich beobachteten meine spielenden Kinder und genossen die nachmittägliche Frühlingssonne. Wie gut es tat, einfach nur zu sein, den Moment zu genießen, das Aufmerksamkeitsbedürfnis meiner Kinder ohne viele Worte zu zweit zu erfüllen, zu sehen, wie sie inzwischen auch zu Katharina ein gewisses Vertrauen hatten. Zum ersten Mal seit Wochen entspannte ich mich innerlich. Nach Duschen und Abendbrot essen, probierten Maxim, Nadeschda und ich zum ersten Mal aus, zusammen vorzulesen. Das war etwas schwierig, ging aber für ein paar Minuten. Maxim schlief danach binnen fünf Minuten ein. Nadeschda brauchte etwas länger und kommentierte noch die vorbeifahrenden Fahrzeuge: „Auto…, Laster…, Bus…, Auto…, Auto…, Papa?“, als ein Sportwagen unten an der Ampel vor Katharinas Wohnhaus beschleunigte. Ich lachte still in mich hinein und verließ glücklich das Gästezimmer, als ich nach wenigen Momenten auch Nadeschdas ruhigen Atem hörte.

Heute morgen fuhren wir nach dem Frühstück in den Zoo. Wir sahen zum ersten Mal Giraffen und Elefanten. Vor allem die Elefantenherde war für Maxim und Nadeschda ein Höhepunkt. Die fünf Kühe hatten ordentlich Stress untereinander und trugen ihre Zickenkriege mit viel Gebrüll aus. Am Nachmittag begaben Maxim, Nadeschda und ich uns wieder auf den Heimweg zu Richard. Wieder steckten Maxim und Nadeschda die Fahrt mit etwas Schlafen, einer halben Packung glutenfreier Butterkekse gut weg. Als wir nach vier Stunden Zuhause ankamen, waren die Kinder froh, ihren Papa wieder zu sehen. Ich ebenso. Der Tapetenwechsel hatte gut getan. Für zwei Tage hatte ich alle Sorgen aus unserem Alltag hinter mir lassen können, stattdessen die Zeit mit meinen Kindern und mit Katharina unbeschwert genossen.

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12. Januar – Suche nach meiner Mutterrolle

Noch immer suche ich nach einer Antwort auf die mich ständig quälende Frage, wie und ob ich eine gute Mutter sein kann. Gerade im Rückblick auf den Besuch meiner eigenen Mutter, die mir wenn überhaupt nur ein negatives Vorbild sein kann.

Maxim hatte heute nachmittag seine erste Turnstunde. Wir Mütter schauten von der  Tribüne der Sporthalle zu, unsere Kinder sollten alleine mit der Trainerin turnen. Während Nadeschda und ich an der Ballustrade saßen, hatten sich die anderen Mütter etwas abseits gesetzt. Viele kannten sich aus Geburtsvorbereitungskursen, Rückbildungsgymnastik und dem Kindergarten. Zwei von ihnen waren mit dem zweiten Kind schwanger. Damit war klar, dass sich ihre Gespräche schnell um Geburt, Gewichtszunahme während der Schwangerschaft, Wassereinlagerungen, Stillen und postnatale Depressionen drehten. Überraschend wenig ging es um ihre Kinder, die unten in der Halle turnten. Saß ich physisch schon abseits von ihnen, fühlte ich mich auch schnell anders.

Ich konnte zu diesen Gesprächen wenig beitragen. Meine eigene „Geburtsgeschichte“ war eine andere. Diese wollte ich aber nicht mit ihnen teilen. Ich musste nicht jedem auf die Nase binden, dass wir Maxim und Nadeschda adoptiert hatten. Über die Wochen und Monate war in mir das Bewusstsein gewachsen, dass wir dies nur dort wo nötig erzählten, und wir es weitestgehend Maxim und Nadeschda später überlassen wollten, wann sie selbst wen über ihre Adoption informierten. Mit der Zeit war ich gelassener geworden und hatte gelernt, manchmal einfach den Mund zu halten. Ich musste uns und unsere Familie nicht jedem erklären. Bei einem Kindergartenfest vor Weihnachten hatte mich eine der Mütter aus Maxims Kindergartengruppe gefragt: „Die tollen blauen Augen hat er aber nicht von Dir. Die hat er dann wohl von seinem Vater.“ „Möglich.“ hatte ich nur geantwortet und gelächelt. Es war ja noch nicht einmal gelogen, denn möglicherweise hatte Maxim tatsächlich seine beeindruckenden blauen Augen von seinem leiblichen Vater.

Während ich diesen Müttern in der Turnhalle weiter zuhörte, war ich froh, dass mir das physische Geburtserlebnis erspart geblieben war. Frappierend fand ich vor allem, dass noch drei bis vier Jahre nach den Geburten ihrer Kinder die Erinnerungen so frustrierend, ja fast traumatisch anmuteten, dass es sie jetzt immer noch so sehr beschäftigte. Oder war es, dass es das einzige Thema war, dass sie miteinander verband? Je länger ich ihnen zuhörte, um so fremder wurden mir diese Mütter. Nicht, dass sie alle im Schnitt fünf bis zehn Jahre jünger waren, dass sie einen anderen Hintergrund und Werdegang hinter sich hatten, nein, sie hatten vor allem ein anderes Bewusstsein ihren Kindern gegenüber. Sie nahmen sie für selbstverständlich. Sie hatten ihre Kinder bekommen, weil es dazugehört, weil irgendwann der Kinderwunsch da ist und sich leicht erfüllt, oder die Schwangerschaften sich einstellten, ohne dass sie vorher darüber nachgedacht hatten. Jetzt waren die Kinder da, und die Mütter fügten sich in ihre Mutterrollen, ohne sich dessen bewusst zu sein, welches Geschenk ihnen gemacht worden war. Wir hingegen hatten hart für die Erfüllung unseres Kinderwunsches kämpfen müssen. Für uns war unsere kleine Familie keine Selbstverständlichkeit, zumal wir immer noch jeden Tag daran arbeiteten, eine wirkliche Familie zu werden. Gegenüber unseren Kindern haben wir eine verdammt große Verantwortung übernommen. Wir haben Maxim und Nadeschda einen Teil ihrer Herkunft und ihrer Wurzeln genommen, damit wir eine Familie werden können. Auch wenn unsere Kinder noch klein sind, so haben sie im Gegensatz zu all diesen Kindern, die da unten in der Halle mit Maxim turnten, schon so viel erlebt, zu viel erlebt, als dass es eine Kinderseele in diesem Alter überhaupt ertragen und verkraften kann. Sie haben schon Erfahrungen machen müssen, die nichts mit einer behüteten Kindheit zu tun hatten: Sie wurden in Armut geboren, sie hatten ihre leibliche Mutter verloren und ein Jahr in einem russischen Kinderheim gelebt. Das hat Spuren hinterlassen. Dieses Päckchen an Lebenserfahrung bringen sie mit und werden es ihr Leben lang tragen müssen. Genauso wie Richard und ich unsere Geschichte haben. Das ist nicht „normal“. Das ist anders. Wir sind anders.

Im Hintergrund plätscherten immer noch die giggeligen Gespräche über Start- und Zielgewichte bei ihren Schwangerschaften. Meine Gedanken kreisten um meine eigene „Geburtsgeschichte“ mit Maxim und Nadeschda. Weder die erste Begegnung mit ihnen im Heim, noch das Abholen und unsere Ankunft in Deutschland fühlten sich wie ein euphorisierendes Geburtserlebnis an. Viele Adoptivmütter beschreiben zwar diese ersten Begegnungen mit ihren Kindern oder das Abholen aus dem Heim als ein der Geburt gleichzusetzendes Ereignis und in vielen Fällen mag das auch so sein.

Doch wohlmöglich aufgrund der Begebenheiten, die unseren Adoptionsprozess begleitet hatten, fehlte uns diese Romantik. Ich fragte mich, wie sich ohne dieses romantische Gefühl eine Bindung zu meinen Kindern entwickelt hatte. Hatte ich eine innige Bindung zu Maxim und Nadeschda aufbauen können, ohne das Erlebnis der Geburt oder ein vergleichsweise intensiv emotionales Erlebnis? Glück fühlte sich anders an, hatte ich in der ersten gemeinsamen Nacht im Moskauer Hotel geschrieben. Wann ich zum ersten Mal bewusst das Gefühl hatte, das sind MEINE Kinder, kann ich gar nicht mehr sagen. Heute in dieser Turnhalle dachte ich, dass für mich mit der Ankunft von Maxim und Nadeschda erst ein Prozess begonnen hatte, in dessen Verlauf ich mich langsam zu einer Mutter entwickelte. Die Gefühle zu meinen Kindern wuchsen mit jedem Tag langsam aber stetig, so wie ich mich immer mehr in meiner neuen Rolle und in meinem neuen Leben als Mutter zurechtfand, dort aber noch lange nicht angekommen war. Die Bindung zu meinen Kindern hatte über die vergangenen Monate begonnen sich Stück für Stück zu entwickeln und zu wachsen, genauso wie die Bindung von meinen Kindern zu mir. Nadeschda schien es in ihrem kleinkindlichen Verhalten leicht zu fallen, Zuneigung zu zeigen und anzunehmen. Oft war sie sehr anhänglich, sehr kuschelig und auf viel Körperkontakt aus. Maxim hingegen war mit seinen drei Jahren sehr autonom. Unmittelbare Gesten der Zuneigung waren bei ihm selten: Abschiedsküsse im Kindergarten, seine Freude, wenn wir ihn mittags dort wieder abholten, manchmal legte er abends den Arm um meinen Hals beim Gute Nacht sagen und hielt meine Hand fest, bis er eingeschlafen war. Oder er kam unvermittelt auf meinen Schoß und wollte wie ein Baby geschaukelt werden. Vorsichtige und zaghafte Signale, die zeigten, dass er sich allmählich auf mich als seine engste Bezugsperson einließ. Ob das bei den Müttern, die nach wie vor in meinem Rücken plauderten, auch so gewesen war? Ich bezweifelte es. Wiederum fühlte ich mich fremd.

Die Turnstunde neigte sich langsam dem Ende zu. Ein letztes Mal ging ich innerlich zurück zur Geschichte unserer Kinder und unserem Entstehungsprozess als Familie. Wir hatten Maxim und Nadeschda nicht gefragt, ob sie bei uns leben wollten und wir ihre Eltern sein durften. Vielleicht quälte mich auch deshalb immer wieder die Frage, ob ich tatsächlich all diesen Anforderungen gerecht werde, die diese Kinder an mich stellen. Ich fühle mich schlecht, wenn ich nicht die Geduld aufbringe, die die Kinder von mir fordern. Ich fühle mich schuldig, wenn ich aus der Haut fahre, wenn ich kein Verständnis für Maxims Tobsuchtsanfälle habe, wenn ich mich nicht mehr unter Kontrolle habe. Jedes Mal wenn ich ihnen weh tue oder laut werde, frage ich mich, ob ich ihren Schmerz nicht größer mache, anstatt ihn zu heilen. Manchmal glaube ich, dass ich der Situation nicht gewachsen bin. Und vor allem, ich fühle mich so verdammt allein.

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25. Dezember – Unser 1. Heiligabend

Weihnachten ist da. Das erste Weihnachtsfest mit unseren Kindern! Der Heilige Abend mit Tannenbaum, Kerzenduft, besinnlicher Musik, der Geschichte vom Christkind, vielen Geschenken, verzauberten Kinderaugen und nicht minder aufgeregten Eltern. Schon morgens sind Maxim und Nadeschda früh wach und aufgedreht, denn natürlich merken sie, dass heute Großes passiert.

Girl and boy (3-7) standing by door watching Christmas tree, rear view

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Mich selbst erfüllt angespannte Vorfreude. Früher war der Heilige Abend der Tag, an dem ich mich mit dem Schmücken des Weihnachtsbaumes langsam auf das Weihnachtsfest einstimmte. Heute überwiegt der Wunsch und die Erwartung an mich selbst, diesem Fest einen besonderen Zauber für unsere Kinder zu verleihen. Richard macht vormittags mit beiden Kindern einen Ausflug, so dass ich im Verborgenen den Baum schmücken und die Geschenke aufbauen kann. Alles läuft wie geplant, bis die Lichterkette ihren Geist aufgibt. Leider nachdem ich sie am Baum festgemacht habe. Ich sah den Heilig Abend schon baden gehen. Maxim und Nadeschda hätte es sicherlich nichts ausgemacht, vor einem unbeleuchteten Baum zu sitzen. Mir dagegen um so mehr. Gottseidank kann Richard unterwegs tatsächlich noch eine neue Lichterkette auftreiben. Und mein emotionaler Zustand entspannt sich wieder sichtlich. Mittags sollen Maxim und Nadeschda ihren Mittagsschlaf machen. Doch daran ist nicht zu denken. Die Aufregung der Kinder nimmt sichtlich zu. Maxim schläft zwar nach etwas Zinnober um viertel nach zwei ein. Nadeschda schläft aber erst gegen halb drei, nachdem ich ihr eine zweite heiße Milch gemacht hat. Den Nachmittag versuchen Richard und ich etwas zu strecken, und Maxim und Nadeschda irgendwie zu beschäftigen. Denn das Christkind kommt ja erst mit Einbruch der Dunkelheit, und die Oma muss vorher ja auch noch hier eintreffen. Erst dann dürfen wir nachschauen, was uns das Christkind wohl beschert haben wird.

Plötzlich klingelt das Glöckchen. Der Weihnachtsbaum im Wohnzimmer ist hell erleuchtet. Die Kerzen brennen, es läuft weihnachtliche Musik. Die Terrassentür ist noch auf, doch das Christkind ist schon wieder verschwunden. Es hinterlässt viel Glitzerstaub und Sternchen, und vor allem viele Geschenke. Maxim und Nadeschda machen riesige Augen, als sie ins Wohnzimmer kommen. Tatsächlich gucken sie noch einmal eilig nach, ob sie draußen noch das Christkind entdecken. Doch zu schnell ist es aufgebrochen, um nun den anderen Kindern ihre Geschenke zu bringen. Maxim wendet sich schnell den vielen bunten Paketen unter dem Weihnachtsbaum zu. Nadeschda hingegen wandelt anmutig und in stiller Andacht durchs Zimmer und untersucht all die brennenden Kerzen. Schnell stellt sie aber fest, dass die Kerzenflamme auch heiß ist. Wie ein stiller Beobachter sitze ich auf dem Sofa und betrachte meine Familie. Zum ersten Mal seit unserer Ankunft in Deutschland durchströmt mich bewusst eine Welle des Glücks, die mir die Tränen in die Augen treibt. So wie auf unserem Flug von Moskau hierher. Welch ein schöner und wunderbarer Moment, den ich so gerne konservieren möchte, um mich im Alltag daran zu erinnern. Ich spüre, dass dieses einer der Augenblicke ist, die mit einem Federstreich alle Schwierigkeiten und Sorgen unseres alltäglichen Lebens bedeutungslos machen. Dies ist einer der Glücksmomente, in denen sich auch meine eigene Kindheitssehnsucht nach einem harmonischen und glücklichen Weihnachtsfest erfüllt. Und ich denke bei mir: So fühlt sich also „Familie“ an.

Maxim entdeckt schnell das Dreirad, das das Christkind für Nadeschda gebracht hat. Damit Maxim Nadeschda auch darauf fahren lässt, darf er gleich als erstes seinen Traktor auspacken. Damit hätten wir es bei den Geschenken schon belassen können. Denn von nun ab fahren beide Kinder mit Traktor und Dreirad durch die Wohnung. Maxim packt zwar bereitwillig auch alle anderen Geschenke aus und lädt diese dann auf seinen Traktor. Aber sie sind schon nicht mehr wichtig. Auch Nadeschda hat nach dem dritten Geschenk das Interesse verloren und will nur noch Dreirad fahren. Als sich bei ihr Müdigkeit und Erschöpfung breit machen – Der Mittagsschlaf war zu kurz. – tritt ihre Überforderung deutlich zu Tage. Sie zieht sich aufs Sofa zurück, haut immer wieder ihren Kopf in die Kissen und fängt an zu weinen. Zwar beruhigt sie sich nach einigen Minuten wieder, doch Richard und ich beschließen schnell, die Bescherung zu beenden und die übrigen Geschenke für die kommenden Tage aufzuheben. Spätestens jetzt wissen wir: Ein Geschenk für jedes Kind hätte völlig ausgereicht. Zum Abendessen scheint Nadeschda ihre letzten Kräfte zu mobilisieren. Beim traditionellen Kartoffelsalat und Lendensteak sitzt sie in ihrem Kinderstuhl und isst wie ein großes Mädchen. Irgendwann dann auch direkt aus der Salatschüssel, sehr zur Freude ihrer Großmutter, die immer froh ist, wenn es den Kindern gut schmeckt. Die Aufregung scheint zumindest Nadeschdas Appetit nicht zu schmälern. Nach dem Essen fahren beide Kinder diesmal zusammen auf dem Dreirad durch die Wohnung. Mal fährt Maxim und Nadeschda sitzt hinten um Transportkorb, mal umgekehrt. Maxim zeigt Nadeschda, wie man die Pedalen treten muss und fährt stehend, während Nadeschda auf dem Dreirad sitzt. Beide Kinder scheinen hier nun ihrer Anspannung Luft zu machen und mit letzter Energie die Aufregung des Tages zu verarbeiten. Wie immer mit viel Bewegung. Zufrieden und müde fallen sie bald danach in ihre Betten und schlafen friedlich ein.