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Lasst uns einen Sprung machen, einen Sprung in der Zeit von ein paar Jahren. Nun sind wir im Hier und Jetzt angekommen. Unser erstes Jahr als Adoptivfamilie liegt mittlerweile einige Jahre zurück. Wir haben uns als Kleinfamilie nach den Höhen und Tiefen des ersten Jahres gefunden, sind in unserem Familienalltag angekommen. Hinter uns liegen unzählige wunderbare Tage mit Maxim und Nadeschda. Das Gefühl „Das sind unsere Kinder!“ ist zur Normalität geworden. Die Adoption und unsere Geburtswehen als Familie liegen weit zurück. Maxim ist ein großer Junge geworden. Er geht bald in die zweite Klasse. Nadeschda hat sich nach ein paar Rückschlägen wunderbar entwickelt und kommt ebenfalls in ein paar Wochen in die Schule. Auf einmal sind sie dann selbstständige Schulkinder, die anfangen ihren Weg ein Stück weit mehr alleine zu gehen. Gesund alleine zu gehen, in einer altersgerechten Autonomie, in der sie sich nicht mehr überfordern.
Dass meine Kinder sich so gut entwickelt haben, war neben all der Fürsorge, der Liebe, der Geduld – die ich dann doch irgendwann mit der Zeit immer mehr erlernt habe -, dem Verständnis auch oft „harte Arbeit“. Kleinkarierte, strukturierte und so furchtbar konsequente Erziehung, die mir selbst nicht immer Spass macht, viel therapeutische Begleitung, viel Üben und „Arbeiten“ Zuhause. Ein Stück weit klang dies ja in meinem Gastbeitrag bei mamasunplugged an. Wir sind meilenweit nach vorne gestrebt, sind viele Male Kilometer immer wieder zurückgeworfen worden. Wir haben nie aufgegeben und wir werden auch nicht aufgeben. Wochenlang läuft alles gut, fallen wir von einem kleinen Wunder von Fortschritt und Entwicklung in das nächste. Doch dann gibt es Abende wie neulich, als drei Scheiben Fleischwurst uns wieder um Kilometer zurückwarfen. Da waren sie wieder, die Amplitudenausschläge der Wut und Frustration. Sie sind ohnehin wiedergekommen, seitdem Maxim in die Schule geht. Jedoch die Heftigkeit, die diese drei Scheiben Fleischwurst hervorriefen, war mir neu. Und sie erschütterten mich bis ins Mark.
Eigentlich hatten wir einen wunderbaren Tag. Morgens arbeitete ich, die Kinderfrau war da und mit Maxim und Nadeschda im Maislabyrinth. Am Nachmittag fuhren Maxim, Nadeschda und ich in die Stadt zum ersten gemeinsamen traditionellen back-to-school-shopping. Wir hatten vorher die Kleiderschränke ausgemistet und die Listen geschrieben, was, vor allem Maxim, für das neue Schuljahr an Material fehlt. Mit großem Vergnügen wurden dann neue T-Shirts, Hosen, Pullover ausgesucht. „Und guck mal, Mama, die Jacke wäre doch wunderbar für Nadeschda.“ rief Maxim zwischen den Kleiderständern hervor. Nadeschda: „Oh ja, die will ich!“ War ja auch schreiendes Pink! Aber sie brauchte tatsächlich noch eine Outdoorjacke und so wurde auch diese gekauft. Der belohnende abschließende Besuch in der Eisdiele machte diesen Nachmittag perfekt. Gut gelaunt kehrten wir nach Hause zurück.
Doch beim Abendessen kippte die Stimmung. Auf Maxim’s Tomaten war zu wenig Salz. Wütend schob er seinen Teller von sich weg, verschränkte seine Arme vor sich, verkniff den Mund und schmollte. Nadeschda ergriff gleich ihre Chance und fragte ihn, ob sie die Fleischwurst, diese drei Scheiben von ihm haben könnte. Er antwortete nicht. Ich gestattet ihr die Ausnahme, denn eigentlich sollte sie das ja nicht essen. Kleine Mengen von Sünde machen bei ihr aber inzwischen nichts mehr aus, das steckt sie weg. Hätte ich es mal besser nicht getan. Denn darauf bekam Maxim einen verzweifelten Wutausbruch, der seinesgleichen immer noch sucht. Zuerst ging es noch um die Fleischwurst. Er wollte unbedingt diese drei Scheiben Fleischwurst haben, die Nadeschda gerade in ihren Mund schob. Dass ich noch einen ganzen Ring Fleischwurst im Kühlschrank hatte und er davon etwas haben könnte, wenn er denn seine Tomaten und ein Teil seines Brotes gegessen hatte, drang schon nicht mehr zu ihm durch. Weinen, Brüllen, um sich Schlagen. Etwas anderes essen wollte er nicht. Als ich das Abendessen für beendet erklärte, waren es dann die restlichen Tomaten. Hoch ins Bett gehen, wollte er auf keinen Fall. Lieber tobte er weiter, schmiss sich auf den Boden, brüllte weiter „Nein, nein, nein.“ Irgendwie schaffte ich ihn doch ins Bad. Doch an Ausziehen war nicht zu denken. Immer noch ein verzweifeltes „Nein, nein, nein!“ Schluchzend, weinend, brüllend. Gepaart mit um sich schlagen, treten, wenn ich ihm zu nahe kam. „Dann weine ich halt die ganze Nacht. Ich höre nicht auf.“ Mittlerweile dauerte das Drama eine Stunde an. Nadeschda war verstört und litt ungemein. Fragen von „Warum schreit Maxim so?“ wechselten sich mit „Mama, ich kann das nicht aushalten ab.“ Sie war müde. So machte ich sie erst einmal bettfertig. Als Maxim immer noch nicht einlenkte, Nadeschda aber am Ende ihrer Kräfte war, sagte ich zu ihm: “Okay, Maxim. Ich lese jetzt Nadeschda vor. Du kannst entweder sofort aufhören, wir ziehen deinen Schlafanzug an und dann kannst Du mitkommen zum Vorlesen. Oder Du machst jetzt hier noch alleine weiter mit Deinem Theater. Ich komme dann wieder. Und dann ziehen wir den Schlafanzug an. Aber wir ziehen den Schlafanzug an und ich bringe Dich ins Bett. Es ist deine Entscheidung. Doch sicher ist, dass wir den Schlafanzug anziehen und ich dich ins Bett bringe.“ Danach verlies ich mit Nadeschda das Bad und las ihr vor. Keine drei Minuten später tauchte Maxim auf. Nach eineinhalb Stunden hatte er sich beruhigt und wir konnten seinen Schlafanzug anziehen, waschen und unser gemeinsames abendliches Vorleseritual begehen.
Was würde ich darum geben, zu verstehen, was Maxim in diesen eineinhalb Stunden geritten hat. Er war wie besessen. Er war ganz in seinem „Überlebensmodus“. Er kämpfte um sein Überleben. Er war dieser realen Welt hier völlig entrückt. Ich fühlte mich erinnert an den fast dreijährigen Jungen, der in Moskau im Hotel saß und um sein Leben weinte und brüllte, obwohl er eigentlich nur auf die Toilette musste. Nach so vielen Jahren bricht das in bestimmten Momenten immer noch durch. Vor allem wahrscheinlich wenn es um so existentielle Dinge wie Essen geht. Dann ist es wieder da, dieses Gefühl von unendlichem Mangel und der innere Druck, alles nur erdenkliche zu tun, um das Grundbedürfnis nach Nahrung zu stillen. Selbst wenn faktisch gar kein Hungergefühl vorhanden ist.Und natürlich immer wieder die Frage: „Hält mich meine Mutter und hält sie mich aus? Hält sie mich auch aus, wenn ich noch einmal eine Schippe drauflege? Schickt sie mich auch dann nicht weg?“ – Nein, niemals! Aber vielleicht die Fleischwurst…