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28. März – Unser erstes Osterfest

easter-bunny-95096_1920Unser erstes Osterfest mit Kindern, wie wunderbar! Unsere ersten Osterfeiertage als kleine Familie mit Ostereiersuche, aufgeregten Kindern, kleinen Geschenken, etwas Ruhe und viel gemeinsamer Zeit:

Die Osterfeiertage verbrachten wir gemütlich Zuhause. Am Ostersonntag kam Daniel vormittags zu Besuch. Nach einem ausgedehnten Frühstück gingen Maxim und Nadeschda im Garten Ostereiersuchen. Während Maxim ganz aufgeregt durch den Garten fegte und in Windeseile Eier, Süßigkeiten und Geschenke fand, trottelte Nadeschda weniger enthusiastisch hinterher. Sie fand das alles weniger spannend und fragte sich wahrscheinlich, warum sie sich so eilen solle, ihr Bruder fand ja ohnehin alles für sie mit. Spannend fand ich zu beobachten, wie es Maxim nur um das Suchen und Finden der Ostergeschenke ging. Er merkte gar nicht, dass Richard ein paar von den bunten Eiern gleich zweimal versteckte, damit er länger suchen konnte. So gefesselt war er von der Sucherei. Das Auspacken der Geschenke war wieder einmal weniger aufregend. Zum Schluss blieben die Bücher, Buntstifte und Knete zwar ausgepackt, aber unbeachtet liegen. Draußen im Garten zu spielen und ab und zu unter den ein oder anderen Busch zu gucken, ob man nicht doch noch ein buntes Osterei übersehen hatte, war schnell viel reizvoller. Die übrige Zeit verbrachten wir vier alle gemeinsam spielend Zuhause. Es war seit dem Ausbruch der Krebserkrankung von Renate im Februar das erste Mal, dass wir als Familie zusammen, aber ohne viel Besuch Zeit gemeinsam Zuhause verbrachten. Das tat gut und half uns, dass wir uns auf uns als Familie neu besinnen konnten. Oder zumindest damit anzufangen. Denn bis wir uns als Kleinfamilie gefunden haben werden, dauerte es noch eine Weile. Es war uns zum ersten Mal sehr bewusst und präsent, dass – mit Ausnahme von Daniel – wir vier nun nach der Krankheit von Renate und dem Kontaktabbruch meines Vaters uns alleine als Familie definieren und finden mussten.

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22. März – Noch mehr schlechte Muttergefühle…

Einsam sitze ich hier und denke, was für ein bescheidener Montag dies gestern war. Ich mag es nicht, wenn die Woche so beginnt. Ich fühle mich schlecht. So als bricht jetzt alles über mich hinein. Ich habe das Gefühl, dass ich niemandem gerecht werde. Ich bin eine schlechte Mutter, eine unzureichende Ehefrau und eine Rabentochter sowieso. Da ist sie wieder die Schraube, die sich nach unten dreht, die ich nicht anhalten kann.

Eigentlich hatte ich doch einen großartigen Sonntag. Richard war mit den Kindern unterwegs mit seiner späten Väterrunde. Ich hatte fast einen ganzen Tag für mich. Das war schon lange nicht mehr vorgekommen. Viel zu spät kam er mit Maxim und Nadeschda nach Hause. Das sonntägliche Baderitual hatte ich schon geistig gestrichen, doch Richard wollte daran festhalten. Meine Entspannung schwand in Minuten. Natürlich wurde gebadet, die Kinder waren bereits völlig übermüdet, und so war es vorprogrammiert, dass es spätestens beim Abtrocknen zwischen Maxim und mir wieder einmal eskalierte. Ich kann gar nicht mehr sagen, warum. Er verweigerte sich und ich kam in Rage. Als ich mit ihm heulend das Bad verließ, und er sich auch oben im Kinderzimmer nicht beruhigen wollte, intervenierte Richard zum ersten Mal. „Ich mach das jetzt hier fertig. Kümmere Du Dich um das Abendessen.“ Ich war wohl selbst nicht mehr in der Lage, mich adäquat um meine Kinder zu kümmern. So fühlte ich mich zumindest in dem Moment.

Nachdem wir das Abendessen irgendwie über die Bühne gebracht hatten und Richard die Kinder ins Bett gebracht hatte, versuchte ich ihm meine Gefühlslage zu erklären. Doch anstatt Verständnis und Unterstützung zu bekommen, gingen mit Richard die Nerven durch. So saßen wir da, servierten uns gegenseitig unsere Unzulänglichkeiten als Nachtisch, ohne eine Lösung zu finden. Während Richard irgendwann einfach wortlos ins Bett ging, blieb ich mit meinen schlechten Gefühlen im Wohnzimmer sitzen. Unausgeschlafen machte es den nächsten Morgen auch nicht besser. Bis Maxim im Kindergarten war, durchlebten wir zwei weitere Tobsuchtsanfälle. Danach dachte ich die ganze Zeit nur, ob der liebe Gott diesen Tag einfach schnell vorüber gehen lassen kann. – Irgendwie ging es dann auch. Es muss ja immer irgendwie weitergehen. Doch gut geht es mir nicht.

Es kommt mir so vor, als würden jetzt noch einmal alle schlechten Gefühle, die sich in den letzten Wochen angestaut haben, herauskommen. Emotionen wegzudrücken, hilft nicht. Sie kommen heraus, ob ich will oder nicht. Ich muss das jetzt aushalten. Ich kann nur hoffen, dass das irgendwann vorbei geht. Aber mir fehlt eine Idee, wie ich diese negativen Gefühle los werde. Bestätigung und Wertschätzung habe ich nicht. Es ist niemand da, der mir sagt, dass ich das doch alles gut mache. Ich erfahre keine Anerkennung. Ich habe auch keinen Vergleich, aus dem ich sagen könnte: Das klappt doch hier bei uns schon ziemlich gut. Ich habe ja noch nicht einmal ein Rollenmodell, das es nach meinem Dafürhalten so gut macht, dass ich mich daran orientieren könnte. Wo ich sagen könnte: Wenn ich es so mache, dann ist es gut.

Mir wird wohl nichts anderes übrig bleiben, als diesen Zustand jetzt auszuhalten. Vielleicht gehört er einfach dazu. Ich muss dem Erschöpfungszustand Rechnung tragen, in dem ich mich befinde. Ich wollte ihn die ganze Zeit nicht wahrhaben. Doch nun hat er sich so in den Vordergrund gedrängt, dass ich ihn nicht mehr ignorieren kann. Ich sollte ihn ertragen, aushalten und dann loslassen. Vielleicht ziehen dann diese schlechten Gefühle mit all den Unzulänglichkeiten von dannen.

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20. März – Innehalten (Teil 1) – Loslassen

Auch wenn der Brief an meinen Vater wie ein Befreiungsschlag wirkte, so hält meine Anspannung an. Vielleicht ist es auch einfach alles zu viel: Maxim und Nadeschda, die jeden Tag unheimlich viel Energie und Kraft kosten, Renate, die nun, da sie wieder Zuhause ist, auch ihre Ansprache braucht, die Sorge um den Beginn ihrer Chemotherapie, die Nachwirkungen der Absage meines Vaters zur Taufe, neben der Organisation unseres Alltags, Maxims Sprachtherapie, der Vorbereitungen zur Taufe im April und der Suche nach einer Kinderfrau.

Jetzt, wenn sich die Abendstille über unser Haus legt, Maxim und Nadeschda ruhig schlafen, im Nachbarhaus Tatjana Renate zu Bett gebracht hat und der Tag sich dem Ende zuneigt, komme ich ein wenig zu mir. Ich werde mir bewusst, dass unser Leben im Moment sich in einem Ausnahmezustand befindet. Immer noch, selbst wenn Renate mit guten Prognosen aus dem Krankenhaus entlassen worden und bei Tatjana in guten Händen ist. Allein das reicht schon, um nicht mehr von einem unbeschwerten Alltag zu sprechen. Meinen Vater loslassen, der sich weiterhin in Schweigen hüllt, lässt sich leicht sagen. Es wird dauern, bis mir das wirklich gelingt. Maxim und Nadeschda verlangen genauso jeden Tag sehr viel Aufmerksamkeit. Jedes Kind fordert auf seine Art. Nadeschda ist sehr anhänglich, braucht sehr viel Zuwendung. Maxim macht es mir mit seinen Launen nicht leicht. Jeder Tag ist ein Drahtseilakt, ob und wie ich beiden Kindern gerecht werden kann, ob es mir gelingt, sie ohne Tränen und Auseinandersetzungen durch unseren Tagesablauf zu manövrieren, ob ich meine Gereiztheit unter Kontrolle habe und innere Ruhe walten lassen kann. Sicherlich kommen hier mehrere Faktoren zusammen. Die Kinder erleben die momentane Situation als unsicher und instabil. Sie spüren, dass ich nicht voll und ganz bei ihnen bin, Richard und ich ihnen nicht die ganze Kraft und Aufmerksamkeit schenken. Bei mir ist, ungeachtet der äußeren Belastungen, nach acht Monaten, die Maxim und Nadeschda nun bei uns sind und die gefüllt waren mit Herausforderungen, auf die wir nicht vorbereitet sein konnten, der Akku leer. Mein ganzes Leben hat sich in den vergangenen acht Monaten fast ausschließlich um unsere beiden Kinder gedreht. Ihre Kraft und Energie haben sie aus mir gezogen, um hier anzukommen. Ich habe zu wenig getan, um meine innere Balance aufrechtzuerhalten. Jetzt fühle ich mich leer und ausgelaugt. Letztendlich sind Maxim und Nadeschda meine eigene innere Projektionsfläche. Sie spüren meine Gereiztheit und innere Müdigkeit und reagieren darauf. Mit ihrem Verhalten halten sie mir den Spiegel vor. Wie Nadeschda wünsche ich mir Unterstützung und Zuneigung. Irgendjemand, der einfach einmal anerkennt, wie anstrengend und aufreibend unser Leben zur Zeit ist. Tief in mir drin ist das eigene Kind in dieser Krise berührt, das selbst Sicherheit und Stabilität, Halt sucht. Wie Maxim bin ich wütend, frustriert und hilflos. Ich suche bedingungslose Unterstützung. Aber ich fühle mich allein gelassen und bin maßlos enttäuscht.

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15. März – Meine wunderbare Patchwork-Familie

Die formvollendete Fassade war meiner Stiefmutter Elvira immer sehr wichtig. Familie war für sie ein starres formales Konstrukt, in das man sich einfügen musste, ob man wollte oder nicht. Hier galten für sie die unverrückbaren Maßstäbe und Regeln der 08-15 Mittelstands-Spießer Gesellschaft. Alles passierte, weil man es so tat, weil man so sein wollte, wie die wohlhabende Freundin drei Häuser weiter, weil der Nachbar, der jeden Samstag sein Auto wusch und seinen Rasen mähte, es von einem erwartete. Als Frau machte man zwar eine Ausbildung, suchte sich aber einen wohlsituierten Mann zum Heiraten, bekam schnell einen ganzen Sack voller Kinder und bemühte sich dann als gestresste Hausfrau und Mutter um einen Teilzeitjob, damit man wenigsten sagen konnte, dass man arbeitete. Das große Haus mit Garten und Zimmern für jedes Kind musste dann schnell in einem repräsentativen Vorort her. Es wurde, wie man es als Mittelstandsfamilie tat, nach dem neusten Segmüllerkatalog eingerichtet. Die Rolf Benz Couch war zwar nicht wirklich schön, aber sie galt als Statussymbol. Das eigene Pferd zum privaten Zeitvertreib war der willkommene Ausgleich für das fehlende Cabrio, das einfach mit drei Kindern unpraktisch gewesen wäre.  Kinder waren nur Staffage und hatten sich in das starre Regelkonzept einzufügen. Wenn wir Kinder, vor allem ihre Stiefkinder, in ihrem Familienspiel nicht mitspielten, war Krach vorprogrammiert. Daniel und ich hatten selten mitgespielt. Nicht weil wir nicht wollten, sondern weil ihre Erwartungen uns so fremd waren.

Mit der Adoption von Maxim und Nadeschda hatte ich Elviras Fassade einen mächtigen Riss zugefügt. Denn in ihrer Welt gab es keine ungewollte Kinderlosigkeit und zwei Kinder auch noch aus Russland zu adoptieren, passte nicht in ihr Familienbild. Zwei Russenkinder zu ihren Enkeln zu machen, grenzte bald schon an eine Unverschämtheit. Mit der Einladung zur Taufe von Maxim und Nadeschda wollte sie den Riss wieder zu schmieren und versuchen zu einer formvollendeten Normalität zurückzukehren. Mit einem Minimum an Einsatz sollten wir wieder heile Familie spielen. Doch ich machte es ihr nicht so leicht, wie sie gehofft hatte. Ja, Richard und ich hatten uns nach dem Besuch meines Vaters nach Weihnachten dazu durchgerungen, ihn und seine Familie sowie genauso meine Mutter zur für April geplanten Taufe einzuladen. Mein Vater und seine Familie sollten am Vortag der Taufe, wenn möglich anreisen, würden mit uns schon im Hotel, in dem die Taufe stattfinden sollte, übernachten, und die Taufe wäre nach dem Mittagessen am frühen Nachmittag so beendet, dass alle Gäste noch entspannt nach Hause reisen könnten. Doch ich hatte es gewagt, Bedingungen an die Einladung zu knüpfen. Elvira musste uns mit meinen Halbgeschwistern vor der Taufe besuchen, damit Maxim und Nadeschda sie kennenlernen konnten und nicht bei der Taufe zum ersten Mal sahen. Elvira prompte Absage kam am vergangenen Sonntag, einen Tag nach Renates Rückkehr aus dem Krankenhaus, formvollendet per mail, mit einem Ton und einer Wortwahl, die jegliche Benimmform verlassen hatte. Natürlich schilderte sie in ihrer unnachahmlichen Art, wie viel Mühe sie sich immer gegeben hatte, wenn wir zu Besuch kamen; es wurden keine Kosten und Mühen gescheut. Ihnen jetzt zuzumuten, an einem Tag mehrere hundert Kilometer hin- und her zufahren, wäre kaum zumutbar. Und dann wären sie ja auch noch am Abend vor der Taufe alleine im Hotel untergebracht. Ein Besuch vorab sei schon gar nicht darstellbar. Die Kinder müssten ja für Klausuren lernen und sich auf die Führerscheinprüfung vorbereiten. Und überhaupt, wozu dieser ganze Stress? Spannend fand ich ihre Schlussbemerkung, die eigentlich alles zusammenfasste: „Wie hättest Du auf eine Einladung unsererseits in dieser Form reagiert? Richtig, Du hättest abgesagt. Wir alle sind sehr enttäuscht. Mit der Einladung hast Du erst mal einen Scherbenhaufen hinterlassen. Die Taufe wird leider ohne uns stattfinden. Der Ball ist in Deinem Feld, vielleicht schaffst Du es ja noch, ihn für Deine Kinder aufzuheben und die Familie, die zwanzig Jahre für Dich da war zusammenzuführen.“ Besser kann man nicht die Schuld und Verantwortung wegschieben, dachte ich. Doch ich war im ersten Moment zu konsterniert, um überhaupt irgendwie zu reagieren.

Das übernahm Richard für mich. Als ich ihm Elvira Absage zeigte, tobte er, griff sofort zum Telefonhörer und rief meinen Vater und Elvira an. Doch anstatt die Missverständnisse, auf denen ihre Absage beruhte, aus dem Weg räumen zu können, wurde die Situation nur noch absurder. Seltsam mutete die Bemerkung meines Vaters an, dass wir doch Verständnis für seine und Elviras Empfindlichkeit haben sollten, denn sie müssten sich immer noch an den Gedanken der Adoption von Maxim und Nadeschda gewöhnen. Da waren sie wieder die Vorurteile, unausgesprochen, aber dennoch mit einer peinlichen Berührtheit. Allmählich machte sich bei mir blanke Wut breit. Wenn überhaupt, dann hätte ich nun einen Grund gehabt, diesen Teil meiner Herkunftsfamilie von der Taufe auszuladen, denn sie dachten nicht im entferntesten daran, sich an unsere Bitte, Maxim und Nadeschda vor der Taufe zu besuchen und kennenzulernen, zu halten. Das war respektlos. Nach Elviras seltsam irritierenden und an zahlreichen Stellen unwahren Absage lag wohl kaum mehr ein Ball in irgendeinem Feld, sondern hatte mit einem gewaltigen Tritt unser Universum verlassen. Elvira hatte einen offenen Bruch geschaffen, die Taufe war nur der willkommene und wohl inszenierte Anlass gewesen, auf den sie zwanzig Jahre gewartet hatte.

Ich habe Konflikte nie gemocht. Aber dieser hier war wohlmöglich nach all den Jahren fällig, offen ausgetragen zu werden. Je länger ich ihre Taufabsage vor mir sah, um so stärker wurde meine Wut auf sie. Ich hatte die Schnauze voll von diesem ganzen formvollendeten Familienspiel. Ich hatte Elvira nie gemocht, von dem ersten Augenblick an, an dem ich sie vor all den Jahren kennenlernen musste. Doch ich hatte versucht, mich mit ihr als Frau meines Vaters zu arrangieren. Jetzt hatte sie den Bogen überspannt. Es war der Punkt gekommen, an dem sie endlich die Konsequenzen ihres Handelns zu tragen hatte. Ich war nicht mehr bereit, mich ihr gegenüber irgendwie zu verbiegen. Ich tat das, womit ich sie am meisten traf: Ich schwieg und strich sie aus meinem Leben.

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13. März – Oma ist zurück

nesting-doll-697651_1280Renate ist aus dem Krankenhaus nach Hause zurückgekehrt. Jetzt hat sie zwei Wochen Erholungszeit, bevor die Chemotherapie beginnt. Vor einer Woche bereits ist Tatjana bei ihr eingezogen. Sie wird Renate während der kommenden zwei Monate betreuen und versorgen. In den vergangenen Tagen hat sie alles für Renates Ankunft vorbereitet: Einkaufen, Putzen, Aufräumen, Umräumen, Wäsche waschen. Von dem ersten Moment an, als ich Tatjana bei ihrer Ankunft begegnete, wusste ich, dass sie gut mit Renate auskommen würde. Sie ist eine engagierte, rüstige Mitfünfzigerin aus Danzig. Rastlos fegt sie durch Renates Haus und sucht sich immer wieder neue Arbeit. Renate war im Krankenhaus zunächst etwas skeptisch. Allerdings weniger gegenüber Tatjana selbst, sondern, vielmehr kamen noch einmal ihre alten Zweifel hoch, ob sie denn überhaupt eine Betreuerin bräuchte. Noch immer blitzten bei ihr Momente auf, in denen sie ihre Situation nicht voll und ganz wahrhaben wollte. In der ersten Begegnung mit Tatjana war sie auf einmal mit der momentanen Endgültigkeit ihres Schicksals konfrontiert. Doch intuitiv brach Tatjana das Eis, in dem sie mit Renate ihren Speiseplan für die ersten Tage Zuhause besprach. Neugierig und kritisch hinterfragte Renate dabei immer wieder die Rezepte. Doch Tatjana gab sich unbeirrt. Sie hatte schon so viele Jahre ältere pflegebedürftige Menschen in Deutschland versorgt, die alle großen Wert auf die traditionelle deutsche Küche gelegt hatten, dass sie Fragen nach einem gefüllten Hähnchen oder gewelltem Fleisch in Sauerkraut nicht aus dem Konzept brachten. Nachdem sie Renate von ihren Kochfähigkeiten zumindest in der Theorie überzeugt hatte, lehnte sich Renate entspannt im Bett zurück, lächelte und sagte: „Nun, wir werden es schon zusammen aushalten können.“

Spannenderweise nahmen Maxim und Nadeschda Renates Rückkehr verhalten auf. Begeisterungsstürme über die langersehnte Heimkehr der Oma blieben aus. Maxim reagierte beinahe mit Gleichgültigkeit, fast so als traue er dem neuen Frieden nicht und als wolle er sich aus Angst vor einem erneuten Verlust nicht auf die wieder anwesende Großmutter einlassen. Nadeschda war ebenso zurückhaltend. So gerne sie vor Omas Krankheit auf ihrem Schoß gesessen und mit ihr gekuschelt hatte, so sehr wehrte sie sich nun gegen jede Art der Zuwendung. Zudem überforderten sie wie so häufig die vielen Menschen, die nun Omas Haus belagerten.

Erholsamer war da für beide Kinder ein Besuch bei Daniel am Nachmittag. Auf einem nahegelegenen Spielplatz genossen Daniel und ich die ersten frühlingshaften Sonnenstrahlen, während Maxim und Nadeschda im Sand buddelten, schaukelten und alle Klettergerüste ausprobierten. Es war ein friedlicher und entspannter Nachmittag, der an seinem Ende noch eine neue Lernerfahrung zur Bindung meiner Kinder für mich bereit hielt. Als wir vom Spielplatz zurückkehrten und ich mich mit Maxim und Nadeschda auf den Heimweg begeben wollte, war mein Auto so zugeparkt, dass es mir auch nach mehrmaligen Versuchen nicht gelang, auszuparken. Daniel musste übernehmen. Beide Kinder saßen da schon im Auto in ihren Sitzen. Als ich aus- und Daniel einstieg, guckten Maxim und Nadeschda skeptisch. Als Daniel ansetzte, auszuparken und ich ihnen dabei von draußen zuwinkte, sah man förmlich, wie binnen Sekunden Panik in ihnen aufstieg, sich ihre Gesichter in Verzweiflung verzerrten und beide anfingen zu weinen, gepaart mit einem Hilfesuchenden „Mama!“ aus Nadeschdas Mund. Ich stieg sofort auf den Beifahrersitz und beruhigte sie. Wohlmöglich hatten beide für einen Moment geglaubt, dass ich sie mit Daniel nun allein wegfahren ließe. Erst Zuhause wurde mir bewusst, dass es das erste Mal war, seitdem wir sie aus dem Kinderheim abgeholt hatten, dass sie mit jemanden anderen als Richard und mir alleine im Auto saßen. Mein Winken hatten sie als einen erneuten Abschied gedeutet. Kein Wunder, dass auf einmal alte Erinnerungen und damit verbundene Ängste in ihnen aufstiegen.

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5. März – Tapetenwechsel

Vor zwei Stunden sind wir von Katharina zurückgekehrt. Stille senkt sich langsam über unser Haus. Richard ist gerade mit Maxim und Nadeschda vom Bad ins Kinderzimmer verschwunden und begeht das allabendliche Milch- und Vorleseritual. Ich nutze die Gelegenheit, die balsamartige Erholung der letzten zwei Tage für die Ewigkeit festzuhalten, bevor uns morgen der Alltag wieder umarmt und in seinen Zangengriff nimmt.

Wer hätte gedacht, dass meine erste Reise mit Maxim und Nadeschda alleine so entspannt verlaufen wird. Nach unseren Erlebnissen auf der Fahrt in den Skiurlaub war ich auf alles vorbereitet. Und dann war es wie im wirklichen Leben: Wenn man einen Regenschirm dabei hat, regnet es nicht. Schon die Autofahrt verlief im wahrsten Sinne des Wortes friedlich und still. Denn kaum waren wir eine halbe Stunde unterwegs schliefen beide Kinder für fast zwei Stunden. Wäre da nicht der Stau kurz vor unserem Ziel gewesen, hätten wir die Strecke auch in gut vier Stunden geschafft. So dauerte es etwas länger. Aber Maxim und Nadeschda steckten dies mit vielen Kinderliedern und glutenfreien Keksen locker weg.

Bei Katharina wurde dann erst einmal die Wohnung inspiziert und mit den neuen Geschenken gespielt. Die anfängliche Aufregung legte sich schnell bei Maxim und Nadeschda. Müdigkeit überkam beide Kinder. Nach dem Abendbrot fing Maxim an, sich selbst auszuziehen und als er dann nackt in der Küche vor mir stand, war die non-verbale Botschaft eindeutig. Kaum eine viertel Stunde später übermannte beide Kinder Müdigkeit und Schlaf. Am nächsten Morgen fuhren wir nach Aufstehen, Spielen, Anziehen und Frühstücken, mit der Straßenbahn in die Stadt. Dort kauften wir für Maxim neue Halbschuhe und stockten Nadeschdas Frühjahrsgarderobe auf. Auf dem Heimweg hielten wir abschließend an einem Spielplatz. Maxim schaukelte fast eine dreiviertel Stunde alleine. Er hatte inzwischen raus, wie man alleine Schwung holte. Nadeschda spielte mit ein paar anderen Kindern im Sand. Katharina und ich beobachteten meine spielenden Kinder und genossen die nachmittägliche Frühlingssonne. Wie gut es tat, einfach nur zu sein, den Moment zu genießen, das Aufmerksamkeitsbedürfnis meiner Kinder ohne viele Worte zu zweit zu erfüllen, zu sehen, wie sie inzwischen auch zu Katharina ein gewisses Vertrauen hatten. Zum ersten Mal seit Wochen entspannte ich mich innerlich. Nach Duschen und Abendbrot essen, probierten Maxim, Nadeschda und ich zum ersten Mal aus, zusammen vorzulesen. Das war etwas schwierig, ging aber für ein paar Minuten. Maxim schlief danach binnen fünf Minuten ein. Nadeschda brauchte etwas länger und kommentierte noch die vorbeifahrenden Fahrzeuge: „Auto…, Laster…, Bus…, Auto…, Auto…, Papa?“, als ein Sportwagen unten an der Ampel vor Katharinas Wohnhaus beschleunigte. Ich lachte still in mich hinein und verließ glücklich das Gästezimmer, als ich nach wenigen Momenten auch Nadeschdas ruhigen Atem hörte.

Heute morgen fuhren wir nach dem Frühstück in den Zoo. Wir sahen zum ersten Mal Giraffen und Elefanten. Vor allem die Elefantenherde war für Maxim und Nadeschda ein Höhepunkt. Die fünf Kühe hatten ordentlich Stress untereinander und trugen ihre Zickenkriege mit viel Gebrüll aus. Am Nachmittag begaben Maxim, Nadeschda und ich uns wieder auf den Heimweg zu Richard. Wieder steckten Maxim und Nadeschda die Fahrt mit etwas Schlafen, einer halben Packung glutenfreier Butterkekse gut weg. Als wir nach vier Stunden Zuhause ankamen, waren die Kinder froh, ihren Papa wieder zu sehen. Ich ebenso. Der Tapetenwechsel hatte gut getan. Für zwei Tage hatte ich alle Sorgen aus unserem Alltag hinter mir lassen können, stattdessen die Zeit mit meinen Kindern und mit Katharina unbeschwert genossen.