Noch immer suche ich nach einer Antwort auf die mich ständig quälende Frage, wie und ob ich eine gute Mutter sein kann. Gerade im Rückblick auf den Besuch meiner eigenen Mutter, die mir wenn überhaupt nur ein negatives Vorbild sein kann.
Maxim hatte heute nachmittag seine erste Turnstunde. Wir Mütter schauten von der Tribüne der Sporthalle zu, unsere Kinder sollten alleine mit der Trainerin turnen. Während Nadeschda und ich an der Ballustrade saßen, hatten sich die anderen Mütter etwas abseits gesetzt. Viele kannten sich aus Geburtsvorbereitungskursen, Rückbildungsgymnastik und dem Kindergarten. Zwei von ihnen waren mit dem zweiten Kind schwanger. Damit war klar, dass sich ihre Gespräche schnell um Geburt, Gewichtszunahme während der Schwangerschaft, Wassereinlagerungen, Stillen und postnatale Depressionen drehten. Überraschend wenig ging es um ihre Kinder, die unten in der Halle turnten. Saß ich physisch schon abseits von ihnen, fühlte ich mich auch schnell anders.
Ich konnte zu diesen Gesprächen wenig beitragen. Meine eigene „Geburtsgeschichte“ war eine andere. Diese wollte ich aber nicht mit ihnen teilen. Ich musste nicht jedem auf die Nase binden, dass wir Maxim und Nadeschda adoptiert hatten. Über die Wochen und Monate war in mir das Bewusstsein gewachsen, dass wir dies nur dort wo nötig erzählten, und wir es weitestgehend Maxim und Nadeschda später überlassen wollten, wann sie selbst wen über ihre Adoption informierten. Mit der Zeit war ich gelassener geworden und hatte gelernt, manchmal einfach den Mund zu halten. Ich musste uns und unsere Familie nicht jedem erklären. Bei einem Kindergartenfest vor Weihnachten hatte mich eine der Mütter aus Maxims Kindergartengruppe gefragt: „Die tollen blauen Augen hat er aber nicht von Dir. Die hat er dann wohl von seinem Vater.“ „Möglich.“ hatte ich nur geantwortet und gelächelt. Es war ja noch nicht einmal gelogen, denn möglicherweise hatte Maxim tatsächlich seine beeindruckenden blauen Augen von seinem leiblichen Vater.
Während ich diesen Müttern in der Turnhalle weiter zuhörte, war ich froh, dass mir das physische Geburtserlebnis erspart geblieben war. Frappierend fand ich vor allem, dass noch drei bis vier Jahre nach den Geburten ihrer Kinder die Erinnerungen so frustrierend, ja fast traumatisch anmuteten, dass es sie jetzt immer noch so sehr beschäftigte. Oder war es, dass es das einzige Thema war, dass sie miteinander verband? Je länger ich ihnen zuhörte, um so fremder wurden mir diese Mütter. Nicht, dass sie alle im Schnitt fünf bis zehn Jahre jünger waren, dass sie einen anderen Hintergrund und Werdegang hinter sich hatten, nein, sie hatten vor allem ein anderes Bewusstsein ihren Kindern gegenüber. Sie nahmen sie für selbstverständlich. Sie hatten ihre Kinder bekommen, weil es dazugehört, weil irgendwann der Kinderwunsch da ist und sich leicht erfüllt, oder die Schwangerschaften sich einstellten, ohne dass sie vorher darüber nachgedacht hatten. Jetzt waren die Kinder da, und die Mütter fügten sich in ihre Mutterrollen, ohne sich dessen bewusst zu sein, welches Geschenk ihnen gemacht worden war. Wir hingegen hatten hart für die Erfüllung unseres Kinderwunsches kämpfen müssen. Für uns war unsere kleine Familie keine Selbstverständlichkeit, zumal wir immer noch jeden Tag daran arbeiteten, eine wirkliche Familie zu werden. Gegenüber unseren Kindern haben wir eine verdammt große Verantwortung übernommen. Wir haben Maxim und Nadeschda einen Teil ihrer Herkunft und ihrer Wurzeln genommen, damit wir eine Familie werden können. Auch wenn unsere Kinder noch klein sind, so haben sie im Gegensatz zu all diesen Kindern, die da unten in der Halle mit Maxim turnten, schon so viel erlebt, zu viel erlebt, als dass es eine Kinderseele in diesem Alter überhaupt ertragen und verkraften kann. Sie haben schon Erfahrungen machen müssen, die nichts mit einer behüteten Kindheit zu tun hatten: Sie wurden in Armut geboren, sie hatten ihre leibliche Mutter verloren und ein Jahr in einem russischen Kinderheim gelebt. Das hat Spuren hinterlassen. Dieses Päckchen an Lebenserfahrung bringen sie mit und werden es ihr Leben lang tragen müssen. Genauso wie Richard und ich unsere Geschichte haben. Das ist nicht „normal“. Das ist anders. Wir sind anders.
Im Hintergrund plätscherten immer noch die giggeligen Gespräche über Start- und Zielgewichte bei ihren Schwangerschaften. Meine Gedanken kreisten um meine eigene „Geburtsgeschichte“ mit Maxim und Nadeschda. Weder die erste Begegnung mit ihnen im Heim, noch das Abholen und unsere Ankunft in Deutschland fühlten sich wie ein euphorisierendes Geburtserlebnis an. Viele Adoptivmütter beschreiben zwar diese ersten Begegnungen mit ihren Kindern oder das Abholen aus dem Heim als ein der Geburt gleichzusetzendes Ereignis und in vielen Fällen mag das auch so sein.
Doch wohlmöglich aufgrund der Begebenheiten, die unseren Adoptionsprozess begleitet hatten, fehlte uns diese Romantik. Ich fragte mich, wie sich ohne dieses romantische Gefühl eine Bindung zu meinen Kindern entwickelt hatte. Hatte ich eine innige Bindung zu Maxim und Nadeschda aufbauen können, ohne das Erlebnis der Geburt oder ein vergleichsweise intensiv emotionales Erlebnis? Glück fühlte sich anders an, hatte ich in der ersten gemeinsamen Nacht im Moskauer Hotel geschrieben. Wann ich zum ersten Mal bewusst das Gefühl hatte, das sind MEINE Kinder, kann ich gar nicht mehr sagen. Heute in dieser Turnhalle dachte ich, dass für mich mit der Ankunft von Maxim und Nadeschda erst ein Prozess begonnen hatte, in dessen Verlauf ich mich langsam zu einer Mutter entwickelte. Die Gefühle zu meinen Kindern wuchsen mit jedem Tag langsam aber stetig, so wie ich mich immer mehr in meiner neuen Rolle und in meinem neuen Leben als Mutter zurechtfand, dort aber noch lange nicht angekommen war. Die Bindung zu meinen Kindern hatte über die vergangenen Monate begonnen sich Stück für Stück zu entwickeln und zu wachsen, genauso wie die Bindung von meinen Kindern zu mir. Nadeschda schien es in ihrem kleinkindlichen Verhalten leicht zu fallen, Zuneigung zu zeigen und anzunehmen. Oft war sie sehr anhänglich, sehr kuschelig und auf viel Körperkontakt aus. Maxim hingegen war mit seinen drei Jahren sehr autonom. Unmittelbare Gesten der Zuneigung waren bei ihm selten: Abschiedsküsse im Kindergarten, seine Freude, wenn wir ihn mittags dort wieder abholten, manchmal legte er abends den Arm um meinen Hals beim Gute Nacht sagen und hielt meine Hand fest, bis er eingeschlafen war. Oder er kam unvermittelt auf meinen Schoß und wollte wie ein Baby geschaukelt werden. Vorsichtige und zaghafte Signale, die zeigten, dass er sich allmählich auf mich als seine engste Bezugsperson einließ. Ob das bei den Müttern, die nach wie vor in meinem Rücken plauderten, auch so gewesen war? Ich bezweifelte es. Wiederum fühlte ich mich fremd.
Die Turnstunde neigte sich langsam dem Ende zu. Ein letztes Mal ging ich innerlich zurück zur Geschichte unserer Kinder und unserem Entstehungsprozess als Familie. Wir hatten Maxim und Nadeschda nicht gefragt, ob sie bei uns leben wollten und wir ihre Eltern sein durften. Vielleicht quälte mich auch deshalb immer wieder die Frage, ob ich tatsächlich all diesen Anforderungen gerecht werde, die diese Kinder an mich stellen. Ich fühle mich schlecht, wenn ich nicht die Geduld aufbringe, die die Kinder von mir fordern. Ich fühle mich schuldig, wenn ich aus der Haut fahre, wenn ich kein Verständnis für Maxims Tobsuchtsanfälle habe, wenn ich mich nicht mehr unter Kontrolle habe. Jedes Mal wenn ich ihnen weh tue oder laut werde, frage ich mich, ob ich ihren Schmerz nicht größer mache, anstatt ihn zu heilen. Manchmal glaube ich, dass ich der Situation nicht gewachsen bin. Und vor allem, ich fühle mich so verdammt allein.