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Zuhause, einen Tag später am 29. Juli

Der heutige Tag hatte mehr als vierundzwanzig Stunden. Es fühlt sich an, als wäre es eine Ewigkeit her, dass wir Russland hinter uns gelassen haben. Doch sind seit unserer Ankunft in Deutschland erst wenige Stunden vergangen. Wir sind Zuhause! Richard und ich können es immer noch nicht fassen, dass unser Leben als Familie begonnen hat. Unsere Kinder werden bei uns bleiben, und niemand kann sie uns jemals wieder nehmen. Es erscheint uns wie ein Traum, aus dem wir irgendwann wieder aufwachen müssen.

Der Vormittag in Moskau

Nach unsere ersten schlaflosen Nacht in Moskau ist Richard heute morgen zur Deutschen Botschaft gefahren. – Kaum zu glauben, dass das erst heute morgen war. – Dort liegen die Visa für Maxim und Nadeschda bereit. Ich bleibe mit den Kindern alleine im Hotel zurück. In Erinnerung an den Tagesablauf im Kinderheim, gebe ich Nadeschda eine Flasche mit flüssigem Brei.  Maxim scheint keinen Hunger zu haben. Er beginnt das Hotelzimmer noch einmal zu inspizieren. Er packt Spielzeug aus, versorgt Nadeschda mit Stofftieren, schaut Bilderbücher an. Mal strahlt er mich dabei an, mal schaut er nur fragend. Das alles ohne ein einziges Wort zu sprechen.

Mein Kaffeedurst nach der Nacht ohne Schlaf ist größer als meine Unsicherheit, zum ersten Mal alleine mit den beiden Kindern in diesem riesigen Hotel das Zimmer zu verlassen und den Frühstücksraum aufzusuchen. Dieser ist bei unserem Eintreffen wenig besucht. Nur an einzelnen Tischen sitzen noch Geschäftsleute, die zügig ihr Frühstück beenden. Hier außerhalb der sicheren Umgebung unseres Hotelzimmers weichen die Kinder keinen Schritt von meiner Seite. Mit Nadeschda auf dem Arm und Maxim an der Hand gehen wir dreimal zum Büffet, bis wir ein wenig Brot und Obst, Marmelade und Wurst, Jogurt und Milch zusammen an unseren Tisch getragen haben. Maxim hilft stolz mit. Er isst seinen Jogurt und probiert ein wenig Brot mit Butter. Nadeschda will zunächst nichts essen, doch irgendwann greift sie sich einfach ein Stück Brot von meinem Teller und beisst hinein. Es ist das erste Mal, dass sie feste Nahrung zu sich nimmt.

Auf dem Rückweg vom Frühstück treffen wir Richard in der Hotellobby. Der Besuch bei der Botschaft ist reibungslos und sehr zügig verlaufen. Mit dem Zauberwort „Adoption“ konnte er die langen Schlangen umgehen und musste nirgendwo warten. In Maxims und Nadeschdas russischen Pässen kleben jetzt zwei farbenprächtige Visa, die ihnen den Aufenthalt von neunzig Tagen in Deutschland erlauben. Gemeinsam gehen wir auf unser Hotelzimmer und bereiten uns auf unsere Abfahrt zum Flughafen vor.

Ausreise aus Russland

Drei Stunden später warten wir mit mindestens fünfhundert anderen Passagieren dichtgedrängt im Ausreisebereich des Flughafens, einem Raum, in dem die Klimaanlage unter ihren Anforderungen kapituliert und den Betrieb eingestellt hat. Unsere Anspannung ist am Anschlag des Erträglichen. Wird es Fragen geben? Werden sie uns verbieten, Maxim und Nadeschda mit nach Deutschland zu nehmen? Finden sie einen Fehler in den Adoptionsdokumenten? – Nein. Nach einer halben Stunde Wartezeit sind wir an der Reihe und werden ohne einen einzigen Kommentar durch die Passkontrolle durchgewunken. Erleichtert besteigen wir die Lufthansa-Maschine, unsere Anspannung lässt langsam nach. Nadeschda schläft erschöpft aber friedlich noch vor dem Start ein. Maxim muss erst noch alles untersuchen, was sich in und um seinen Sitz drumherum befindet und bleibt nur schwer beim Start sitzen. Doch kaum ist das Flugzeug in der Luft, schläft auch er in meinem Schoß ein. Über unsere Kinder hinweg schauen Richard und ich uns an und nehmen uns an der Hand. Zum ersten Mal in all diesen Wochen fließen bei uns beiden Tränen der Erleichterung und der Freude. Ja, so fühlt sich Glück an!

Zuhause ankommen

Die Einreise nach Deutschland verläuft genauso unspektakulär wie die Ausreise aus Russland. Der Zollbeamte wünscht uns noch alles Gute und entlässt uns. Zuhause mobilisieren Maxim und Nadeschda ihre letzten Kräfte, um ihre neue Umgebung zu erkunden. Doch sie realisieren gerade noch, wo ihre Betten stehen, wo Richard und ich schlafen und wo das Bad ist. Mehr schaffen sie nicht mehr. Wir essen mit ihnen schnell etwas. Dann bringen wir beide Kinder ins Bett. Uns ist etwas mulmig. Denn wir wissen nicht, wie sie reagieren werden, ob sie in ihren Betten schlafen werden, ob wir sie doch mit zu uns in unsere Bett beziehungsweise bei uns im Schlafzimmer schlafen lassen müssen. Werden sie weinen, werden sie sich wehren, werden sie Angst haben? Richard macht Nadeschda Bettfertig und legt sie schlafen. Ich kümmere mich um Maxim. Nadeschda lässt sich anstandslos wickeln und waschen, Richard zieht ihr ihren Schlafanzug und Schlafsack an, legt sie in ihr Bett und sie beginnt friedlich und fast dankbar ihre Milch zu trinken. Auch Maxim putzt sich begeistert die Zähne, lässt sich von mir waschen und den Schlafanzug anziehen. Erst als wir ins Kinderzimmer kommen und ich ihn in sein Bett legen will, beginnt er zu weinen. Dennoch legt er sich hin. Er vergräbt sein Gesicht tief in sein Kissen, wendet sich von mir ab und weint leise und traurig. Ich mache die Spieluhr an und bleibe ruhig vor seinem Bett sitzen, wie Richard vor Nadeschdas Bett sitzt. Sie hat ihre Milchflasche ausgetrunken, nimmt ihren Schnuller, dreht sich um und schläft. Maxim verstummt langsam und ein ruhiges Atmen löst sein Weinen ab. Richard und ich gucken uns stumm an und verlassen leise das Kinderzimmer. Dankbar und zufrieden, aber auch müde und erschöpft lassen wir uns auf unserer Terrasse nieder, auf der uns die laue Sommernacht wohlwollend umarmt.

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Moskau, in der Nacht zum 29. Juli

Fühlt sich so Glück an? Ich kann nicht schlafen. Es ist drei Uhr nachts, draußen sind es immer noch 35 Grad, die Luft steht in der Stadt, die Klimaanlage in unserem Hotelzimmer funktioniert nicht. Ich bin erschlagen von der langen Reise hierher, und kann dennoch nicht schlafen. Unter den kritischen Blicken des Nachtwache schiebenden Zimmermädchens bin ich in das Treppenhaus des Hotels geflüchtet, wo man rauchen darf und nehme einen Zug an meiner Zigarette. Durchatmen. Im Hotelzimmer ringt Richard mit Maxim um ein wenig Schlaf. Weinen, Toben, sich Rumwälzen, in den Arm genommen werden wollen und Richard wieder wegstoßen wechseln sich mit einander ab. Nadeschda schläft, dies aber unruhig. Jetzt sind wir eine Familie. Glauben kann ich das immer noch nicht. Ich habe immer noch Angst, dass irgendetwas passiert, plötzlich irgendjemand vor der Türe steht und uns die Kinder wieder wegnimmt. Vielleicht werde  ich ruhiger, wenn wir morgen in der Lufthansa-Maschine nach Deutschland sitzen. Morgen früh wird Richard auf die Deutsche Botschaft gehen, um das Einreisevisum für Nadeschda und Maxim zu besorgen. Am Nachmittag fliegen wir endlich nach Hause. In die Angst mischt sich das Gefühl von Unwirklichkeit. So groß die Sorge ist, dass jetzt doch auf den letzten Metern noch etwas schief läuft, so wenig kann ich begreifen, dass Maxim und Nadeschda nun unsere Kinder sind. Ich habe noch nicht realisiert, dass sie wirklich mit uns nach Deutschland kommen und für immer bei uns bleiben werden. Wie wird sich nun unser Leben als Familie, mein Leben als Mutter entwickeln? Keine Ahnung! Da hilft auch nicht die beste Vorbereitung. Alles, was ich mir vorher in der Theorie in meinem Kopf ausgemalt habe, ist ausradiert. Ein weißes Blatt liegt vor mir, dass neu beschrieben werden will. Doch im Moment überwiegt die Leere. Oder ist es auch ein Stück weit Ernüchterung? Spüre ich jetzt zum ersten Mal bewusst die Folgen unseres akribischen Handelns der letzten Monate? Wir haben jetzt zwei Kinder! Mit ihnen sind wir auf Gedeih und Verderb verbunden, ihr Leid wird unseres sein und genauso ihre Freuden. Das Leben, das wir bis zum gestrigen Tag gelebt haben, ist für immer beendet. Was haben wir uns und vor allem auch Maxim und Nadeschda damit angetan?

Abholen im Kinderheim 

Ich lasse den Tag vor meinem inneren Auge Revue passieren. Am späten Vormittag kamen wir im Kinderheim an. Schon da brannte die Sonne unermüdlich und es war klar, dass es ein unerträglich heißer Tag werden würde. Auch bei dieser letzten Fahrt in das Kinderheim blieben uns Formalitäten nicht erspart. Ein letztes Gespräch mit der Heimleiterin, die sich über unsere Geschenke freute und für uns noch auf einem Foto posierte. Ein letztes Treffen mit der Sozialarbeiterin, die sich nur ungern fotografieren ließ, aber auf die Unterzeichnung der letzten Dokumente bestand. Die anschließende „Übergabe“ unserer Kinder verlief professionell und ruhig, als fände so etwas täglich statt. In einem Besuchsraum warteten wir auf unsere Kinder. Zuerst tauchte Maxim auf. Frisch gebadet wurde er von einer seiner Erzieherinnen gebracht. Er war nur mit einer Unterhose und Socken bekleidet. Mehr durfte er nicht mitnehmen. Das war alles, was ihm von seinem Aufenthalt im Heim blieb, in dem er bis zu diesem Tag zehn Monate, also fast ein ganzes Jahr und damit ein Drittel seines bisherigen kleinen Lebens verbracht hatte. Zusammen mit Richard zog ich ihm sein T-Shirt und eine kurze Hose an, die wir für ihn mitgebracht hatten. Maxim ertrug dies alles stumm und ohne eine emotionale Regung. Doch aus seinen Augen sprach deutlich die Unsicherheit, was nun mit ihm passieren würde. Wenige Augenblicke später brachte man uns Nadeschda. Nackt, nur mit einer Windel bekleidet. Bereitwillig ließ sie sich von mir anziehen. Auch sie schien verwirrt zu sein, begriff nicht, wie ihr geschah. Aus ihrem Gesicht sprach aber weniger Angst als Neugier. Nachdem sie mich kritisch beäugt hatte, kam sie bereitwillig in meine Arme und lehnte sich schutzsuchend an mich. Schnell machte unsere Übersetzerin noch ein Abschiedsfoto mit den Erziehrinnen, dann verließen wir das Kinderheim in Richtung Flughafen.

Ankunft in Moskau

Die folgenden Stunden waren so voll von neuen Eindrücken, dass Maxim und Nadeschda keine Gelegenheit blieb, inne zu halten und Gefühle wie Angst oder Abschiedstrauer zuzulassen. Der Flughafen mit seinen Flugzeugen und der anschließende Flug waren für Maxim so aufregend und spannend, dass ihm diese Eindrücke über die Angst vor dem Ungewissen hinweghalfen. Nadeschda war im Flugzeug von all den äußeren Reizeinflüssen – und den subtropischen Temperaturen – so erschlagen, dass sie bald in Richards Schoß einschlief. Hatte ich mich auf schreiende und tobende Kinder vorbereitet, wurde ich mit dem Gegenteil belohnt. Erst im Hotel in Moskau brachen Müdigkeit, Erschöpfung und Trauer über die Kinder hinein. Zunächst schienen beide Kinder übermannt von Müdigkeit schnell einzuschlafen. Doch die Ruhe täuschte. Denn nach einer Stunde wachte zunächst Nadeschda immer wieder auf und jammerte leise. Neben der unerträglichen Hitze im Zimmer, die sie wohlmöglich nicht schlafen ließ, schienen auch unruhige Träume sie zu quälen. Nach einer Weile übermannten sie wieder Müdigkeit und Erschöpfung. Genauso begann Maxim nach einer Weile, im Schlaf zu weinen und zu jammern. Er wälzte sich unruhig im Bett herum, fand keine richtige Stellung, in der er wieder tief einschlafen konnte. Irgendwann gaben wir Eltern auf und entschieden, dass es das Beste sei, wenn wir uns zu den Kindern legten. Denn letztendlich waren wir genauso erschlagen von den Ereignissen des Tages. Und am kommenden Morgen würde uns ein weiterer anstrengender und langer Tag erwarten. Doch an Schlaf war nicht zu denken. Denn zwischen uns lag Maxim, der sich immer wieder herumwälzte, jammerte, weinte, sich wehrte, in den Arm genommen zu werden, noch mehr weinte und nicht zur Ruhe kam. Bis zum jetzigen Moment, wo ich diese Zeilen in diesem stickigen kahlen Treppenhaus schreibe. Wird das nun jede Nacht so ablaufen? Wie wird der morgige Tag werden? Was haben wir diesen beiden Kindern nur angetan? Wir haben ihnen ihre Wurzeln genommen, sie aus ihrer vertrauten Umgebung gerissen, sie in dieses Hotel in Moskau gebracht, um morgen mit uns nach Hause zu fliegen. Es ist zwar unser Zuhause aber – noch – nicht ihres. Was muten wir den beiden nur alles zu? Eine neue Sprache, eine neue Kultur, unzählige fremde neue Eindrücke, eine andere neue unbekannte Umgebung, in der sie nichts mehr an ihr vorheriges Leben erinnert; und vor allem: Fremde Bezugspersonen. Selbst Maxim und Nadeschda kennen sich nicht mehr, denn sie hatten zu lange getrennt von einander im Heim gelebt. Zum wiederholten Male müssen sie nun in ihrem kurzen Leben noch einmal mit allem ganz von vorne beginnen.

Unser Adoptionsabenteuer

iStock_000015941675_LargeAn dem Tag, an dem wir Maxim und Nadeschda in Russland abholten, war ein Jahr vergangen, seitdem Richard und ich den wenig beschrittenen Weg gewählt hatten, eine Familie mit der Adoption eines Kindes aus Russland zu gründen. Hinter uns hatten zuvor Jahre der Behandlung in einem der vielen Kinderwunschzentren, viele gescheiterte Versuche künstlicher Befruchtung, zwei Schwangerschaften und zwei Fehlgeburten gelegen. Nach der zweiten Fehlgeburt war uns klar: Dies war der falsche Weg für uns. Das Schicksal wollte es, dass wir den richtigen Impuls zur richtigen Zeit bekamen: Immer häufiger begegnete uns die Idee der Adoption eines Kindes. Es tat gut, zu lernen, dass es auch andere Wege gibt, unseren Kinderwunsch zu erfüllen. Wir fühlten uns in der Gestaltung unserer Zukunft als Familie wieder autonom und unabhängig. Und die Adoption eines Kindes erschien uns in dem Bewusstsein sinnvoll, dass es so viele Kinder auf der Welt gibt, die nach fürsorglichen Eltern und einem Zuhause suchen.

Unser Weg zur Auslandsadoption

Da wir wussten, dass unsere Chancen auf eine Säuglingsadoption im Inland schlecht standen, konzentrierten wir uns sehr schnell auf die Adoption eines Kindes aus dem Ausland. Unterschiedliche Faktoren leiteten unsere Länderwahl. Wir wollten eine gesicherte Rechtslage für das Verfahren, da wir es vor unserem Gewissen und unserem zukünftigen Kind nur verantworten konnten, auf legalem Wege zu adoptieren. Wir wünschten uns einen zeitlich überschaubaren Adoptionsprozess, da wir nicht mehr bereit waren, uns auf eine lange, zähe und ungewisse Wartezeit von mehreren Jahren einzulassen. Wir trauten uns nicht zu, die Adoption im Ausland auf eigene Faust durchzuführen, sondern wollten uns von einer etablierten Vermittlungseinrichtung helfen lassen. Und schließlich sollte das Herkunftsland unseres Kindes eines sein, zu dem wir in irgendeiner Form selbst eine emotionale Beziehung aufbauen konnten. Russland erfüllte all diese Kriterien für uns. Das Adoptionsverfahren war geregelt und juristisch verlässlich, die Wartezeiten mit ein bis zwei Jahren realistisch und tragfähig. Eine zertifizierte Vermittlungsagentur gab es auch. Die Nähe Russlands zu unserem Kulturkreis und die gemeinsamen historischen Wurzeln erleichterten uns die Auseinandersetzung mit diesem Land, seinen Menschen, seiner Geschichte und seiner Kultur, und erfüllte uns mit Spannung und Neugier.

Der erste Kindervorschlag

Der Überprüfungsprozess durch die Vermittlungsstelle lief zügig und schnell. Bereits ein halbes Jahr nach unserem ersten Gespräch war unser Sozialbericht erstellt. Nach vier Wochen hatten wir alle Dokumente zusammen, die wir für das Adoptionsverfahren in Russland benötigten. Nach weiteren sechs Wochen kam die E-mail: „Wir haben einen Kindervorschlag für Sie.“ Eine Woche später flogen Richard und ich zum ersten Mal nach Russland, um unser Kind kennenzulernen. Informationen über das Kind hatten wir keine. Wir wussten nur, dass in einem Kinderheim im Süden Russlands ein ein bis drei Jahre altes Kind auf uns wartet. – Sergej war ein munteres, aufgewecktes Kerlchen von knapp drei Jahren. Nachdem wir ihn dreimal im Kinderheim besucht hatten, waren wir uns gewiss, dass das Schicksal uns zu diesem Kind geführt hatte und uns helfen werde, Sergej als unser Kind zu lieben und mit ihm zu einer Familie zusammenzuwachsen. Wir stellten noch vor Ort den Adoptionsantrag und warteten auf die Gerichtsverhandlung. Zu dieser sollte es aber nicht kommen. Zwei Tage vor unserem Abflug zur Gerichtsreise kam der Telefonanruf von unserer Vermittlungsstelle, der all unsere Wünsche, Pläne und Hoffnungen zunichte machte. Sergej‘s Großmutter hatte sich in letzter Minute entschieden, ihn zu sich zu nehmen. Unser Verfahren war gestoppt. Dennoch sollten wir nach Russland fliegen, um ein neues Kind, einen Jungen ähnlichen Alters wie Sergej, kennenzulernen. Wir hatten eine Stunde Zeit, uns zu entscheiden.

Wir flogen nach Russland. Am Flughafen in Moskau lernten wir von unserer Koordinatorin, dass es bei einer von dreihundert Adoptionen passierte, dass sich die Verwandten im Angesicht eines unwiderruflichen Gerichtsurteils zu einer Adoption dazu entschließen, das Kind doch zu sich nehmen. Und im Nachsatz fügte sie hinzu: Wir sollten uns darauf einstellen, dass uns am kommenden Tag das  Erziehungsministerium ein Geschwisterpaar vorgeschlagen werde. – Die Achterbahnfahrt ging weiter. Natürlich hatten Richard und ich uns immer mehr als ein Kind gewünscht. Doch irgendwann waren wir an den Punkt gekommen, zu realisieren, dass schon ein einziges Kind mehr als ein Gottes Geschenk ist. Sollten wir nun tatsächlich die Chance bekommen, gleich zwei Kinder adoptieren zu dürfen?

Maxim und Nadeschda – unsere Kinder?

Es war ein Tag im April, als wir unseren Kindern zum ersten Mal begegneten. Maxim war zu diesem Zeitpunkt zwei einhalb Jahre alt, Nadeschda gerade ein Jahr alt geworden. Ihr Leben bis zu diesem Tag war kein leichtes gewesen. Ihre soziale Biografie war traurig und ihre medizinischen Diagnosen teilweise gravierend, aber handhabbar. Wir waren tief beeindruckt von jedem der beiden Kinder, das jedes auf seine Art so einzigartig war. Schon bei der ersten Begegnung keimte ein zartes Gefühl von Zuneigung und elterlichen Fürsorge in uns auf. Vom ersten Moment an waren wir überzeugt, dass wir Maxim und Nadeschda annehmen und lieben, mit ihnen eine Familie werden konnten. Erneut stellten wir vor Ort den Adoptionsantrag.

Diesmal ging alles gut. Drei Monate später, nach zwei Tagen Gerichtsverhandlung sprach der Richter das erlösende Urteil: Er stimmt der Adoption von Maxim und Nadeschda zu und fasst für beide Kinder zusammen: „Es werden zwei neue Kinder geboren: Maxim Conrad Weiss, geboren am 1. November 20XX in Krasnodar und Nadeschda Renate Weiss, geboren am 10. Februar 20XX in Krasnodar. Als Eltern werden eingetragen Richard und Charlotte Weiss.“ Noch durften wir Maxim und Nadeschda nicht mit nach Hause nehmen. In Russland galt eine Widerspruchsfrist von zehn Tagen. Erst danach durften wir sie aus dem Kinderheim abholen. Für uns war es die Zeit, uns auf die Ankunft von unseren Kindern vorzubereiten. Ich wickelte meinen Job ab, ging in Elternzeit, richtete das Kinderzimmer für zwei Kinder ein, kaufte die komplette Kleiderausstattung für einen fast dreijährigen und eine einjährige, neben Kindernahrung, Windeln, Babybad, Kindernagelschere und Milchflaschen. Die Kindersitze für das Auto bestellten wir erst in Russland aus dem Hotel, als wir nach einer Woche – diesmal zum vorerst letzten Mal für eine lange Zeit – wieder in den Süden Russlands flogen.