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Berufstätig als Adoptivmutter – Geht das?

Mein ursprünglicher Plan während des Adoptionsprozesses war es, nach einem Jahr Elternzeit in Teilzeit in meinen alten Beruf zurückzukehren. Unser Kind würde dann wahrscheinlich soweit sein, in den Kindergarten zu gehen. Meine Schwiegermutter lebte im Haus nebenan. Sie freute sich auf ihr Großmutterdasein in vollen Zügen. Somit wog ich mich in Sicherheit, mein Kind auch in der Zeit, in der ich wieder arbeiten würde, in wohlwollenden fürsorglichen Händen zu wissen. Außerdem war ich noch in dem naiven Glauben, dass die „Päckchen“, die unser Kind mitbringen würde, nach einem Jahr bei uns geheilt wären.

Doch dann kam alles anders. Allen voran kehrten wir aus Russland mit zwei Kindern zurück, und nicht nur mit einem. Das war eine wunderbare Fügung des Schicksals, für die ich ewig dankbar bin. Dennoch erhöhte das auch den Aufwand in jeder Form. Allein Nadeschda war noch sehr klein und es würde Jahre dauern, bevor sie in den Kindergarten gehen könnte. Beide Kinder kamen mit unterschiedlichen medizinischen Diagnosen zu uns und brauchten unterschiedliche ärztliche und therapeutische Unterstützung. Das bis heute. Sich darum zu kümmern und meine Kinder durch die medizinische und therapeutische Hilfe zu begleiten, wollte und konnte ich niemandem Dritten überlassen. Grundsätzlich wurde ich mir mit dem meinem Hineinwachsen in meine Mutterrolle immer mehr bewusst, dass meine Kinder auch über die ersten ein bis zwei Jahre hinaus, ein vieles mehr an „Mutter“ brauchten. Ich begann, dies als meine neuen Verantwortung und Aufgabe anzunehmen. Und im gemeinsamen Leben und Erleben meiner Kinder erschien mir zunehmend die klassische Berufswelt und vor allem auch mein alter Job als sinnentleert. Hier Zuhause hatte ich eine sinnstiftende Verantwortung.

Zudem starb im Verlauf des ersten Jahres, nachdem Maxim und Nadeschda zu uns kamen, meine Schwiegermutter. Mögliche Betreuungsmodelle wurden damit brüchig, weitere familiäre Unterstützung war nicht vorhanden. Auch verselbstständigte sich das klassische Rollenmodell, auf das Richard und ich uns für das erste Jahr nach der Adoption geeinigt hatten – er arbeitete Vollzeit weiter, ich blieb zuhause bei den Kindern. Es war irgendwann sehr bequem, dass ich mich voll und ganz um die Kinder kümmerte und er seinem Beruf nachging (Vaterglück). Bis zu dem Punkt, dass eine Arbeitsteilung der Kinder kaum noch in Frage kam. Dass er zum Beispiel morgens die Kinder für die Schule fertig macht, steht nicht zur Diskussion. Sehr zur Verwunderung anderer Mütter. Neulich sprach ich mit einer Freundin und mitten im Gespräch sagte sie: „Ach, deshalb stehst Du immer so früh auf. Ich habe mich schon gewundert. ich dachte immer, wenn Richard die Kinder in die Schule bringt, dann macht er sie auch morgens fertig.“

Allen voran jedoch habe ich zwei Kinder, die so wunderbar ihre Entwicklung in den vergangenen Jahren auch gewesen ist, deren emotionaler Bedarf nach Sicherheit, Verlässlichkeit, Halt und Fürsorge immer noch ein „Fass ohne Boden“ ist. Meine Präsenz gibt ihnen diesen Halt. Auch wenn inzwischen gemeinsames Spielen, Basteln, Kochen, Ausflüge weniger und abgelöst werden von Spielverabredungen mit anderen Kindern, so ist es wichtig, dass ich dennoch da bin. Ich muss diejenige sein, die für sie auch die Übergänge von einer Aktivität zur anderen mit gestaltet. Ich muss sie zum Turnen bringen, ich muss sie von der Musikschule abholen. Tue ich es einmal nicht, beginnen die Beziehungsanfragen von neuem.

Natürlich gibt es Familienmodelle, wo auch mit bedürftigen Kindern die Adoptivmutter arbeiten kann. In den Familien, die ich kenne, ist es dabei meist so, dass der Vater so arbeitet, dass er einen Teil der Aufgaben zuhause mit übernimmt und dass es eine rührige Großmutter gibt, die die Kinder mit umsorgt, wenn nicht sogar einen Teil der Hausarbeit erledigt. Würde Richard abends um fünf nach Hause kommen und einen Teil der Freizeitaktivitäten der Kinder mit abdecken und hätte ich eine Mutter oder Schwiegermutter, die meine Kinder manchmal zum Ballett und zum Fussball begleitet, die einkauft und die Wäsche macht, dann könnte ich mir eine Berufstätigkeit zumindest organisatorisch vorstellen. Aufgrund unserer Lebensumstände, in denen Richard Karriere macht und wir keine treusorgende Großmutter mehr haben, bleibt meine Berufstätigkeit Theorie.

Heute nach einigen Jahren habe ich gelernt, dass ich nur in dem Umfang einem Beruf nachgehen kann, der in die Freiräume, die mir meine Kinder – durchaus zunehmend – lassen, passt. Und der flexibel genug ist, dass ich ihn den Bedürfnissen meiner Kinder anpassen kann. Sind sie krank, muss ich da sein; brauchen sie in der Schule über die Hausaufgaben hinaus mehr Unterstützung, muss ich ihnen helfen; benötigen sie therapeutische Hilfe, muss ich sie dadurch begleiten; brauchen sie ein „Mehr an Mama“, muss ich es ihnen geben. Egal wie. Und alles andere muss hinten anstehen.

Vor ein paar Jahren hat eine Adoptionsberaterin auf einem Vortrag gesagt: „Mit einem hochproblematischen Adoptivkind, vergessen Sie es zu arbeiten.“ Nun habe ich keine hochproblematischen Adoptivkinder, sondern beide haben einfach besondere Bedürfnisse. Aber dennoch es sind zwei. Habe ich vor ein paar Jahren noch bei diesem Ausspruch gedacht: „Was für ein Unsinn.“, so muss ich heute zugeben: „Irgendwie hat sie (leider) recht.“

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Charlottes Sonntagslieblinge (2)

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Ben White, unsplash.com

Neben all den Herausforderungen, ist unser Leben mit Maxim und Nadeschda alles andere als nur schwierig und dramatisch, sondern meistens ganz bezaubernd und wunderbar. Deshalb blicke ich inspiriert von  Mirjam von Perfektwir  auf meine eigenen, ganz persönlichen Lieblinge dieser Woche. Hier sind meine drei Sonntagslieblinge:

  1. Ich bin so stolz auf meine beiden Schulkinder! Nadeschda ist in diesem Sommer eingeschult worden. Nun marschiert auch sie tapfer jeden Morgen in die Schule. Wie groß war meine Sorge, dass sie dort am Anfang ganz verloren ist. Wenn ich sie aber mittags in der Mensa beobachte, wenn sie sich so selbstverständlich ihr Essen holt, dann tut sie dies mit einer souveränen Selbstverständlichkeit, die mich sehr glücklich macht.
  2. Mein neues „Büro“ wird in zwei Wochen fertig sein. Wie sehr freue ich mich, dass ich bald wieder Ordnung in meinen Sachen habe und nicht mehr am Küchentisch improvisieren muss.
  3. Die ergreifende Lektüre von „My name is Leon“ von Kit de Waal. Es ist die Geschichte zweier Brüder, die in Pflege leben. Der kleinere Bruder wird von einer anderen Familie adoptiert, der ältere, Leon, bleibt bei der Pflegemutter. Erschütternd realistisch wird die Geschichte aus Sicht des neunjährigen Jungen erzählt. Für mich war es ein augenöffnender Blick in die Gefühlswelt von Adoptiv- und Pflegekindern.

Für heute bin ich dankbar und freue mich auf die neue Woche. Habt auch Ihr einen wunderbaren Start in den Montag!

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Blogparade „Familienzusammenführung und Patchwork-Familie“

Die wunderbare Klabauterfrau  hat zur Blogparade zu „Familienzusammenführung und Patchworkfamilie“  aufgerufen. Aufgrund meiner eigenen Familiengeschichte, von der ich an der ein oder anderen Stelle hier schon erzählt habe , greife ich den Aufruf zur Parade gerne auf.

In den vergangenen Jahren sehen wir eine zunehmende Diskussion über das Leben in Patchworkfamilien, deren Zahl kontinuierlich wächst, auch wenn genaue Statistiken nicht vorliegen. Sie gehören inzwischen in unseren Alltag und sind in unserer Gesellschaft Normalität geworden. Stiefmütter versuchen in Buchform oder im Internet ihr „böses“ Image aus Grimm‘s Märchen aufzupolieren, Erziehungsratgeber für Patchworkfamilien sprießen wie Pilze aus dem Boden. Immer wieder finden sich in einschlägigen Frauen-Hochglanzmagazinen farbenprächtige Reportagen über das glückliche Zusammenleben in eben diesen Familienkonstellationen. Prominente und Staatsoberhäupter bieten dafür eine willkommene Vorlage. Nicht zuletzt Christian Wulff und auch sein Nachfolger Joachim Gauck haben den Versuch angetreten, zu beweisen, dass „Frauen mit Vergangenheit und Männer mit Zukunft auch mit Anhang eine ideale Mischung ergeben.“, so war es mal in einschlägigen nationalen Tageszeitungen zu lesen.

Doch genauso mehren sich Veröffentlichungen, die aufzeigen, dass das Konzept von Patchworkfamilien häufig nicht funktioniert, ja oftmals scheitert und vor allem für die betroffenen Kinder zu einer traumatischen Belastung wird. Oft sind sie zwischen ihrer Herkunftsfamilie und der neuen Familie hin- und hergerissen. Scheidungsauseinandersetzungen werden auf ihrem Rücken ausgetragen. Die Folgen für die Kinder sind meist verheerend. Schwierigkeiten in der Schule in Zeiten der Pubertät sind noch die milderen Konsequenzen, vielmehr zeigen Kinder aus Patchwork-Familien im Erwachsenenalter oftmals Anzeichen von Depressionen und Bindungsstörungen. Melanie Mühl beschreibt das sehr treffend und klar in ihrem Buch „Die Patchwork-Lüge“. Mich hat die Lektüre des Buches erschüttert, denn es zeigte mir die Folgen meiner eigenen Patchwork-Erfahrung.

Ich selbst komme aus einer Patchwork-Familie, die es inzwischen nicht mehr gibt. Meine Eltern trennten sich, als ich achtzehn war, mein Vater zog mit einer neuen und jüngeren Frau zusammen, bekam Kinder mit ihr und heiratete sie. Über zwanzig Jahre hatte ich eine Stiefmutter, die allen Klischees der bösen Märchenwelt entsprach. Erst recht nachdem sie eigene Kinder mit meinem Vater hatte. Ich war für sie eine Bedrohung, nicht nur weil ich ihr ja den Mann wegnehmen, sondern auch weil ich ihren Kindern in der Liebe unseres Vaters den Rang ablaufen könnte. Da ich mit dem Scheitern der Ehe meiner Eltern ohnehin auszog und mein Studium begann, war ich mit meiner Stiefmutter nun während der Besuche am Wochenende und in den Semesterferien konfrontiert. Ein alltägliches Zusammenleben hätte mit ihr nicht funktioniert. Und je erwachsener ich wurde, um so weniger wurden die Begegnungen mit ihr. Genauso wenig hat sich aber auch meine leibliche Mutter mit Ruhm bekleckert. Über Jahrzehnte wurde sie nicht müde, den Scheidungskrieg mit meinem Vater und ihre persönlichen Verletzungen auf meinem Rücken auszutragen. Ich saß immer zwischen den Stühlen. Auch hier bin ich auf Distanz gegangen. Große Distanz. Denn je älter ich wurde, um so weniger wollte ich der Spielball von Erwachsenen sein, die mit ihren eigenen Unzulänglichkeiten nicht umgehen können. Doch immer schwang auch ein schlechtes Gewissen mit. Es war doch meine Familie, da müsste man sich doch irgendwie arrangieren können.

Spannenderweise brauchte es erst mein eigenes Mutterwerden und mein Hineinfinden in meine eigenen Rolle als Mutter, dass ich mich von meiner Herkunftsfamilie gänzlich frei machen konnte. Mir wurde noch einmal bewusst, dass das, was man mir als Jugendliche und junge Erwachsene zugemutet hatte, keinem Kind antun darf. Und ich beschloss für mich, dass ich meine eigenen Kinder vor meinen Eltern und meiner Stiefmutter schützen und bewahren muss. Letztendlich sorgte meine Stiefmutter ohnehin für einen endgültigen Bruch. Ein Jahr später verließ sie dann meinen Vater für einen anderen Mann. Die zweite Scheidung lief, als mein Vater starb. In der darauffolgenden Erbauseinandersetzung lieferten wir uns noch einmal blutige Auseinandersetzungen, die mir aber im Rückblick wie ein Befreiungsschlag vorkamen. Heute gibt es keinen Kontakt mehr, weder zu ihr noch zu meinen Halbgeschwistern. Denn nur weil wir einen Teil der Gene mit einander teilen und über denselben Mann verbunden waren, müssen wir uns nicht verstehen, geschweige denn Zeit mit einander verbringen. Wenn keine gemeinsame Basis vorhanden ist, ist mir meine Zeit zu schade, an einer Patchwork-Familie zu hängen, die es nicht gibt.

Solange also die sich trennenden und neuen Partner in ihren Verletzungen verharren und keinen vernünftigen Umgang mit einander finden, wird meiner Meinung nach keine Patchwork-Familie funktionieren. Eine gesunde Patchwork-Familie zu haben, erfordert einen erwachsenen und reifen Umgang untereinander. Der ist leider oft nicht gegeben.  Und die, die darunter leiden, sind immer die Kinder.

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Schwierige Liebe – Über das Bindungsverhalten von Adoptivkindern

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Alex Blajan, unsplash.com

In Vorbereitung auf unsere Adoption zeigte eine Seminarleiterin uns einen Teddybären. Er hatte unzählige abgeschnitten Fäden an Armen und Beinen. „So wird ihr Kind zu ihnen kommen,“ erläuterte sie uns, „mit all seinen abgeschnittenen und gekappten Bindungen, die aus seinem früheren Leben nicht weitergingen. Seine leiblichen Eltern, möglicherweise Geschwister, Erzieherinnen im Heim, die irgendwann nicht mehr da waren, andere Kinder aus der Heimgruppe, die aus welchen Gründen auch immer irgendwann nicht mehr da waren etc. etc. etc.“ An diesen Teddybären muss ich in der letzten Zeit wieder denken.

Es steht außer Frage, dass meine Kinder ein verletztes Bindungsverhalten hatten, als sie zu uns kamen. Das brachte ihre Geschichte mit sich. Genauso wie sie kein Urvertrauen entwickeln konnten, haben sie auch nicht lernen dürfen, sich an eine verlässliche Bezugsperson zu binden. Beide zeigten Verhaltensmuster von unsicher vermeidender Bindung, wie in der Fachliteratur Bindungstypen bei Kindern klassifiziert werden, (sie demonstrieren eine Pseodunabhängigkeit, bzw. Autonomie und ein zuweilen auffälliges Kontakt- und Vermeidungsverhalten) und einer unsicheren ambivalenten Bindung (ein Schwanken zwischen klammerndem und aggressiv-ablehnendem Verhalten).

Als Maxim und Nadeschda zu uns kamen, taten wir all das, zu dem uns Adoptionsspezialisten und die Fachliteratur geraten hatten: In den ersten Wochen begaben wir uns in die Isolation. Nur wir vier waren ständig zusammen. Kontakte zu Freunden oder anderen Familienmitgliedern gab es kaum und wenn dann nur nach und nach und immer wohl dosiert bei uns Zuhause. So sollten Maxim und Nadeschda lernen, dass Richard und ich ihre wichtigsten Bezugspersonen sind, dass wir immer für sie da sind. Genauso waren Richard und ich die einzigen, die alle „intimen Alltäglichkeiten“ mit ihnen verrichteten. Nur wir wuschen sie, nur wir gaben ihnen zu essen, nur wir zogen sie an, nur wir gingen mit ihnen auf die Toilette, nur bei uns gingen sie an der Hand, nur wir brachten sie ins Bett. Erst nach Monaten ließen wir auch Dritte, wie unsere Kinderfrau oder meinen Bruder, einzelne Aufgaben der Fürsorge übernehmen. Und auch heute noch, Jahre danach ist es ein ungeschriebenes Gesetz zwischen Richard und mir, dass wir maximal an einem Abend in der Woche Maxim und Nadeschda von unserer Kinderfrau oder Daniel ins Bett bringen lassen. Die Konsequenz mit der wir das taten, schien sich auszuzahlen. Denn unsere Kinder schienen recht bald schon an uns gebunden zu sein. Lange glaubten wir, auf einem guten Weg zu sein.

Wenn ich heute in einem Seminar sitze und etwas über die Bindung von Adoptivkindern höre, muss ich manchmal müde lächeln. Da werden die vier unterschiedlichen Bindungstypen erläutert und empfohlen, genau das zu tun, was ich eben beschrieben habe. Auch den Rat, die Entwicklung des Bindungsverhaltens nachzunähren, haben wir befolgt. Wir sind mit Maxim und Nadeschda zurück in ihr Babystadium gegangen – vielleicht bei Maxim zu wenig – aber dennoch wir haben es getan. Doch dem Optimismus, dass nach wenigen Monaten oder einem Jahr, so eine stabile Bindung zwischen Adoptivkindern und -eltern entsteht, kann ich heute nicht mehr teilen.

Bindungsarbeit hört nicht auf. Auch Jahre danach noch brechen immer einmal wieder alte Wunden auf, und unsere Kinder stellen die Bindung an uns Eltern in Frage. Maxims Wutanfälle sind ein Beispiel dafür, genauso wie Phasen, in denen er den Blickkontakt meidet, mich ignoriert. Nadeschdas Verlustängste, ihr Klammern an mich, um mich dann im nächsten Moment wieder wegzuschieben, ein anderes Zeichen. Manchmal liegt es auf der Hand bei genauerer Betrachtung, warum wieder alte Verletzungen berührt wurden, wie bei meinem Zuspätkommen . Manchmal bleibt mir die Ursache auch über Wochen verborgen. Ich kann dann nur versuchen, meinen Kindern sklavisch penible Verlässlichkeit und Sicherheit zu bieten, wieder zurückzugehen in das Nachnähren früherer Zeiten. Ihnen in jeder Sekunde zu zeigen, dass ich für sie da bin, dass ich sie halte, dass ich nie aus dem Kontakt mit ihnen gehe, egal wie schwierig es vielleicht auch sein mag. Für mich ist die „Bindungsarbeit“ bei Adoptivkindern ein lebenslanger Prozess. Ich wage zu bezweifeln, dass er jemals abgeschlossen werden kann.

Auf der anderen Seite ist er für mich ein Lehrstück in absoluter bedingungsloser Liebe. Er lehrt mich Demut und Achtsamkeit. Und die dann manchmal überraschenden Liebesbekundungen meiner Kinder erfüllen mich mit großer Dankbarkeit. Wenn Maxim mir seinen Hosentasche mit Steinen ausleert und sagt: „Mama, die habe ich alle nur für Dich gesammelt. Für Dich ganz allein, meine Supermama.“ Oder wenn Nadeschda mir in der Schulmensa entgegenläuft und aus vollem Halse ruft: „Meine Mami!“ Dann muss ich wieder an den Teddy denken. Ich lächle innerlich und spüre, dass er auch mit seinen vielen abgeschnittenen Fäden langsam zur Ruhe kommt und neben den vielen losen Enden neuer Halt  mit neuen fest verknüpften Fäden wächst.

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Charlottes Sonntagslieblinge (1)

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Ben White, unsplash.com

Im Moment stehen in meinem Blog viele schwere Themen an: Bindung, Vertrauen, Lernherausforderungen in der Schule, tägliche Konflikte und Machtkämpfe, Tobsuchtsanfälle, etc. Zum einen weil sie unseren Alltag doch immer einmal wieder dominieren, zum anderen weil sie mich in der Auseinandersetzung mit anderen Adoptivfamilien einfach beschäftigen und mich dazu bringen, mich dazu zu äußern. Das wird auch noch eine Weile so anhalten. Es ist ein wenig, als müsste eine Menge Aufgestautes raus. Doch unser Leben mit Maxim und Nadeschda ist alles andere als nur schwierig und dramatisch. Nein, ganz im Gegenteil. Und deshalb gibt es ab jetzt eine neuen Reihe: Charlottes Sonntagslieblinge!

Mirjam von Perfektwir  blickt freitags oft auf fünf Dinge zurück, für die sie dankbar ist. Mich hat sie damit auf die Idee gebracht, meine eigenen, ganz persönlichen Lieblinge von nun an jeden Sonntag aufzuschreiben. Dies ist für mich der Tag, an dem ich morgens dankbar auf die Woche zurückblicke und mich innerlich auf die am folgenden Tag beginnende Woche einschwinge. Meine Lieblinge sind immer drei ganz besondere Dinge, Ereignisse, Begebenheiten, die mein Leben als Adoptivmutter in der vorangegangenen Woche tief berührt haben. In dieser Woche waren das:

  1. Mein Sohn Maxim, der nach acht Wochen harter Arbeit und täglichem Üben nun lesen kann. Als wir an einem Nachmittag zu Freunden fuhren, las er mir eine halbe Stunde glockenklar im Auto aus seinem Lesebuch vor. Für mich ein kleines Wunder!
  2. Die Einschulung von drei befreundeten Adoptivkindern. Es bewegt mich in solchen Momenten, mit welchem Mut und mit welcher Tapferkeit, ja auch kämpferischer Hartnäckigkeit diese Kinder ihren Weg gehen, immer weiter und weiter, hoch hinauf zum Himmel streckend. Einfach bezaubernd.
  3. Die bereichernde Lektüre von „Survivaltipps für Adoptiveltern“ von Christel Rech-Simon und Fritz B. Simon. Ich hatte es schon vor Jahren gelesen und immer einmal wieder zur Hand genommen, um mir einzelnen Passagen noch einmal bewusst zu machen. Nun habe ich es noch einmal von Anfang bis Ende gelesen. Es ist und bleibt meine persönliche „Bibel“ für Adoptiveltern.

Ich bin dankbar und freue mich auf die neue Woche. Habt auch Ihr einen wunderbaren Start in den Montag!

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Fehlendes Urvertrauen – Ein Erklärungsversuch für die „Fleischwurst“

Der Beitrag von Katja von „home is where the boys are“  zu „Stark fürs Leben“ hat mich schon lange beschäftigt. Katja schreibt darin über Urvertrauen und Vertrauen. Wohlmöglich hat mich deshalb auch die Situation neulich, als drei Scheiben Fleischwurst in einem Drama endeten, so getroffen. Die ganze Situation fiel auf fruchtbaren, bereits gepflügten Boden. Ich hatte Tage vorher schon gespürt, dass Maxim und ich ein Thema hatten.

Urvertrauen ist nicht angeboren. Es entsteht in den ersten zwei bis drei Lebensjahren eines Kindes. Da beginnt es zu lernen, seiner Umwelt und seinen wichtigsten Bezugspersonen zu vertrauen. Denn all seine physischen und emotionalen Bedürfnisse werden (meist) vor allem durch die Mutter gestillt. Wenn das Baby Hunger hat, wird es gefüttert. Ist ihm kalt, wird es gewärmt. Hat es Angst, wird es getröstet und behütet. Dieser Prozess des Urvertrauens ist dabei gebunden an die „zuverlässige und nur für relativ kurze Zeiträume unterbrochene Anwesenheit ganz konkreter unverwechselbarer Menschen“, so schreiben Rech-Simon und Simon in ihren „Survivaltipps für Adoptiveltern“. Mit diesem Urvertrauen entsteht eine sichere und stabile Bindung zur Mutter, das Kind ist in der Lage sich an seine Mutter zu binden.

Adoptivkinder, vor allem Adoptivkinder mit Heimerfahrung, erleben stattdessen in ihren ersten Lebensjahren bis zur Adoption ein Leben mit wechselnden Betreuern und Erzieherinnen. Essen gibt es nach einem festen Zeitplan und nicht dann, wenn das Baby oder Kleinkind Hunger hat. Direkte unmittelbare Zuwendung ist nur wenig und sehr eingeschränkt möglich. Denn schließlich leben bis zu zehn Kinder im Schnitt in solchen Heimgruppen und selten sind ausreichend Betreuerinnen da. Vor dieser Heimerfahrung waren die Lebensumstände auch alles andere als behütet und fürsorglich. Adoptivkinder haben also kein Urvertrauen entwickeln können.

Stattdessen haben sie gelernt, dass sie sich nur auf sich selbst verlassen können. Dies zeigt sich in einem ausgeprägten Drang nach Autonomie. Sich in existenzielle Abhängigkeit von anderen Menschen zu begeben, ist in der Gedankenwelt eines Adoptivkinds gefährlich und tut weh. Deshalb muss es sich seine eigene Autonomie beweisen und zwar so, dass es alles bekämpft, zu dem eine Abhängigkeit besteht. Je älter das Kind ist, desto weniger geht es dabei um die körperlichen Bedürfnisse, sondern vielmehr um das Selbstbestimmen des Verhaltens. Meist lehnen sie sich gegen jede Form von Disziplin auf.

Das Urvertrauen werden diese Kinder nicht mehr erlernen. Mit der Zeit und mit viel Geduld und Fürsorge entsteht jedoch eine stabile Bindung zwischen Adoptivkind und Adoptiveltern. In dieser Bindung gewinnt das Kind tiefes Vertrauen zu seinen Adoptiveltern. Aber in Krisenzeiten, in denen es dem Adoptivkind aufgrund unterschiedlicher Umstände nicht gut geht, brechen der Drang nach Autonomie und alte Überlebensmuster wieder hervor.

Was war also passiert, an dem Abend, als Maxim wegen drei Scheiben Fleischwurst einen lange nicht mehr in dieser Intensität aufgetretenen Tobsuchtsanfall bekam? Vorab: Wir befinden uns im Moment für Maxim gefühlt in einer „Krisenzeit“. Es war das Ende der Sommerferien und Maxim erwartete mit Schulbeginn eine neue Lehrerin. Seine alte Klassenlehrerin aus dem ersten Schuljahr war an eine andere Schule gewechselt, nicht ganz unfreiwillig, denn Elternschaft und Schule waren unzufrieden mit ihren pädagogischen Kompetenzen. Jede Veränderung bringt Unruhe in das Leben meiner Kinder. Der anstehende Lehrerwechsel verunsicherte Maxim. Der Abschied von der alten Lehrerin, auch wenn er schon mehrere Wochen zurücklag, trat mit dem Auftreten der neuen Lehrerin noch einmal bewusst zu Tage. Es war wieder ein Bindungsabbruch in seinem Leben, mit dem er nicht gut umgehen konnte. Wieder war er gezwungen, sich auf eine neue Lehrerin einzulassen. Der Schulbeginn war an diesem Abend sehr präsent, denn wir waren an dem Nachmittag in der Stadt gewesen und hatten die Schulmaterialien und neue Anziehsachen für die Schule gekauft. Es brauchte also wenig, um Maxims innere Unruhe zum Überlaufen zu bringen. Mit dem fehlenden Salz auf den Tomaten griff ich zum ersten Mal in sein vermeintlich selbstbestimmtes Verhalten ein. Denn ich entschied, dass bereits genug Salz auf den Tomaten war.  Als er dann bockig wurde und seinen Teller wegschob, und ich auch noch „sein Essen“, seine drei Scheiben Fleischwurst an Nadeschda gab, war es zu spät. Der „Trigger“, wie es in der Fachliteratur heißt, war gesetzt. Von da an nahm der Wutanfall seinen Lauf. Entgegen dem, was ich doch so viele Male gelesen hatte, versuchte ich Maxim zu beruhigen. Ich redete auf ihn ein, gebetsmühlenartig, ich versuchte ihn zu trösten. Schwerer Fehler. Denn damit ließ ich ihn ja seine Abhängigkeit von mir noch mehr spüren. Ich hätte wissen müssen, dass ich damit die Sache nur schlimmer machte. Erst als Maxims Tobsuchtsanfall das Maß des Unerträglichen bekam und ich das Bad später verließ, beruhigte er sich. Ich war aus dem „Tanz“ und dem Machtkampf ausgestiegen. Das allerdings zu spät.

Ich weiß nicht, ob Maxim irgendwann eine so feste Bindung zu mir und seinem Vater haben wird und so viel Vertrauen in sich und in uns gefunden haben wird, dass diese Tobsuchtsanfälle und die inneren Überlebenskämpfe verschwinden. Er wird sicherlich mit der Zeit lernen, sich anders zu verhalten. Und ja, wenn ich auf die vergangenen Jahre zurückblicke, so sind diese Wutanfälle entschieden weniger geworden. Wenn ich zurückdenke an unser erstes Jahr als Familie, so gab es sie da mehrmals am Tag. Mit der Zeit verschwanden sie über Wochen, manchmal sogar über Monate hinweg. Sie traten dann nur wieder in Phasen der Veränderungen und Verunsicherungen auf. So wie jetzt eben auch.

Ich als seine Mutter kann nur achtsamer mit ihm und dem, was ihn umtreibt, umgehen. Ich kann nur mein eigenes Verhalten ändern. Ich darf mich auf keinen Machtkampf mit ihm einlassen. Nicht auf ihn einreden, nicht ihn versuchen zu trösten, wenn er das ablehnt. Den Raum zu verlassen, scheint wieder einmal die beste Lösung zu sein. Das aber, ohne ihm das Gefühl zu geben, allein gelassen zu sein. Katja hat es am Ende ihres Beitrags so wunderbar gesagt: In Beziehungen, die von einem friedlichen Miteinander gekennzeichnet sind, akzeptieren wir die Grenzen des Anderen, wir geben auf einander Acht und gehen achtsam miteinander um. Das wird der vielleicht einzige Weg sein, wie Maxim mehr Vertrauen gewinnt und sein Autonomiebestreben vor allem in Zeiten der Veränderungen und Verunsicherung nachlässt.