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21. Juni – Folgegespräch im Kindergarten

Heute Nachmittag waren Richard und ich erneut im Kindergarten. Nach dem Gespräch vor vier Wochen und dem Austausch mit Frau Schuster und Frau Schiffer hatten wir noch einmal um ein Folgegespräch gebeten. Inzwischen hatten Richard und ich zwei konkrete Wünsche an Maxims Erzieherinnen, von denen wir glaubten, dass sie ihm helfen könnten: Wir wollten versuchen, Nicki und Steffi noch einmal für Maxims besondere Geschichte zu sensibilisieren, und sie bitten, stärker individuell auf seine Bedürfnisse einzugehen. Vor allem, wenn Maxim sich an seine sicheren Orte im Kindergarten zurückzog, bedurfte er der Hilfe und Unterstützung seiner Erzieherinnen, seine Ängste zu überwinden und wieder den Weg in die Gruppe zu finden. Um noch einen Schritt weiter zu gehen, hatten Richard und ich überlegt, dass es Maxim durchaus helfen könnte, in eine kleinere Gruppe mit Kindern im Kindergarten zu wechseln. Maxim war zur Zeit in der inzwischen vollbesetzten Gruppe mit 25 Kindern. Die Vielzahl der Kinder war sicherlich ebenso ein Grund für seine Überforderung. Es gab aber zwei Gruppen im Kindergarten, die auch Kinder unter drei Jahren aufnahmen, und die daher nur achtzehn Kinder hatten.

Das Gespräch lief anders ab, als von uns erwartet. Steffi und Nicki, Maxims Erzieherinnen, wollten  von uns hören, was wir seit ihrem Bericht unternommen hätten. Da stutze ich zum ersten Mal. Denn, dass Maxim schon seit mehreren Monaten logopädische Unterstützung bekam, wussten sie. Weiterer Therapiebedarf ließ sich für uns aus Maxims Verhalten nicht ableiten. Im Gegenteil. Dass seine soziale Isolation sich nur im Kindergarten zeigte, er im häuslichen Umfeld anders mit Spielfreundschaften umging, bestätigte uns in unserem Wunsch an seine Erzieherinnen, ihm zu helfen, diese Zurückgezogenheit zu verlassen. Oder ihm ein Umfeld zu bieten – zum Beispiel in Form einer kleineren Gruppe –  in dem er sich weniger überfordert fühlte und sich damit automatisch weniger zurückzog. Unsere Frage, ob es möglich wäre, Maxim in einer der kleineren Gruppen wechseln zu lassen, wurde sofort abgelehnt. Richard und ich kamen noch nicht einmal dazu, unseren Wunsch zu erklären. Ich stutzte zum zweiten Mal. Als wir Maxims Rückzüge an sichere Orte im Gruppenraum ansprachen, ruderten Nicki und Steffi entgegen ihrer Aussagen von vor drei Wochen zurück. So viel würde sich Maxim gar nicht zurückziehen, im Gegenteil, sie hätten ihn noch einmal intensiv beobachtet, und es wäre doch schön zu beobachten, wie er zunehmend in Kontakt mit anderen Kindern kommt. Wir sollten uns keine Sorgen machen, dass Maxim im Kindergarten vereinsamt. Als Beleg zeigten sie uns zwei Filme, die sie in vergangenen Tagen gedreht hatten. Im ersten Film turnte Maxim in der Turnhalle mit anderen Kindern. Im zweiten ließ er sich mit drei anderen Kindern etwas von Nicki vorlesen. Und ja, wenn er sich zurückzöge, würden sie selbstverständlich auf ihn zugehen, und versuchen, ihn zu anderen Aktivitäten zu motivieren. Natürlich hätten sie schon ein besonderes Augenmerk auf ihn. Und ja, es wäre ihnen bewusst, dass er besonderen Zuspruch bräuchte. Aber in so großem Umfang ginge das eben auch nicht immer, denn wir dürften ja nicht vergessen, dass es schon auch eine große Gruppe sei mit fünfundzwanzig Kindern. Alles in allem sollten wir uns keine Sorgen machen: Maxim sei trotz seiner sprachlichen Barrieren zunehmend in die Gruppe integriert. Er sei eigentlich immer fröhlich und er fühle sich hier im Kindergarten wohl. Jetzt stutzte ich zum dritten Mal und fühlte mich verwirrt. Es bestand also kein Handlungsbedarf? Alles war gut, Maxim fühlte sich wohl, und seinen Bedarf an mehr individueller Unterstützung erfüllten Nicki und Steffi bereits? Ja, dann war wohl alles gesagt.

Die Filme, die Nicki und Steffi uns gezeigt hatten, beruhigten mich ein wenig. Ich hatte dort wirklich meinen Sohn irgendwie zufrieden und freudig erlebt. Aber all das passte nicht zu meinem Erleben meines Sohnes im Kontext des Kindergartens. Warum nahm sein Unwille in den Kindergarten zu gehen zu? Warum hatte er jeden Mittag nach dem Kindergarten chronisch schlechte Laune, mit der er mich und seine kleine Schwester quälte? Warum hatten seine Erzieherinnen erst uns von Maxims Rückzug aus der Gruppe und von anderen Kindern berichtet, um jetzt wieder zurückzurudern? Auf die letzte Frage war die Antwort klar: Nicki und Steffi hatten gemerkt, dass Richard und ich sie mit in die Verantwortung nehmen wollten und wir uns mehr individuelle Hilfe für unseren Sohn wünschten. Geschickt hatten sie auf der einen Seite Maxims Bedarf an zusätzlicher Unterstützung entkräftet und uns auf der anderen Seite klar gemacht, dass sie ja schon alles Erdenkliche taten. Mehr war in ihren Augen nicht möglich und auch nicht erforderlich zu tun. Es war also an Richard und mir, einen anderen Weg zu finden, für Maxim die Zeit im Kindergarten erträglicher zu machen. Denn ich glaubte nicht daran, dass sein Unwille in den Kindergarten zu gehen und seine Wut und Frustration nach jedem Kindergartenbesuch andere Ursachen hatten, als die Tatsache, dass er sich dort nicht wohl fühlte. Auf der einen Seite war ich enttäuscht von der mangelnden Kooperationsbereitschaft von Maxims Erzieherinnen. Auf der anderen Seite war ich zugleich ein wenig stolz auf mich selbst. Denn zum ersten Mal ließ ich mir bewusst nicht etwas über meinen Sohn einreden, von jemandem, der die vermeintliche pädagogische Kompetenz hatte. Ich kannte meinen Sohn am besten und ich war überzeugt, dass ihn irgend etwas im Kindergarten quälte. Das ließ ich mir nicht ausreden. Denn ich war seine Mutter!

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Liebster Award – Das „Alles Familie?!“-Spezial

Happy family together, parents with their little child at sunset.

Mit freundlicher Unterstützung von Fotolia

Vor einiger Zeit hat Tina vom Blog „Von Wünschen, von Kindern und von Eltern“   mich zu einem ganz besonderen Liebsten Blog Award nominiert: Das „Alles Familie?!“ – Spezial. Welch fantastische Idee, den Blog-Award so zu nutzen. Ich danke ihr von Herzen für meine Nominierung und mache natürlich gerne mit. Ich folge auch ihrem Blog und finde ihre Familien-Entstehungsgeschichte ganz berührend. Sie adressiert dabei einen Weg der Familienbildung, der bisher in meinen Augen wenig in der Öffentlichkeit, vor allem aus Sicht der „Betroffenen“ thematisiert wird.

Da Ihr alle sicherlich den Liebsten Award kennt und es müssig ist, den Ablauf und die Regeln immer wieder erst zu lesen, gehe ich direkt zu meinen Antworten auf Tinas spannende Fragen über:

1. Gehört/e der Wunsch, schwanger zu sein, zu Deinem Kinderwunsch?

Spannenderweise nein. Um ehrlich zu sein, war auch die Vorstellung, die ersten ein, zwei Jahre mit einem Baby und Kleinkind zu verbringen, nicht sonderlich erstrebenswert für mich. Erst heute, nachdem ich erfahren habe, wie wichtig diese allererste Zeit zwischen Mutter und Kind ist, um ein gesundes Urvertrauen entstehen zu lassen, was meine Kinder aufgrund ihrer Geschichte vermissen, wünschte ich mir, ich hätte diese Zeit mit meinen Kindern gehabt. Aber eine Schwangerschaft vermisse ich nach wie vor nicht.

2. Wie lange ist/war Dein Kinderwunschweg?

Wir waren alles in allem ca. zwei Jahre in einer klassischen Kinderwunschbehandlung, bevor wir uns für den Weg einer Adoption entschieden.

3. Wann sollte der Weg zu Ende sein?

Die Frage hat sich während der Behandlung nicht gestellt. Wir waren bereit für drei Versuche, vielleicht mehr, wussten aber beide, dass es keine zehn Versuche werden. Es war dann ein Gefühl, dass vor allem in mir mit jedem Versuch wuchs, dass der reproduktionsmedizinische Weg nicht der richtige für uns ist.

4. Welche Wege, ein Kind zu bekommen, schließt Du für Dich (!) aus?

Gegen Ende der Kinderwunschbehandlung, nach der zweiten Fehlgeburt habe ich mir therapeutische Hilfe gesucht und dabei auch andere Wege der Kinderwunscherfüllung beleuchtet. Ungeachtet dessen, dass Eizell- oder Samenspende „unser Problem“ nicht gelöst hätten, fühlten sich alle Möglichkeiten einer reproduktionsmedizinischen Behandlung für mich und meinen Mann nicht mehr richtig an. Mir war nicht geheuer, in den natürlichen Lauf der Dinge einzugreifen. Mit Hormonen meinen Körper aufzublasen, die Eizellenproduktion zu potenzieren und in einem Reagenzglas Samen und Ei zusammenzubringen, was in meinem Körper nicht funktionieren wollte. Es kam mir vor, als würden wir in die Schöpfung eingreifen. – Ausschlaggebend war sicherlich auch, dass es uns ja nicht darum ging, schwanger zu werden. Wir wollten eine Familie zu gründen und ein Kind ins Leben hinein begleiten.

5.Sprecht Ihr über diese Wege und seid Ihr Euch über diese Wege immer einig/gewesen?

Ja.

6. Wie hast Du/Könntest Du Dich entscheiden, ein Kind zu bekommen, dass genetisch nicht oder nur zum Teil von Euch stammt?

Eine Adoption erschien uns der einzige verantwortungsbewusste Weg zu sein, uns unseren Wunsch nach einer Familie und Kindern, den wir ein geborgenes Zuhause geben können, zu erfüllen. Er war für uns der einzig sinnvolle Weg, nicht zuletzt auch, da es so viele Kinder gibt, die fürsorgliche Eltern suchen.

7. Würdest/Wirst Du es Deinen Kindern sagen?

Ja, natürlich. Unsere Adoptionsgeschichte gehört zu unserem Alltag und unsere Kinder haben einen natürlichen Umgang damit.

8. Hättest/Hast Du Angst davor, dass Dein Kind eines Tages nach seinen genetischen Wurzeln suchen wird?

Sie werden sicherlich irgendwann einmal nach ihren Wurzeln suchen wollen. Dessen bin ich mir sicher. Angst habe ich davor nicht. Ich bin ihre Mutter, die immer für sie da ist, und das wissen sie. Schon heute treffen wir Vorkehrungen, um ihnen später diese Suche zu ermöglichen. Beide Kinder haben zum Beispiel ein Sparbuch, das für eine solche Reise da ist, und wir pflegen den Kontakt, teilweise sehr intensiv zu anderen Adoptivfamilien und ihren Kindern, damit sie, wenn sie ihre Wurzeln ohne uns Eltern suchen wollen,  die Unterstützung von Freunden mit dergleichen Geschichte haben.

9. Wem würdest Du/hast Du von der Entstehung Deiner Familie erzählen/erzählt?

Spannende Frage. Unserem engsten sozialen Umfeld, Freunden und Familie haben wir natürlich davon erzählt. Auch Ärzte, Therapeuten sowie Lehrer und Erzieherinnen im Kindergarten wissen um unsere Familiengeschichte, soweit es für das Zusammensein und Erziehen unserer Kinder wichtig ist. In allem übrigen halten wir uns inzwischen bedeckt. Denn unsere Kinder sind langsam auch in einem Alter, in dem sie selbst entscheiden sollen und wollen, wem sie von ihrer Adoption erzählen. Mehr dazu könnt Ihr auch in meiner Kolumne „Manchmal ist es besser zu schweigen…“ nachlesen.

10. Wer wir sind: Erworben oder vererbt?

Eine gewisse Basis wird mit Sicherheit vererbt. Doch was dann im Konkreten daraus entsteht, ist meiner Meinung nach alles Nachahmung und soziale Prägung. Es war nicht nur Fügung des Schicksals, sondern die natürliche Folge des Zusammenseins mit unseren Kindern, dass sich nach ein paar Jahren immer mehr die Kommentare häufen: „Eure Kinder sehen Euch so ähnlich. Man könnte meinen, es sind Eure leiblichen.“

11.Gleicher Tag, gleiche Uhrzeit: Was machst Du in genau 10 Jahren gerade?

Ich sitze auf der Terrasse eines Hotels im südlichen Russland und genieße die Nachmittagssonne. Ich freue mich darüber, dass meine Kinder die Pubertät unbeschadet durchlebt haben und wir in diesem Moment gemeinsam nach ihren Wurzeln suchen und sie ihre russische Heimat kennenlernen.

So, jetzt seid Ihr dran. Um Tinas Idee dieses Liebsten Award „Alles Familie!?“ weiterzutragen, nominiere ich:

Mit Hilfe einer Leihmutter zum Wunschkind

Patchworkdeluxe

ninshikey.de 

Mission Little TC

Nach Regen kommt eben Sonnenschein 

und in logischer Konsequenz übernehme ich auch Tinas Fragen:

  1. Gehört/e der Wunsch, schwanger zu sein, zu Deinem Kinderwunsch?
  2. Wie lange ist/war Dein Kinderwunschweg?
  3. Wann sollte der Weg zu Ende sein?
  4. Welche Wege, ein Kind zu bekommen, schließt Du für Dich (!) aus.
  5. Sprecht Ihr über diese Wege und seid Ihr Euch über diese Wege immer einig/gewesen?
  6. Wie hast Du/Könntest Du Dich entscheiden, ein Kind zu bekommen, dass genetisch nicht oder nur zum Teil von Euch stammt?
  7. Würdest/Wirst Du es Deinen Kindern sagen?
  8. Hättest/Hast Du Angst davor, dass Dein Kind eines Tages nach seinen genetischen Wurzeln suchen wird?
  9. Wem würdest Du/hast Du von der Entstehung Deiner Familie erzählen/erzählt?
  10. Wer wir sind: Erworben oder vererbt?
  11. Gleicher Tag, gleiche Uhrzeit: Was machst Du in genau 10 Jahren gerade?

Teilt Euren Weg, Familie zu werden oder Familie geworden zu sein, mit uns und anderen. Nur so können all die Frauen da draußen, die sich mit einem unerfüllten Kinderwunsch quälen und sich nicht trauen, ihre Sorgen und Ängste, und vor allem ihre Hilflosigkeit zu adressieren, erfahren, dass es egal ob medizinisch oder anders meistens Wege gibt, eine Familie zu werden. Mir hat das damals die meiste Kraft gegen: Mich der Hilflosigkeit und Ohnmacht zu entziehen und zu realisieren, dass ich in der Wahl des Weges zur Erfüllung unseres Kinderwunsches autonom bleiben kann.

Viel Spass beim denken, schreiben und bloggen! Ich freue mich, von Euch zu lesen.

Charlotte

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16. Juni – In unterschiedlichen Umlaufbahnen: Vom Vatersein und Paarkonflikten

Sunrise over group of planets in space

Mit freundlicher Unterstützung von Fotolia

Anders als ich hadert Richard nicht mit seiner Vaterrolle. Diese hatte er schnell für sich definiert. Mit Liebe und Leidenschaft kümmert er sich um Maxim und Nadeschda. Er ist der Vater, von dem viele Kinder träumen. Er tobt viel mit ihnen, macht viel Blödsinn, unternimmt an den Wochenenden viel mit ihnen. Bis heute hat er es geschafft, jeden Abend zum Abendessen Zuhause zu sein, um Maxim und Nadeschda zu sehen, bevor sie schlafen gehen. Mein eigenes inneres Kind hätte gerne einen solchen Vater gehabt. Ich bin dankbar, dass meine Kinder einen Vater haben, der sich ihnen mit soviel Enthusiasmus widmet, mit ihnen spielt und dabei aus einem nicht versiegenden Vorrat an Quatsch und Blödsinn schöpft. Regeln sind bei Richard sehr dehnbar. Erziehung findet bei ihm nicht statt: „In der wenigen Zeit, die ich unsere Kinder sehe, werde ich sie nicht erziehen.“ Maxim hat das schnell verstanden: „Mama-Nein ist Nein, Papa-Nein ist Ja.“ Richard lässt sich allein von seiner Intuition leiten, hat keine Bücher über Kindesentwicklung geschweige denn über die Entwicklungen und die Herausforderungen von Adoptivkindern gelesen. Das lässt ihn unvoreingenommener und unbeschwerter sein als mich.

Manchmal fühlt er sich jedoch in seiner Rolle als sorgender Familienvater überfordert und glaubt, den Anforderungen, die ich an ihn bewusst und unbewusst stelle, nicht gerecht zu werden. Es gibt durchaus Tage, an denen er das Gefühl hat, alles falsch zu machen: Wenn das Anziehen der Kinder morgens so lange dauert, dass ich eingreife. Wenn Maxim und Nadeschda nicht richtig essen, da sie den ganzen Vormittag schon Süßigkeiten von Richard bekommen haben. Oder wenn Maxim den Tanz beim Essen probt, er lustlos in den Nudeln stochert und mein Alternativangebot an Essen ablehnt, sondern nur darauf wartet, dass ich platze, Richard ihm aber die dritte Alternative anbietet. Wenn noch die achte Runde Memory gespielt wird, obwohl wir uns längst auf den Weg zu einer Verabredung machen müssten. Wenn Richard so spät mit den Kindern nach Hause kommt, dass es für das Baden eigentlich zu spät ist. Wenn meine kritischen Blicke Überhand nehmen und ich mich gezwungen sehe, in die undankbare Rolle des Spielverderbers schlüpfen zu müssen, der die Elefantenherde zum Galopp antreiben muss. Immer dann bekommt Richard das Gefühl, alles falsch zu machen. Ob berechtigt oder unberechtigt. Nur ist diese Haltung wenig förderlich.

Meist ist diesen Situationen schon vorausgegangen, dass wir – wie so häufig – über Tage nicht richtig miteinander im Austausch standen, die wenige Zeit an den Abenden gefüllt war mit den Ereignissen des Tages der Kinder. Für Richard gab es keinen Raum und genauso wenig für mich. In mir ist das Gefühl gewachsen, dass ich von ihm nicht mehr als ganze Person gesehen werde. Er reduziert mich nur noch auf den undankbaren Teil meiner Mutterrolle. Oft nimmt er nicht wahr, wie anstrengend  der Alltag mit Maxim und Nadeschda sein kann. Genauso wenig bemerkt er, dass mein Leben mit unseren Kindern inzwischen organisch und harmonisch verläuft und einfach gefüllt ist, mit vielen schönen Momenten. Manchmal glaube ich, dass Richard immer noch viel Zeit braucht, zu verinnerlichen, dass seine Kinder nicht mit leiblichen Kindern und ihrer Entwicklung vergleichbar sind, dass wir eben keine normale Familie sind. Es war schon in der Entwicklung der Beziehung zu unseren Kindern so, dass er meist erst zeitversetzt nach mir auf neue Herausforderungen bei Maxim und Nadeschda gestoßen ist. So wird er erst später erkennen, dass wir als Familie und als Eltern anders sind und anders sein müssen.

Selten versteht Richard mein Hadern und meine häufigen Selbstzweifel als Mutter. Oft glaubt er noch, dass ich unzufrieden bin in meiner Rolle, weil mir die Bestätigung von außen fehlt, weil ich gebunden bin an unser Haus, an unser Dorf, gefangen bin in einem Mutterdasein, das ich mir anders vorgestellt habe. Manchmal glaubt er, ich wolle wieder erwerbstätig sein, meine alte Karriere weiter verfolgen. Doch an diesem Punkt bin ich nicht. Ich bin schon darüber hinaus, oder noch gar nicht dort angekommen.

Zuweilen kommt es mir vor, als flögen wir in unterschiedlichen Umlaufbahnen um unsere Kinder herum. Jeder von uns ist gefangen in seiner eigenen Welt und zu sehr beschäftigt mit seinen eigenen Themen. Allein hier hat sich schon etwas in Richards und meinem Miteinander verändert: Vor der Ankunft der Kinder hatten Richard und ich viele gemeinsame Themen und Interessen: Reisen, Oldtimer Rallyes, alte Autos, Oper, Theater, Freunde treffen, unsere Jobs, die sich sehr ähnelten. Über allem lag unser gemeinsames Ziel, uns unseren Kinderwunsch zu erfüllen. Heute ist unser Kinderwunsch erfüllt, unsere gemeinsamen Interessen waren in den Hintergrund getreten, unsere täglichen Aufgaben gingen auseinander, vor allem in der Sicht, die wir darauf hatten. Während ich mich in meiner Mutterolle fügte und damit zunehmend Abstand zur Berufswelt fand, nahm der Job Richard maßgeblich ein. Seine Vaterrolle konnte er nur an den Abenden und Wochenenden ausleben. So musste es auch sein, denn wir hatten uns bewusst dazu entschieden, dem klassischen Rollenmodell – die Mutter bleibt Zuhause und der Vater sorgt für das Einkommen der Familie – entschieden. Während ich, auch aufgrund meiner eigenen Kindheitserfahrungen, mit dem Muttersein haderte, hatte Richard schnell in seine Rolle als Vater gefunden.

In der Fürsorge und Erziehung unserer Kinder hatten wir teilweise divergierende Haltungen, die sich allein schon aus der Zeit ergaben, die wir jeweils mit Maxim und Nadeschda verbrachten. Einmal hatte ich zu Freunden auf den Kommentar hin „Es ist ziemlich eindeutig, wer von Euch beiden für die Erziehung zuständig ist.“ geantwortet: „Ja, und es hat einfach auch etwas mit Überleben zu tun. Wenn Du vierundzwanzig Stunden, sieben Tage die Woche zusammen bist, dann geht das nur mit festen Regeln.“ Zum ersten Mal hatten wir in unserer Beziehung unterschiedliche Sichtweisen. Daraus ergaben sich zwangsläufig gelegentliche Reibereien oder Meinungsverschiedenheiten. Sich jetzt hin und wieder zu reiben war im Grunde genommen in Ordnung. Genauso in Ordnung, wie es jetzt nicht anstand, gemeinsame Hobbies und Interessen zu pflegen. Wir hatten eine neue zentrale Aufgabe mit Maxim und Nadeschda bekommen, hinter der alles andere zurückstand. Schwierig wurde es, wenn uns der gemeinsame Austausch abhanden kam. Wenn ich nicht wusste, was Richard bewegte, so konnte ich natürlich auch seine Reaktionen nicht einordnen. Und genauso umgekehrt. Was wir in einem ersten Schritt brauchten, war mehr Zeit zu zweit, allein ohne unsere Kinder. Doch es fehlte uns der Mut, egoistisch an uns selbst zu denken, und die Disziplin, uns konsequent diese Zeit zu nehmen. Denn zu schnell breitete immer wieder unser Alltag mit Maxim und Nadeschda seine Arme aus und hielt uns fest umklammert.

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13. Juni – Nadeschdas Entwicklung

Im Gegensatz zu ihrem Bruder kann Nadeschda ihre Zuneigung  leicht zeigen. Wie ein Baby ist sie nach wie vor sehr anhänglich und verschmust. Körperkontakt ist für sie sehr wichtig. Sie will viel getragen werden, sitzt viel auf meinem Schoß, legt den Arm um mich und streift ihre Finger durch mein Haar. Wutanfälle hat sie selten. Anzeichen einer Trotzphase sind nicht in Sicht. Einladungen zum Tanz bekomme ich von ihr nicht. Meist scheint sie einfach glücklich zu sein, bei Richard und mir ein liebevolles Umfeld gefunden zu haben, in dem für sie gesorgt wird und in dem sie sich entwickeln kann. Dies tut sie unaufhaltsam.

Little girl eating strawberry

Mit freundlicher Unterstützung von Fotolia

Wie bei Maxim steht bei Nadeschda im Moment ihre sprachliche Entwicklung im Vordergrund. Vor allem an unseren Vormittagen Zuhause steht ihr Mund nicht mehr still. Sie hat Bilderbücher für sich entdeckt, und wir haben abends vor dem Zubettgehen das Vorlesen bei ihr mit eingeführt. Nadeschda fährt inzwischen Dreirad, der Kinderwagen wird nur noch auf Reisen benutzt. Beim Einkaufen schiebt Nadeschda tapfer ihren kleinen Einkaufswagen und beginnt selbstständig „einzukaufen“. Sehr zur Belustigung des Verkaufspersonals in unserem heimischen Supermarkt. Ich finde es großartig, wie sie sich die kleinen Routinen merkt. Wenn wir an der Wursttheke anstehen, und Nadeschda ihre obligatorische Scheibe „Suast“ bekommen hat, fragt sie mich: „Mama, Mich?“ Wenn ich ihre Frage nach Milch bejahe, zieht sie mit ihrem Wägelchen ab und lädt in eben diesen so viele Liter Milch, wie gerade hineinpassen. Manchmal finden sich noch zusätzlich vier Stücke Butter in ihrem Einkaufswagen, aber das korrigieren wir, bevor wir zur Kasse gehen. Daneben lebt sie alle nur erdenklichen taktilen Erlebnisse im Garten aus; im Sand buddeln, Matsch machen, Wasserspiele in jeder Form, sich mit Erde oder Sand einreiben und viel Barfuß laufen. Schuhe sind in ihren Augen völlig überbewertet. Es scheint als vollzögen beide Kinder im Moment einen immensen Entwicklungsschub. Für mich ist es ein unermesslich großes Geschenk, dies mit erleben zu dürfen.

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10. Juni – Andere Amplitudenausschläge

Durch die vielen Feiertage und Brückentage war Maxims Anwesenheit im Kindergarten begrenzt und überschaubar. Damit sind die Gelegenheiten, an denen er seine Frustration an mir auslässt oder versucht mit mir zu tanzen, kalkulierbar. Zudem kann ich seine Launen klar einordnen und damit, solange ich bei mir bleibe, auch besser umgehen. Hinzukommt, dass er in einer Phase angelangt ist, in der er seine Grenzen austestet. „Nein“ sagt oder brüllt Maxim gefühlte hundert Mal am Tag, gefolgt von Versuchen sich mir zu verweigern, wenn er seinen Willen nicht bekommt. Lasse ich ihm eine gewisse Entscheidungsfreiheit und viel Zeit, können wir erneute Tänze zwischen uns beiden vermeiden. Das ist schwer für mich und immer wieder eine harte Probe für meine Geduld. Jeden Tag von neuem testet mein Sohn unsere Beziehung. „Hält meine Mama mich, und hält sie mich aus?“

Mit Distanz betrachtet, ist dies eine wunderbare Entwicklung, ein Zeichen, dass er wieder ein Stück bei uns angekommen ist, sich sicher fühlt, und diese Sicherheit jeden Tag von neuem nun überprüft und für sich bestätigen muss. Zum ersten Mal könnte man sagen, dass er die normale Entwicklung in der Trotzphase eines dreijährigen Jungen durchmacht. Doch die Intensität seiner emotionalen Ausbrüche ist alles andere als normal. Die Amplitudenausschläge von Maxims Reaktionen sind über der Norm. Tobsuchtsanfälle ausgelöst durch Kleinigkeiten, auch aus Kindesaugen, die eine Stunde oder länger dauern, haben mit einem gewöhnlichen Trotzverhalten wenig gemein. Auf der anderen Seite zeigt Maxim zum ersten Mal mir gegenüber seine Zuneigung. Als er unvermittelt gestern im Auto zu mir sagte „Mama lieb!“ hatte ich Tränen in den Augen. Ich war so glücklich! Würde mein Sohn sich fest in den Arm nehmen lassen, hätte ich es getan. So beließ ich es bei einem Lächeln, streichelte seine Hand und sagte: „Ich habe Dich auch sehr lieb!“

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5. Juni -Zeit für mich

Erneut ermuntert durch das Gespräch mit Frau Schiffer, habe ich begriffen, dass meine Kinder um so mehr eine Mutter brauchen, die in sich ruht und mit sich selbst im Einklang steht. Es ist nicht gut, wenn vor allem mein Sohn auf eine Mutter trifft, die nicht nur unglücklich über die Herausforderungen aus dem äußeren Umfeld ist, sondern darüber hinaus noch unzufrieden mit sich selbst.

Schon mit der Vorbereitung der Taufe und der Organisation des Adoptivfamilientreffens hatte ich gemerkt, dass mir neben meinen Aufgaben als Mutter etwas fehlt, das mir einen Ausgleich bietet. Zudem muss ich mich aus dem Teufelskreislauf befreien, ständig das Gefühl zu haben, viel leisten und tun zu müssen, um zufrieden zu sein. Der Berg an Sachen, die unbedingt erledigt werden müssen, wird nie kleiner. Es wird immer etwas zu tun geben, und es wird immer etwas geben, was mich davon abhält, eben diesen Berg abzuarbeiten. Meine einzige Chance ist, einfach jeden Tag von neuem für ein zwei Stunden diesen Berg zur Seite zu schieben. Mich frei von diesem Druck zu machen und mich stattdessen dem zu widmen, was mir innere Ruhe bringt. Das versuche ich jetzt.

So habe ich begonnen, in meinen Mittagspausen jeden Tag eine halbe Stunde zu meditieren und zu lesen. Bücher, die mir Spaß machen, die mich seicht unterhalten. An den zwei Nachmittagen, an denen Andrea inzwischen regelmäßig Maxim und Nadeschda betreut, mache ich wieder Sport. Ich gehe viel laufen. Es fühlt sich jedes Mal ein Stück weit so an, als liefe ich zu mir selbst. Richard unternimmt inzwischen beinahe jeden Sonntag etwas mit Maxim und Nadeschda gemeinsam in der „späten Väterrunde“, wie sie sich getauft haben. In diesen Stunden, in denen ich alleine Zuhause bleibe, widme ich mich meinem selbst geschaffenen Berg an Dingen, die ich glaube, neben dem Alltag so dringend tun zu müssen. Ich dokumentiere unsere Adoption in einem Fotobuch, ich schreibe Tagebuch für meine Kinder, ich bereite die nun anstehenden zweiten Entwicklungsberichte für die russischen Behörden vor, ich treffe letzte organisatorische Vorbereitungen für das Anfang Juli stattfindende Adoptivfamilientreffen.

Seitdem ich mich so bewusster um mich selbst kümmere, geht es mir langsam besser. Ich merke, dass ich innerlich ruhiger werde, dass ich mich wohler fühle. Ich habe den Eindruck die Zeit bewusster zu leben, und nicht mehr von einer Erledigung zur nächsten zu hetzen. Ich kann mir eher zugestehen, dass ich als Mutter so gut bin, wie ich bin. Ich darf auch einmal aus der Haut fahren, das ist in Ordnung. Manchmal habe ich noch ein schlechtes Gewissen, wenn ich die Nachmittage, an denen Andrea auf Maxim und Nadeschda aufpasst, „ganz egoistisch“ allein für mich nutze. Es fällt mir schwer, loszulassen und meine Kinder in ihre Obhut zugeben, nur um mich um mein eigenes Wohlergehen zu kümmern. Doch danach ausgeruht und freudig den restlichen Nachmittag mit Maxim und Nadeschda zu verbringen, und deutlich weniger müde und gereizt zu sein, zeigt mir, wie wichtig es ist, bewusst Zeit für mich ganz allein zu haben. Ich habe das wissentlich und unwissentlich viel zu lange vernachlässigt. Nun habe ich langsam das Gefühl, wieder zu mir zu finden.